Im Wortlaut
Man müsse Kultur als einen Raum begreifen, in dem man über Widersprüche und Herausforderungen der Gegenwart wie der Vergangenheit spreche, betonte Kulturstaatsministerin Roth in ihrer Rede bei der Klassik Stiftung Weimar. Deren Stiftungsrat wird sie künftig als stellvertretende Vorsitzende angehören.
− Es gilt das gesprochene Wort −
Ich danke Ihnen für diese Einladung, hier zu Ihnen zu sprechen. Es ehrt mich und ich freue mich sehr darüber.
Doch man kann in diesen Tagen keine Rede ohne Vorrede beginnen, ohne auszusprechen, was uns alle bewegt, über den Krieg in der Ukraine. Man schwankt zwischen dem Drang, die jüngsten, die letzten Nachrichten gehört oder gesehen zu haben, dem Bedürfnis zu helfen, irgendetwas zu tun, und dem Entsetzen über das, was wir sehen: entgrenzte Gewalt, Schmerz, Trauer. Die schrecklichen Bilder der Verzweifelten werden von Tag zu Tag unerträglicher.
Doch das Gefühl tiefer Hilflosigkeit vor einem Putin-Regime, das lügt, das Länder überfällt, Frauen, Männer und Kinder tötet, vor dieser eklatanten Verletzung des Rechts, der Menschenwürde und der Vernunft muss nicht nur unser Mitgefühl und unsere Solidarität mit den Opfern stärken, es muss auch unseren Verstand schärfen. Wir dürfen uns der eigenen Ohnmacht nicht ergeben. Wir müssen alles, was in unserer Macht steht und was unsere Vernunft uns gebietet tun, um den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen, das Morden und das Zerstören zu beenden. Und wir müssen uns aufrichtig fragen, was wir tun können. Das Mindeste aber ist, zu verlangen, dass dieses Verbrechen ein Verbrechen genannt wird, mit allen Konsequenzen, die das auch für uns haben kann und haben wird.
Ohne das ausgesprochen zu haben, kann ich meine Rede nicht beginnen. Wie aufrichtig wären meine Worte ohne diese Vorrede? Wie könnte ich mich auf Stéphane Hessel, auf Jean Améry, auf Imre Kertesz und Jorge Semprun berufen, ohne das gesagt zu haben?
Meine Damen und Herren,
ist Weimar ein Kommunikationsort für alle Fragen, wie Stéphane Hessel gesagt hat? Ich möchte gern glauben, dass das so ist. Denn wenn Weimar ein solcher Ort ist, dann wäre nicht nur viel erreicht, auch die Frage, was die Kulturpolitik dieser Regierung denn bewirken will, wäre fast schon beantwortet: Kultur als einen Raum zu begreifen, in dem wir in unserem Land, aber auch über Grenzen hinweg, sprechen über die Fragen, die Widersprüche und Herausforderungen der Gegenwart wie der Vergangenheit.
Wenn Stéphane Hessel, ein Überlebender des KZs Buchenwald, zu der Annahme kommen konnte, Weimar sei ein solcher Ort der Kommunikation, dann hat das sicher viel damit zu tun, dass hier vor allem zwei Institutionen miteinander sprechen: die Klassik Stiftung Weimar und die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Dass diese Verständigung, diese Kooperation möglich wurde, ist ein ungeheurer Gewinn, nicht nur für Weimar, für uns alle.
Es ist das Bekenntnis zueinander, das ein starkes Signal ist gegen Demokratiefeinde, Rechtsstaatsverächter und Geschichtsrevisionisten. Denn Weimar mag exemplarisch stehen für die historische Verschränkung von Kultur und Barbarei. Aber sie hat sich keineswegs nur hier ereignet. Und auch die Frage nach dem Verhältnis von kultureller und politischer Barbarei in der Moderne stellt sich nicht nur in Weimar. Jeder, der heute von und über Kultur spricht, wird sich diese Frage stellen müssen.
Der Kulturbegriff, den die ehemalige DDR ebenso wie die Bundesrepublik der Nachkriegszeit pflegten, erklärte Kultur und Barbarei zu Antipoden, die keine Berührungspunkte kennen, ja, die einander abstießen. Es war auch der Versuch, Weimar und das Ideal der deutschen Klassik vor jeder Anfechtung zu bewahren, Weimar losgelöst von Buchenwald weiterbestehen zu lassen. Gelungen ist dieser Versuch glücklicherweise nicht.
