Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel, Bundesminister Spahn und Prof. Dr. Wieler am 13. Juli 2021

Prof. Dr. Wieler: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Bundesminister, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute im Robert-Koch-Institut begrüßen zu dürfen. Ich möchte mich ganz herzlich für das Interesse an der Arbeit und die Wertschätzung, die Sie unserem Haus heute haben zukommen lassen, bedanken.

Wir hatten eben Gelegenheit, uns fachlich ein wenig auszutauschen. Wir haben natürlich auch über die aktuelle Lage gesprochen. Leider steigen die Fallzahlen seit einigen Tagen wieder. Das war aber zu erwarten. Denn mit Delta dominiert ja eine Variante, die noch ansteckender ist als Alpha und sich natürlich vor allem auch in der ungeimpften Bevölkerung rascher verbreiten kann. Meine Damen und Herren, das Virus macht keine Pause. Es gönnt auch uns keine Pause.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich freue mich nun auf Ihr Statement.

BK’in Merkel: Danke schön. - Sehr geehrter Herr Wieler, meine Damen und Herren, lieber Jens Spahn, ich bedanke mich für den freundlichen Empfang hier im Robert-Koch-Institut. Wir haben interessante Informationen bekommen. Ich möchte dem Robert-Koch-Institut und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein ganz herzliches Dankeschön sagen, natürlich auch dem Ministerium, zu dem es gehört, und dem Minister. Denn dieses Robert-Koch-Institut hat sich als großer Segen erwiesen, nicht nur für Deutschland, sondern auch für viele in der Welt. Von hier werden Ratschläge geholt, und hier wird Kompetenz abgefragt.

Durch die Pandemie sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier natürlich in eine Drucksituation gekommen, die Sie, denke ich, noch nicht erlebt hatten. Deshalb will ich Danke sagen für immerwährende Arbeit, Sachverstand und sehr viel Hilfe, die wir bekommen. Man weiß: Was von hier kommt, muss den Prüfungen standhalten. - Sie stehen zum Teil auch in der Kritik. Sie müssen sich immer wieder sozusagen zu Ihren Erfolgen bekennen und sie darlegen. Das tut das Robert-Koch-Institut ganz wunderbar. Wir in der Bundesregierung sind stolz darauf, ein solches Institut zu haben.

Zweitens will ich auch etwas zur augenblicklichen Situation sagen. Wir haben in der Tat noch niedrige Fallzahlen, eine niedrige Inzidenz, wie man sagt. Aber sie steigt. Der R-Faktor liegt im Augenblick wieder bei über eins. Das hat mit der Deltavariante zu tun. Wir müssen uns immer vor Augen führen, dass überall dort auf der Welt, wo sehr hohe Fallzahlen auftreten, die Wahrscheinlichkeit, dass wieder eine Mutation, wieder eine Variante entsteht, hoch ist. Deshalb stellt sich die Frage, wie wir verhindern, dass immer weitere Mutationen entstehen, die uns natürlich zum Beispiel im Blick auf die Wirksamkeit der Impfstoffe Probleme machen können, wie wir verhindern, dass zu viele dieser Mutationen entstehen.

Wir haben - man muss sagen: glücklicherweise - eine veränderte Lage. Denn das Impfen wirkt. Wir merken, dass deshalb die Zahl der Fälle natürlich nicht mehr so eng mit der Zahl der schwierigen Verläufe und der Intensivbettenbelegung verbunden ist, wie es früher der Fall war. Das hat zum Teil zu der Diskussion geführt, ob die Inzidenz denn noch wichtig sei. Da sage ich: Natürlich ist sie wichtig. Denn man wird auch in Zukunft aus der Fallzahl ableiten können, wie viel schwere Fälle es gibt. Aber die Korrelation, die Verbindung zwischen beiden Größen ist durch das Impfen eine völlig andere geworden. Wir müssen jetzt darüber lernen, erstens, wie der Impfstoff bezüglich der neuen Variante wirkt. Die Wirkung schwächt sich etwas ab. Glücklicherweise ist die Wirkung aber bei den ganz schweren Verläufen nach wie vor sehr hoch.

