"Wer heute noch Barrieren baut, der macht etwas falsch"

Behindertenbeauftragter "Wer heute noch Barrieren baut, der macht etwas falsch"

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der Jurist ist fest davon überzeugt, dass es keinen Arbeitsplatz gibt, der nicht von einem Menschen mit Behinderung besetzt werden könnte. Bei alltäglichen Dingen, wie etwa dem Geldabheben am Automaten, könne die Barrierefreiheit allerdings noch verbessert werden.  

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Foto zeigt Jürgen Dusel

"Ein Staat verdient nur dann das Prädikat demokratisch, wenn er inklusiv denkt und handelt", sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung.

Foto: picture-alliance

Herr Dusel, Sie sind seit fast zwei Jahren der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Jürgen Dusel: Zusammengefasst lässt sich sagen: Wir haben bereits einiges geschafft, haben jedoch noch eine Menge vor. Auf der Haben-Seite steht zum Beispiel das Angehörigenentlastungsgesetz der Bundesregierung. Dieses gilt für Personen, deren Eltern pflegebedürftig werden und für Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung. Das war auf jeden Fall ein großer Schritt. Positiv sehe ich auch, dass das Bundesverfassungsgericht den Wahlrechtsausschluss im Bundeswahlgesetz als verfassungswidrig erklärt hat, dafür habe ich lange gekämpft. Aber wir haben auch viele kleine Dinge erreicht, zum Beispiel haben wir durchsetzen können, dass Hebammen in der Ausbildung jetzt verbindlich Wissen über Menschen mit Behinderungen vermittelt bekommen.

Auf der Soll-Seite würde ich sagen, dass wir noch einiges tun können, um die Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben zu verbessern. Ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber in Deutschland beschäftigt nicht einmal einen einzigen Menschen mit Behinderung. 

Woran liegt das? 

Dusel: Das liegt daran, dass es noch immer Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung gibt. Viele denken, dass sie nicht so leistungsfähig oder häufiger krank seien oder dass man sie nicht kündigen könnte. Diese Vorurteile sind alle falsch, aber sie halten sich sehr stark. Viele Arbeitgeber können sich gar nicht vorstellen, dass Menschen mit Behinderung sehr gute Arbeit leisten können.

Der Behindertenbeauftragte wird vom Bundeskabinett jeweils für die Dauer einer Legislaturperiode bestellt. Der Beauftragte hat die Aufgabe, darauf hinzuwirken, dass die Verantwortung des Bundes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird. Innerhalb der Bundesregierung nimmt der Beauftragte Einfluss auf politische Entscheidungen und begleitet aktiv die Gesetzgebung. Seit 2018 ist Jürgen Dusel der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, er ist seit seiner Geburt stark sehbehindert. 

Was können wir gegen diese Vorurteile tun?

Dusel: Gemeinsames Lernen kann solche Vorurteile verhindern. Die Leute, die mit mir Abitur gemacht und die später Personalverantwortung bekommen haben, die geben auch Menschen mit Behinderung eine Chance, weil sie schon einmal einen Menschen mit Behinderung kennengelernt haben. 

Sie wollen aber auch die Abgabe für Arbeitgeber erhöhen, die keine Menschen mit Behinderung beschäftigen… 

Dusel: Ich finde es inakzeptabel, dass ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber in Deutschland keinen einzigen Menschen mit Behinderung beschäftigt. Ich finde, wir müssen uns an die Regeln halten, die wir uns gegeben haben. Für diese Firmen oder Institutionen sollte die Abgabe mindestens auf 650 Euro pro nichtbesetzten Arbeitsplatz verdoppelt werden. Wir haben in Deutschland 1,2 Millionen Menschen mit Behinderung, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Die Gruppe der Menschen mit Behinderung ist so heterogen, dass ich mir keinen Arbeitsplatz vorstellen kann, der nicht sehr gut durch einen Menschen mit Behinderung besetzt werden könnte, vorausgesetzt die Rahmenbedingungen stimmen.

In Deutschland gibt es eine Beschäftigungspflicht. Wenn Arbeitgeber die vorgeschriebene Zahl Menschen mit Schwerbehinderung nicht beschäftigen, müssen sie für jede unbesetzte Stelle eine Ausgleichsabgabe zahlen. Diese richtet sich nach der Höhe der Beschäftigungsquote und reicht von 125 Euro pro Arbeitsplatz und pro Monat bei einer Quote von drei bis weniger als fünf Prozent bis hin zu 320 Euro, wenn weniger als zwei Prozent der Belegschaft Menschen mit Behinderung sind. Erleichterungen gibt es für kleinere Arbeitgeber. Die Gelder fließen in einen Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Mit den Mitteln wird die Teilhabe schwerbehinderter Menschen in Deutschland gefördert.   