Denn diese nachträglich vorgenommene Scheidung von Kultur und Barbarei stand der Erfahrung der Häftlinge in Buchenwald, der Erfahrung von Jean Améry, Imre Kertesz und Jorge Semprun, nicht nur entgegen. Sie holte die Überlebenden nicht etwa in die Mitte der Gesellschaft, sondern machte sie im Gegenteil zu Außenseitern. Die Weigerung, vielleicht auch die Unfähigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Kultur und Barbarei zusammen zu denken, schloss einen Jean Améry aus der Gesellschaft aus. Man hatte keine Verwendung für seine Erfahrungen und Erkenntnisse.
Eine Verständigung über den Abgrund des Zivilisationsbruchs hinweg war weder im Westen noch im Osten Deutschlands möglich, weil sie, die Häftlinge in Buchenwald, eben gerade diese Verschränkung von Kultur und Barbarei erlebt und erlitten hatten. Die Kultur hatte sich, wie Volkhard Knigge sagt, als hintergehbar erwiesen. Was Kertesz, Améry und Semprun erfahren mussten, war politische und kulturelle Barbarei in der Kultur und nicht abgetrennt von ihr. Es gab kein Nebeneinander von Buchenwald oben und der Stadt Goethes und Schillers unten. Es war ein Miteinander.
Ein Bild, dass für dieses Binom, Weimar und Buchenwald, steht, ist mir nach einem meiner letzten Besuche in der Ausstellung der Gedenkstätte in Erinnerung geblieben: ein paar zusammengeschobene antike Möbel und Bücherkisten, eine Vitrine, ein Schreibtisch, ein Sekretär. Wer davor stehen bleibt und fragt, erfährt, es sind Nachbauten von Möbeln Friedrich Schillers, angefertigt in der Häftlingstischlerei des Konzentrationslagers. Sie alle wissen das. Für mich war es eine Entdeckung, dass wer nach Weimar fährt, den Schreibtisch Schillers zweimal sehen kann. Das Original im Schillermuseum und seinen Nachbau in Buchenwald. Inzwischen weiß ich: Es ist der Tisch, an dem Schillers „Wilhelm Tell“ entstand.
Und weil der damalige Kustos des Schillerhauses diesen Schreibtisch selbst als ein Kulturgut erkannte, entschied er 1942, ihn nachbauen zu lassen. Der Kustos hieß Eduard Scheidemantel, war Literaturhistoriker und Oberregierungsrat. Er fürchtete um das Erbe, das ihm anvertraut war, um das Erbe eines Nationaldichters, um seine Möbel. Sie hätten bei Luftangriffen auf Weimar Schaden nehmen können. Was uns der Nachbau des Schreibtisches von Friedrich Schiller und die Sorge um das Erbe des Nationaldichters lehrt, ist, dass die Kultur gegen ihre Vereinnahmung nicht gefeit ist. Versuche nationaler oder ideologischer Vereinnahmung von Kultur gibt es in der Gegenwart und es wird sie auch in Zukunft geben.
Wir erleben gerade ein autokratisches Regime in Russland, dass sich zur Diktatur wandelt, wir erleben, dass Künstler verfolgt werden, weil sie sich nicht auf eine nationale Idee verpflichten lassen wollen und wir erleben andere, die sich derselben Idee, demselben verbrecherischen Regime andienen. Dass wir uns für die überfallenen, von einer kriegerischen Übermacht vertriebenen Ukrainerinnen und Ukrainer, für verfolgte Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine, aus Belarus und Russland einsetzen werden, will ich hier noch einmal versichern. Was ich aber in Deutschland nicht erleben will, ist, dass Schriftsteller und Schriftstellerinnen nicht mehr verlegt oder Komponistinnen und Komponisten vom Spielplan genommen werden, weil es russische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, weil es russische Komponistinnen und Komponisten sind.
Es kommt auf uns an! Wer für die Kultur spricht, wird sich gegen jede Form ihrer nationalen oder ideologischen Vereinnahmung zur Wehr setzen. Erst wenn wir verstehen, dass sich Kulturnationalismus und -Ideologie am Ende gegen die Kultur und gegen uns selbst wenden, verstehen wir auch, dass wir dem KZ Buchenwald nicht das Weimar Schillers und Goethes entgegenhalten können. Es hieße das Weimar zu vergessen, dass eine gedeihliche und einträgliche Nachbarschaft mit Buchenwald einging. Es hieße auch, die damalige Kulturelite Weimars zu exkulpieren, die am Mythos der Stadt mitstrickte, sich als Gralshüter der Klassischen Stätten verstand, und die an dem Plan, ein KZ auf dem Ettersberg zu errichten, schließlich nur den Namen zu beanstanden hatte, wie der Historiker Jens Schley sie zitiert: „weil Ettersberg mit dem Leben des Dichters Goethe in Zusammenhang steht“.