Man kann sehr gut sagen, welche Impfquote wir brauchen. Uns wurde heute in einem eindrücklichen Vortrag dargestellt, wie hoch die Impfquote sein muss, damit wir auch mit dieser aggressiveren Variante klarkommen. Die Fachleute hier haben uns gesagt, dass wir 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen geimpft haben müssen. Dann ist der Anstieg beherrschbar. Von diesen Impfquoten sind wir noch weit entfernt. Ansonsten werden wir wieder sehr hohe Fallzahlen bekommen.

Eine weitere wichtige Information war, dass wir die Vorsichtsregeln, die AHA+L-Regeln, weiter einhalten müssen. Auch das Testen wird weiterhin eine große Rolle spielen. Denn das hat noch einmal einen signifikanten Effekt auf die Frage, wie viele Fälle und damit auch wie viele schwierige Fälle wir haben.

Wie ich es schon sagte, verändert sich durch das Impfen aber die Möglichkeit, auch höhere Inzidenzen zu bewältigen, ohne dass das Gesundheitssystem überlastet wird. Heute haben wir hier erste Eindrücke davon bekommen, wie das verläuft. Ich kann nur sagen: Die zentrale Frage ist: Wie viele Menschen lassen sich impfen? Deshalb haben wir hierüber sehr ausführlich gesprochen.

Ich möchte deshalb auch diese Gelegenheit benutzen, um noch einmal für das Impfen und für den Impfschutz zu werben. Die Coronaviruspandemie hat uns allen ja gezeigt, dass wir wechselseitig verwundbar und dass wir aufeinander angewiesen sind. Niemand ist für sich allein geschützt. Eine Impfung mag manchen überflüssig erscheinen, weil sie meinen, selbst körperlich unverwundbar zu sein. Sie mag manchen bedrohlich erscheinen, weil sie damit ja auch noch keine Erfahrungen gemacht haben oder weil sie nur Bruchstücke von Informationen haben. Deshalb sage ich allen, die noch unsicher sind, ob sie sich impfen lassen sollen: Eine Impfung schützt nicht nur Sie, sondern auch immer jemandem, dem Sie nahestehen, der Ihnen wichtig ist, den Sie lieben. Eine Impfung bewahrt nicht nur vor schwerer Krankheit und Schmerz, sondern auch vor den belastenden Beschränkungen unseres Alltags. Je mehr geimpft sind, desto freier werden wir wieder sein, desto freier können wir wieder leben.

Ich kann als Bundeskanzlerin aus tiefer Überzeugung für eine Impfung werben. Ich kann auch versuchen, Fragen dazu zu beantworten. Aber ich weiß auch, dass es manchmal mehr hilft, wenn es vielleicht der eigene Sohn ist, der die Bedenken ausräumt, wenn es eine Kollegin ist, die von ihrer eigenen Erfahrung mit dem Impfen berichtet, wenn im Verein oder in der Gemeinde über das Für und Wider von Impfungen gesprochen wird. Deshalb meine Bitte an alle: Sprechen Sie miteinander, in der Familie, am Arbeitsplatz, im Fußballverein, überall dort, wo sich Menschen kennen und einander vertrauen, und werben Sie für das Impfen! Denn wir brauchen einander.

Herzlichen Dank.

BM Spahn: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, lieber Herr Professor Wieler, meine Damen und Herren, der Appell, sich impfen zu lassen, kommt zur richtigen Zeit. Wir haben es nämlich selbst in der Hand. Jetzt im Sommer entscheiden wir darüber, wie der Herbst und der Winter werden. Wir haben es selbst in der Hand, in den nächsten Wochen den entscheidenden Unterschied zu machen. Der entscheidende Unterschied wird durch das Impfen gemacht. Das ist hier in der Diskussion mit dem Robert-Koch-Institut noch einmal sehr deutlich geworden.