Das Thema bezahlbarer Wohnraum spielt für viele Menschen eine wichtige Rolle. Wie sieht der Wohnungsmarkt für Menschen mit Behinderung aus? 

Dusel: Für Menschen mit Behinderung braucht es nicht nur bezahlbaren Wohnraum, sondern bezahlbaren Wohnraum, der auch barrierefrei ist. Da es davon viel zu wenig gibt, führt es dazu, dass Menschen mit Behinderung häufig ins Heim müssen. Oder wenn sie bereits im Heim sind, dann finden sie keine Wohnung mehr. Das ist aus meiner Sicht nicht hinzunehmen. Gerade im Alter wollen viele Menschen lange in ihrer Wohnung bleiben. 

Muss also mehr barrierefrei gebaut werden?

Dusel: Es stört mich, dass Barrierefreiheit immer ein Thema ist, das "on top" kommt. Bei Neubauprojekten heißt es häufig: "Wir bauen 10.000 normale Wohnungen und 1.000 barrierefreie". Davon müssen wir weg. Barrierefreiheit ist ein Qualitätsstandart, der allen zugutekommt und der für eine moderne offene Gesellschaft ein Standard sein muss. Wer heute noch Barrieren baut, der macht etwas falsch. Es macht keinen Sinn, Barrieren zu bauen. Barrierefreies Bauen ist modern und vernünftig. Dieses Denken muss sich auch bei der Ausbildung von Architekten wiederspiegeln. Viele Architekten verbinden mit Barrierefreiheit häufig ausschließlich die Zugänglichkeit für Rollstuhlnutzende. Das greift allerdings viel zu kurz. Ich bin da ein gutes Beispiel: Ich kann super Treppen laufen, brauche in Gebäuden dafür andere Unterstützungen - beispielswiese taktile Leitsysteme. 

Was bedeutet die Digitalisierung für Menschen mit Behinderung? 

Dusel: Die Digitalisierung bietet große Chancen. Wir dürfen nur einen Fehler nicht wiederholen: Dass wir erst einmal etwas erschaffen und dann fällt uns auf, dass es nicht barrierefrei ist. Genauso wie es schwierig ist, ein bereits gebautes Gebäude nachträglich barrierefrei zu machen, so ist es auch mühsam, wenn erst eine digitale Infrastruktur aufgebaut wird und dann an die Barrierefreiheit gedacht wird. Auch Menschen mit Behinderung wollen sich mal schnell online das Kinoprogramm anschauen oder schauen, was auf Instagram so los ist. 
Gerade bei den Veränderungen in der Arbeitswelt ist es wichtig, dass die digitalen Systeme barrierefrei sind. Dabei meine ich nicht nur zugänglich für seh- oder hörgeschädigte Menschen, sondern auch für kognitiv eingeschränkte Personen, zum Beispiel über leichte Sprache. Ansonsten werden diese Menschen Probleme haben, Jobs zu finden beziehungsweise sogar ihre Jobs verlieren. 

Deshalb müssen wir bei der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung das Thema Zugänglichkeit von Anfang an mitdenken. Barrierefreiheit ist ein verbrieftes Recht. Es geht letztendlich um die Umsetzung von Grundrechten. Demokratie braucht Inklusion. Ein Staat verdient nur dann das Prädikat demokratisch, wenn er inklusiv denkt und handelt. 
Insgesamt stehen wir im öffentlichen Bereich allerdings ganz gut da. Jetzt kommt es darauf an, dass wir uns auch im privaten Bereich verbessern. 

Inwiefern? 

Dusel: Ich nehme immer gerne das Beispiel Geldautomat. Machen Sie das nächste Mal die Augen zu, wenn Sie Geld abheben wollen. Da werden Sie schnell merken, dass Sie kein Geld bekommen, da der Prozess immer anders ist. Auch private Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen müssen ihre Dienste oder Produkte barrierefrei anbieten. Deutschland ist so ein innovationsfähiges Land. Es muss doch möglich sein, dass wir unsere Geldautomaten barrierefrei hinbekommen. Gleiches gilt natürlich für Fahrkartenautomaten oder den Zugang ins Hotel oder ins Restaurant. Wir müssen da mehr erreichen und kapieren, dass Barrierefreiheit eine tiefe soziale Dimension hat. 
Es geht auch nicht nur darum, dass der Staat Inklusion verordnet. Es muss im Bewusstsein der Zivilgesellschaft ankommen, dass das sinnvoll ist. Vieles kann man nicht mit Gesetzen ändern, da geht es vor allem um die Haltung und Werte jedes Einzelnen.