"Fast jede Familie ist betroffen"

Interview zum Thema Demenz "Fast jede Familie ist betroffen"

Die Zahl der Menschen mit Demenz in Deutschland steigt weiter an - 2050 könnten es bis zu 2,8 Millionen sein. Das Bundeskabinett hat die Nationale Demenzstrategie verabschiedet. Ein Interview mit Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, über die verschiedenen Formen einer Demenz, Betroffene unter 65 Jahre - und worauf Angehörige besonders achten sollten.         

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Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft 

Sabine Jansen ist Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft: "Es kommt auf ein aufmerksames Umfeld an."

Foto: Deutsche Alzheimer Gesellschaft

Warum ist Ihrer Sicht die Nationale Demenzstrategie so wichtig, Frau Jansen?
 
Sabine Jansen: Allein die große Zahl von derzeit etwa 1,6 Millionen Menschen mit Demenz zeigt die hohe Bedeutung. Hinzu kommen die vielen Angehörigen. Es gibt in Deutschland kaum noch eine Familie, die nichts mit dem Thema Demenz zu tun hat. Unser Versorgungssystem hat mit knappen Ressourcen zu kämpfen. Die steigende Zahl der Menschen mit Demenz sowie die sinkende Zahl der professionell versorgten Betroffenen ist für dieses System eine riesige Herausforderung. Umso wichtiger ist die Nationale Demenzstrategie, damit alle Beteiligten gemeinsam dafür sorgen können, dass die Versorgung der an Demenz Erkrankten auch in Zukunft sichergestellt ist.

Welche konkreten Erwartungen verbinden Sie mit der Strategie?      

Jansen: Wir erhoffen uns natürlich, dass Verbesserungen für jeden Einzelnen eintreten. Wichtig ist beispielsweise, dass es leichter wird, nach der Diagnose Demenz schnell eine Anlaufstelle und Ansprechpartner zu finden, die konkret weiterhelfen. Bislang wird man in dieser Situation oft noch zu lange alleingelassen. Ein weiterer Punkt ist die Verzahnung der vorhandenen Angebote, die zudem bei vielen Betroffenen gar nicht bekannt sind. Darüber hinaus setzen wir auf die Verabredungen in der Demenzstrategie, die Qualifikation, das Know-how, die Konzepte und die Behandlungspfade in der Betreuung von Erkrankten zu verbessern. Es  braucht dringend eine bessere Qualität! Von herausragender Bedeutung ist eine demenzspezifische Versorgung – und zwar im häuslichen und im stationären Bereich sowie in den Akutkrankenhäusern.

Wer ist von Demenz betroffen?

Jansen: Die Zahl der Menschen mit Demenz wird voraussichtlich weiter steigen. Man rechnet in Deutschland mit bis zu 2,8 Millionen Betroffenen im Jahr 2050, sofern es keinen Durchbruch bei der Therapie gibt. Es sind ganz überwiegend ältere Menschen, die an Demenz erkranken. Der Anstieg hat auch damit etwas zu tun, dass wir im Schnitt alle älter werden, was natürlich zu begrüßen ist. Aber ein gewisser Prozentsatz der Älteren bekommt leider eine Demenzerkrankung.

Es gibt aber auch etwa 25.000 unter 65-Jährige, bei denen Demenz diagnostiziert wurde. Diese Zahl erscheint recht hoch, doch früher wurde die Krankheit oft gar nicht erkannt oder es wurde beispielsweise Burn-out oder Depression diagnostiziert.

Wie äußert sich eine Demenz?

Jansen: Es gibt verschiedene und unterschiedliche Symptome. Häufig tritt die Alzheimer-Erkrankung auf. Hierbei haben die Betroffenen zunehmend mit Vergesslichkeit, aber auch mit Orientierungslosigkeit zu kämpfen. Außerdem gibt es Krankheitsbilder, bei denen eine Wesensveränderung wie eine mangelnde Empathiefähigkeit im Vordergrund steht. Bei allen Formen der Demenz schreiten die Symptome fort, das heißt, dass sich die Situation der Betroffenen verschlechtert und sie in fortgeschrittenen Stadien von der Hilfe anderer abhängig sind.