Das Impftempo ist zwar immer noch hoch, aber wir sehen, dass es nachlässt. Jetzt geht es darum, dieses Tempo hoch zu halten. Denn - darüber sind sich die Experten einig - je mehr sich impfen lassen, desto besser kommen wir durch Herbst und Winter. Je höher die Impfquote ist, die wir schaffen, auch über 75 Prozent, 80 Prozent, desto mehr sehen wir diesen Unterschied tatsächlich auch in der Frage, wie sehr das Gesundheitswesen belastet wird. Jeder entscheidet mit seiner Impfung also mit darüber, wie sehr Pflegekräfte, wie sehr Ärztinnen und Ärzte im Herbst und Winter durch die Behandlung von COVID-19-Patienten wieder belastet sein werden.

Deshalb danke ich auch für das Signal der Frau Bundeskanzlerin mit ihrem Besuch hier im Robert-Koch-Institut. Liebe Angela, wir freuen uns, dass du hier bist, auch als Wertschätzung für die Arbeit des Robert-Koch-Institutes jetzt seit 18 Monaten in der Pandemie international und hier national für Deutschland.

Was den Impfstoff angeht, gilt: Es gibt keine Ausreden mehr. Denn genug Impfstoff ist da. Termine sind leicht zu bekommen. Deshalb der dringende Appell, die dringende Bitte: Bitte nutzen Sie die Gelegenheit, lassen Sie sich impfen!

Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang vor allem auch den Bundesländern und den Kommunen, den Oberbürgermeistern, Bürgermeistern, Landräten, natürlich auch den Bürgermeisterinnen und Landrätinnen, die im Moment sehr kreativ in den unterschiedlichsten Bereichen niedrigschwellig Impfangebote machen. Auf dem Marktplatz, dem Sportplatz, neben der Kirche, neben der Moschee Impfen to go, das ist tatsächlich das richtige Motto. Natürlich kommt immer so viel Aufklärung und Information wie gewünscht dazu. Aber jetzt geht es darum, Gelegenheiten zur Impfung zu schaffen. Gelegenheit macht Impfung. Das ist die nächste Phase in der Impfkampagne, in der es darum geht, auch die zu erreichen, die sich nicht selbst aktiv um einen Termin zur Impfung bemühen.

Sich impfen zu lassen ist eine sehr individuelle Entscheidung. Aber jede einzelne Entscheidung macht auch einen Unterschied für uns als Gemeinschaft. Der US-Präsident Joe Biden hat es als eine patriotische Pflicht bezeichnet, sich impfen zu lassen. Ich denke, er hat recht. Impfen hilft dem Land, zu einer Normalität zu finden. Impfen hilft uns als Nation, zu einer neuen Normalität zu finden.

Ich würde auch noch erweitern: Lassen Sie sich vor allem auch impfen, um unsere Kinder und Jugendlichen zu schützen! - Manche sagen dieser Tage, wenn jeder ein Impfangebot gehabt habe, dann könne man ja auf bestimmte Maßnahmen verzichten. Das stimmt grundsätzlich. Nur: Kinder unter zwölf Jahren haben im Moment gar kein Impfangebot, und für 12- bis 18-Jährige ist es ein eingeschränktes. Deswegen finde ich es, nachdem Kinder und Jugendliche in den letzten Monaten auf sehr viel verzichtet haben und in ihrem Alltag auch sehr viele Härten erleben mussten, auch mit geschlossenen Kitas und Schulen, sehr, sehr wichtig, dass es jetzt auch darum geht, Rücksicht auf sie zu nehmen. Es kann nicht nach dem Motto gehen: Alle Erwachsenen sind geimpft, und jetzt kommt es auf den Schutz der Kinder nicht mehr an. - Das kann ich als Bundesminister für Gesundheit jedenfalls nicht richtig finden, vor allem nicht, solange wir nicht mehr und nicht ausreichend über die Folgen einer Infektion wissen, auch die Langzeitfolgen einer Infektion gerade auch für Kinder und Jugendliche, was Müdigkeit, Erschöpfung und all die Symptome, die mit „Long Covid“ beschrieben sind, angeht. Wir müssen mehr darüber wissen.