Der Mythos Weimar, die Überhöhung und Idealisierung der deutschen Klassik, der „Naturschutzpark der Geistigkeit“, wie Egon Erwin Kisch Weimar 1926 nannte, diente immer auch der Abwehr des Neuem. Wer die deutsche Klassik als ein nie mehr erreichtes, nicht mehr zu hinterfragendes Ideal rühmte, wusste, warum er das tat. Er brachte sie gegen den Aufbruch in die Moderne, gegen Harry Graf Kessler, gegen Henry van der Velde und gegen das Bauhaus in Stellung. In diesem „Naturschutzpark“ war das Betreten der Grünflächen bei Strafe verboten.
Thomas Mann dagegen, der das Widersprüchliche in Goethes Wesen und Schaffen betonte, wusste ebenfalls, was er tat. Er ging mit Goethe quer durchs Gelände. Er lobte ihn als „großen Menschen mit seinem großen, weit klafternden Widerspruch“. Er sah in ihm den Geheimrat, der im Dienst seiner feudalen Herrschaft stand, ihr aber nicht zu Diensten war; der, als er aufgefordert wird, seine Feder in den Dienst der guten, also der konservativen Sache zu stellen, erklärt, er halte es „für unmöglich, Fürsten und Schriftsteller zu gemeinsamem Wirken zu vereinen“.
Und wenn Sie mich fragen, was denn nun gemeint ist mit Green Culture, ob Vielfalt denn nicht tatsächlich nur Beliebigkeit meint, und was gewonnen ist, wenn man dem Diversen neben dem Eindeutigen Raum schaffen will, dann will ich mich eben auf diese Widersprüchlichkeit berufen. Die Vielfachheit der Goetheschen Natur, sagt Thomas Mann in seiner Rede über den Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters, habe es den verschiedensten Gesinnungen leichtgemacht, sich auf ihn zu berufen; aber dies eine sei nicht möglich: ihn anzurufen im Interesse irgendwelcher geistigen Reaktion.
So würde auch ich meinen Klassiker lesen wollen: der Vielfalt, dem Widersprüchlichen, dem Neuen Raum zu lassen. Wenn Weimar ein Kommunikationsort für alle Fragen bleiben soll, dann ist die Vorstellung, das kulturelle Erbe in Kunstharz zu gießen, um es konservieren zu wollen, obsolet. Wer es bewahren will, muss es hinterfragen, ja auch infrage stellen dürfen. Nur so kann es in der Gegenwart lebendig und für die Zukunft produktiv bleiben.
Heute stehen die Weimarer Klassik und die Klassische Moderne gleichberechtigt nebeneinander. Das ist der Anspruch der Stiftung und ihrer Präsidentin, Ulrike Lorenz. Dafür bin ich dankbar - sehr dankbar. Und wenn sich die Stiftung als Impulsgeberin und Partnerin für nationale wie internationale Forschungs- und Bildungsprojekte versteht, dann bin ich sicher, wird es neben der Weimarer und der Modernen Klassik auch noch Platz für die Gegenwart geben.
Ich meine damit, dass wir auch allem, was noch unbekannt ist, was nicht dem Kanon entspricht und was zum Widerspruch reizt, Raum geben sollten. Ich glaube, wir können darauf vertrauen, dass alles was gut ist und produktiv und seiner Zeit voraus, sich durchsetzt, - und, ob wir es wollen oder nicht, in Weimar am Ende zum Klassiker wird.
Doch wer dem Neuen den Weg bereiten will, muss sich auch der Vergangenheit stellen. Das ist in Weimar, wie andernorts in Deutschland, oft nur gegen Widerstände, aber am Ende doch gelungen. Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Zeitschneise, der 1,3 Kilometer lange Weg, der heute die Gedenkstätte Buchenwald mit dem Schloss Ettersburg verbindet. Die Idee hatten Bernd Kauffmann und Volkhard Knigge.
Für „vollends geisteskrank“ sei er erklärt worden, als er die gemeinsame Idee vorstellte, soll Bernd Kauffmann dem kürzlich verstorbenen Peter Merseburger gesagt haben. Und doch hat sie sich durchgesetzt. Ich bin froh, dass es gelungen ist. Denn nur wer bereit ist, diesen Weg zu gehen, den Weg zwischen dem Konzentrationslager und Goethes Iphigenie, kann ermessen, was Weimar heute, für uns und für die deutsche Kulturgeschichte bedeutet.