Ausführliche Informationen zum Beschluss des Bundeskabinetts zur Nationalen Demenzstrategie finden Sie hier .

Was raten Sie Angehörigen, die sich um einen an Demenz erkrankten Menschen kümmern?   

Jansen: Wichtig ist von Anfang an, sich umfassend Informationen zu beschaffen. Beispielsweise darüber, wie ich als Angehöriger Verhaltensänderungen bei einem Familienmitglied deuten und damit umgehen kann. Oder auch welche Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und welche rechtlichen Fragen zu klären sind. Darüber hinaus sollten die Pflege und Betreuung von Demenzkranken nach Möglichkeit auf verschiedene Schultern verteilt werden. In vielen Familien ist nur eine Person für diese Aufgabe zuständig. Für entscheidend halten wir es, sich rechtzeitig Hilfe zu holen. Und sich bei Beratungsstellen frühzeitig zu informieren. Da setzt auch unsere Kampagne "DemenzPartner" an, die auch Teil der Demenzstrategie ist. Denn leider hören wir noch zu oft, dass Angehörige sagen, hätten sie dieses oder jenes vorher gewusst, wären ihnen einige Probleme erspart geblieben.  

Wie wichtig ist eine stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Demenz?

Jansen: Das ist aus unserer Sicht ganz besonders wichtig! Gerade vor dem Hintergrund, dass immer mehr Menschen alleine leben oder  Familienmitglieder häufig weiter voneinander entfernt wohnen. Oft bekommen es erwachsene Kinder beispielsweise gar nicht oder erst sehr spät mit, dass sich ihre Eltern stark verändert haben oder vergesslich sind. Umso mehr kommt es auf ein aufmerksames Umfeld an. Geht jemand zum Beispiel in einen Chor, beobachtet er vielleicht, dass ein älteres Mitglied immer öfter zu spät zur Probe kommt. Dann kann es Sinn machen, denjenigen einmal daraufhin anzusprechen. Häufig sind es also schon die kleinen Dinge im Alltag, die bestimmte Anzeichen für Demenz sein können.
                        
Wie funktioniert die Betreuung von Menschen mit Demenz in Zeiten von Corona?

Jansen: Die vergangenen Monate waren für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen eine sehr schwierige Zeit. In der häuslichen Pflege gab es Probleme, weil auf einmal viele Unterstützungsangebote wie die Tagespflegen oder ehrenamtliche Hilfen nicht mehr zur Verfügung standen. Viele Familien waren und sind aktuell deshalb nach wie vor sehr überlastet. Aber auch die Angehörigen von Betroffenen, die in Pflegeheimen versorgt werden, waren und sind oft verzweifelt. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen konnten manche zum Beispiel ihre Eltern wochenlang gar nicht oder kaum sehen oder mussten erleben, wie ihre Angehörigen im Heim seelisch ein Stück weit verkümmern. Wer Rat und Hilfe braucht, kann sich jederzeit an unser Alzheimer-Telefon wenden. Hierüber erreichte uns schon in den vergangenen Wochen eine Flut von Anfragen.

Das Alzheimer-Telefon ist von Montag bis Donnerstag von 9 bis 18 Uhr und freitags von 9 bis 15 Uhr unter 030/259379514 geschaltet. Das Beratungsangebot der Deutschen Alzheimer Gesellschaft wird vom Bundesfamilienministerium gefördert. Das Bundeskabinett hat am Mittwoch die Nationale Demenzstrategie verabschiedet. Sie soll die Situation der Betroffenen und ihrer Angehörigen in allen Lebensbereichen nachhaltig verbessern. An der Erarbeitung der Demenzstrategie war maßgeblich die Deutsche Alzheimer Gesellschaft  beteiligt.