Was eine Impfung macht, wissen wir sehr gut. Die Wirkungen kennen wir gut. Was eine Infektion macht und machen kann, das gilt es weiter zu erforschen, auch bei Kindern und Jugendlichen. Deswegen ist es aus meiner Sicht sehr, sehr wichtig, gerade auch in den nächsten Wochen und Monaten gerade auf diese Altersgruppe eine besondere Rücksicht zu nehmen.

Dazu gehört auch die Impfung für die über Zwölfjährigen. Die Ständige Impfkommission sagt übrigens ausdrücklich: Nach individueller Entscheidung und individueller Risikoakzeptanz ist eine Impfung für über Zwölfjährige möglich. - Dieses Angebot haben mittlerweile 600 000 über Zwölfjährige wahrgenommen. Wir können zusagen: Jedem, der es annehmen will, steht der Impfstoff zur Verfügung.

Ein Letztes: Als Bundesregierung haben wir versprochen, im Sommer allen ein Impfangebot zu machen. Dieses Versprechen werden wir halten. Mehr noch: Wenn sich jetzt alle frühzeitig im Sommer impfen lassen, dann werden wir nicht nur allen ein Impfangebot zur Erstimpfung machen können, sondern wenn jetzt im Juli alle die Chance zur Erstimpfung nutzen, dann werden bis zum Ende des Sommers auch alle ihre Zweitimpfung erhalten haben können. Noch einmal: Wir machen jetzt in diesen Tagen und Wochen den entscheidenden Unterschied für die Frage, wie Herbst und Winter werden. Impfen macht den entscheidenden Unterschied. Bitte lassen Sie sich impfen!

Frage: Frau Bundeskanzlerin, der Kampf um eine hohe Impfquote wird ja in jedem Land ausgetragen. Frankreich, Italien und Griechenland sind jetzt etwas andere Wege gegangen und haben eine Impfpflicht entweder für die ganze Bevölkerung oder für einzelne Berufsgruppen verhängt.

Sind Sie dafür, dass es auch in Deutschland eine Impfpflicht gibt, entweder für alle oder zumindest für besondere Berufsgruppen?

Herr Spahn, Sie entscheiden über die Einreiseverordnung mit. Ist es eigentlich richtig, in der jetzigen Zeit, in der Großbritannien trotz hohen Inzidenzzahlen lockert, durch die Rücknahme der Einstufung als Virusvariantengebiet die Reisebeschränkungen für Großbritannien zurückzunehmen?

BK’in Merkel: Wir haben nicht die Absicht, den Weg zu gehen, den Frankreich jetzt vorgeschlagen hat. Wir haben gesagt: Es wird keine Impfpflicht geben. - Wir sind am Beginn sozusagen der Phase, in der wir noch werben und in der wir Impfstoff für mehr Personen haben als wir Personen haben, die sich impfen lassen wollen. Diese Phase werden wir jetzt mit allem Nachdruck vorantreiben. Das tun wir auch heute mit unserer Pressekonferenz. Ich denke, es wird vielleicht noch viele geben, die sich impfen lassen, weil auch der Vortrag eben noch einmal gezeigt hat, dass die Impfbereitschaft sehr, sehr hoch ist. Ich glaube nicht, dass man durch Veränderung dessen, was wir gesagt haben - keine Impfpflicht -, jetzt Vertrauen gewinnen würde, sondern ich glaube, dass wir Vertrauen gewinnen können, indem wir für das Impfen werben und auch möglichst viele Menschen in der Bevölkerung, wie ich es eben gesagt habe, zu Werbern, zu Botschaftern des Impfens machen und von ihrer eigenen Impferfahrung berichten lassen. Da haben wir noch Potenzial, und das wollen wir ausnutzen.

BM Spahn: Ich möchte auch noch einmal sagen, dass es aus meiner Sicht keine Impfpflicht gibt - die Debatte brauchen wir auch nicht -, aber ein Impfgebot. Es ist auch ein Gebot der Vernunft, sich impfen zu lassen. Jetzt haben wirklich viele Millionen die Erfahrung gemacht und können davon berichten. Ja, es gibt auch kurzzeitig Nebenwirkungen. Aber die Allermeisten können auch viel Positives berichten, vor allem über den Schutz.

Damit bin ich beim Vereinigten Königreich und der Einreise. Das gilt für alles, was wir in der Einreiseverordnung haben und auch weiter stärken werden. Der entscheidende Unterschied für Mobilität, möglichst einfach, in der Europäischen Union und darüber hinaus - das wird sehr, sehr klar -, ist, geimpft zu sein und einen Schutz zu haben. Dann braucht es keine zusätzlichen Tests, und dann braucht es auch nur in den seltensten Fällen eine Quarantäne.

Das Vereinigte Königreich hat eine Einstufung als Hochinzidenzgebiet. Das heißt also: Zehn Tage Quarantäne, frühestens nach fünf Tagen ist eine Freitestung möglich, es sei denn, jemand ist geimpft oder genesen.

Warum konnten wir diese Veränderung vornehmen? - Weil wir, erstens, die Deltavariante besser kennen. Wir wissen vor allem, dass die Impfstoffe und der Impfschutz auch bei dieser Variante gut wirken. Das ist auch gerade noch einmal deutlich geworden. Weil, zweitens, die Deltavariante mittlerweile auch in Deutschland die dominierende Variante geworden ist. Die Einstufung als Virusvariantengebiet ist etwas, was wir sehr, sehr selten nutzen. Dabei geht es um sehr harte Einschränkungen. Dann können nur noch Deutsche einreisen und Menschen mit einem Wohnsitz in Deutschland, und auch Geimpfte müssen dann in Quarantäne. Das ist etwas, was wir sehr selten nutzen, wenn nämlich neue Varianten auftauchen, die wir noch nicht kennen. Das ist bei Delta nicht mehr der Fall. Deswegen ist die Einstufung als Hochinzidenzgebiet folgerichtig. Aber bei Nichtgeimpften bleibt es bei einer Quarantänepflicht. Diese ist auch notwendig.

BK’in Merkel: Ich will vielleicht noch daran erinnern, dass die dritte Welle ja nicht deshalb gebrochen worden, weil wir alles so fein im Griff hatten, sondern dass sie so schnell und entschieden gebrochen wurde, dass wir mit den Inzidenzen im besten Falle bei unter fünf waren, das war nur der Tatsache geschuldet, dass sich das Impfen bemerkbar gemacht hat. Daran hat sich also schon gezeigt, dass das Impfen eine wirklich große Wirkung hat und eine Menge Menschenleben retten kann.

Frage: Zunächst an Herrn Wieler: Klar, Sie sind sicherlich auch für Werbung für die Impfung. Nichtsdestotrotz: Würden Sie sich aus wissenschaftlicher Sicht vielleicht doch eine Impflicht, möglicherweise auch nur für bestimmte Gruppen, wünschen? Wäre das aus wissenschaftlicher Sicht sinnhaft?

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben die Zahlen ja genannt: 85 Prozent oder 90 Prozent bei den über 60-Jährigen sind ja exorbitant hohe Zahlen, die man erreichen muss. Im Moment haben wir, glaube ich, knapp die Hälfte; das heißt, der Weg ist noch sehr weit. Wie genau soll dieses Werben jenseits von lockereren, einfacheren Impfangeboten denn aussehen, wie kann ich mir das vorstellen?

Herr Spahn, wird das Infektionsschutzgesetz jetzt mit Blick auf das Stichwort Inzidenzen auch noch einmal angefasst?

BK’in Merkel: Wir sind noch davon entfernt, aber bei den über 18-Jährigen haben inzwischen doch über zwei Drittel die Erstimpfung. Daran kann man also die Impfbereitschaft sehen. Dann müssen wir eben noch weiter werben, aber wir sind jetzt auch nicht mehr so weit davon entfernt. 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen zu erreichen, ist aber schon schwierig - wobei wir die 90 Prozent einfacher erreichen; das kann Jens Spahn vielleicht noch einmal sagen. Bei den über 60-Jährigen sind wir, glaube ich, schon bei über 80 Prozent, bei 84 Prozent. Das heißt, in dieser Altersgruppe gibt es eine sehr hohe Impfbereitschaft und auch eine sehr hohe Abrufung der Impfangebote.

Ansonsten wurde ja schon gesagt: Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Berlin will jetzt, glaube ich, bei IKEA auf dem Parkplatz, in Moscheen und in Kirchen und bei verschiedenen Anlässen impfen. Das ist, glaube ich, schon sehr wichtig. - Jetzt habe ich Ihrer Antwort vorgegriffen, Herr Wieler, Entschuldigung.

Prof. Dr. Wieler: Zu Ihrer Frage: Die wissenschaftliche Begründung ist eben genau die, dass wir das nicht brauchen. Zum einen untersuchen wir hier im Haus schon seit vielen Jahren die Gründe, warum Menschen sich impfen lassen oder nicht impfen lassen. Das tun wir natürlich ganz intensiv gerade auch jetzt in dieser Pandemie. Es gibt auch andere Arbeitsgruppen, die das tun - ich nenne hier nur einmal die COSMO-Studie mit Frau Betsch aus Erfurt.

Wir haben eine sehr hohe Impfbereitschaft; die liegt bei all den Gruppen, die wir befragen, wirklich deutlich über 80 Prozent. Nach den wissenschaftlichen Daten, die wir aktuell über die COVIMO-Studie erheben, können wir ganz klar feststellen, dass es einen sehr Kleinen Anteil an Menschen, einen einstelligen Prozentsatz an Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen wollen. Das heißt, es sind wirklich an die 90 Prozent, die eine hohe Impfbereitschaft haben.

Was wissenschaftlich zu tun ist, ist eigentlich ein ganz klarer Befund, den wir auch immer wieder gesehen haben: Es muss uns gelingen, die Impfung zu den Menschen zu bringen. Das nennen wir ein aufsuchendes Impfangebot. Sie sehen das ja auch schon in unserem Land - und es ist eine hervorragende Entwicklung, dass das geschieht -, und immer wieder gibt es Beispiele. Ich nenne jetzt einmal Chorweiler, wo vor einigen Monaten die Oberbürgermeisterin von Köln vor Ort geimpft hat; da sind tausende Menschen in kurzer Zeit geimpft worden. Ich glaube, letztes Wochenende wurden in einem Einkaufszentrum von Sindelfingen mehr als tausend Menschen geimpft. Das entspricht auch genau dem Stand der Wissenschaft; denn es gibt viele Menschen, die sich impfen lassen wollen, aber aus irgendwelchen Gründen eben nicht zum Arzt gehen. Das ist der Alltag, und das liegt vielleicht teilweise auch daran, dass gerade in Niedriginzidenzzeiten das Risikobewusstsein verlorengeht.

Der wissenschaftliche Ansatz ist also: aufsuchende Impfangebote, die Impfung zu den Menschen bringen. Wir haben letzten Montag ein Papier publiziert, in dem wir diese Impfquoten als Zielmarken ausgerufen haben. Wir haben die nicht ausgerufen, weil die hypothetisch sind, sondern weil die Daten, die wir haben, wirklich besagen: Mit den entsprechenden aufsuchenden Impfangeboten und mit einem korrekten Ansprechen und Information können wir das erreichen.

BM Spahn: Mit jetzigen Stand haben sich etwa 84 Prozent der über 60-Jährigen impfen lassen. Man hat tatsächlich immer schon - auch vor Beginn der Kampagne - gesehen, dass die grundsätzliche Impfbereitschaft mit dem Alter korreliert, weil das natürlich auch etwas mit dem Risiko und der Risikowahrnehmung zu tun hat. Bei den 18- bis 59-Jährigen sind wir jetzt bei etwa 60 Prozent und bei den 12- bis 18-Jährigen bei etwa 12 bis 13 Prozent, die bis jetzt das Impfangebot angenommen haben.

Es ist aber auch Teil der Wahrheit, dass es für einen 20-, 25- oder 30-jährigen Gesunden bis vor ein, zwei Wochen auch sehr schwer war, an einen Impftermin zu kommen. Erst einmal waren priorisierte Gruppen dran, und im Zweifel musste man sich aktiv bemühen, einen Arzt anrufen, ein Impfzentrum anrufen. Das verändert sich ja nun, die Impfzentren gehen mehr und mehr dazu über, ohne Termine Impfungen möglich zu machen, was an vielen Orten schon erfolgreich gelungen ist.

Das geht übrigens in Kooperation mit Arztpraxen. Es muss also gar nicht immer nur die Stadt, das Rathaus oder das Kreishaus sein, das das organisiert, sondern wenn ein Verein - ein Sportverein, ein Kulturverein, ein Heimatverein, ein Schützenverein - sagt, dass er eine Impfaktion machen möchte, dann kann er mit einem Arzt vor Ort kooperieren, der die Impfdosen dann über die Apotheke bestellen kann. So kann man gemeinsam sehr niedrigschwellige Impfaktionen im ganzen Land machen, und da gibt es auch schon viele gute Ideen.

Was das Infektionsschutzgesetz angeht, so haben wir schon mit den letzten zwei oder drei Änderungen der Infektions- und Bevölkerungsschutzgesetze zur Inzidenz die Frage der Impfquote und der Krankenhauseinweisungen und der Belastung der Hospitalisierung mit hinzugefügt. Diese Dinge sind im Gesetzestext also schon als auch zu beachtende Parameter und mit Fortschreiten der Impfkampagne zusätzlich zu beachtende Parameter mit abgebildet. Wichtig ist dabei aber das „zusätzlich“; denn wenn die Inzidenz hoch ist, dann ist immer auch die Belastung in den Intensivstationen hoch. Dieser Automatismus gilt so einfach nicht mehr, aber natürlich ist eine Inzidenz von 500 oder 800 in einer Bevölkerung, in der ein großer Teil doppelt geimpft und geschützt ist, für den noch nicht geimpften Teil dann auch eine enorme Belastung und kann auch zu einer Belastung des Gesundheitswesens werden, wenn die Zahl zu groß ist. Das bringt uns wieder zurück zur Impfquote: Je mehr Menschen geimpft sind, desto besser können wir auch mit höheren Inzidenzen umgehen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, wie sieht der Plan der Bundesregierung bei einer möglichen vierten Welle aus? Könnte da im Herbst auch wieder ein Lockdown drohen?

BK’in Merkel: Wir tun natürlich alles, um das zu verhindern. Dazu gehört, dass wir ganz klar sagen: Auch bei hohen Impfquoten sollte man weiter die AHA-Regeln und das Lüften einhalten. Auch das Testen sollte seine Bedeutung behalten. Wir brauchen gerade in den Schulen mit Sicherheit im Herbst auch weiter das Testen und die Vorsichtsmaßnahmen. Wir sind jetzt noch einmal dabei, uns mit den Lüftungsanlagen zu beschäftigen und da möglichst niederschwellige Förderprogramme auf den Weg zu bringen. Die Pandemie ist aber nicht vorbei - trotz des Impfens und obwohl vieles einfacher ist, obwohl wir nicht so schnell zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommen, ist die Pandemie nicht vorbei.

Jetzt kommt ein weiterer Punkt in den Blick. Wir haben ja immer auch gefragt: Was können die Gesundheitsämter an Nachverfolgung leisten? Bei den geringen Fallzahlen, wie wir sie jetzt haben, können die Gesundheitsämter das Infektionsgeschehen natürlich noch relativ gut nachvollziehen. Wenn die Fallzahlen sehr hoch wären, dann wäre natürlich auch die Gefahr, dass man einschneidendere Maßnahmen ergreifen muss, hoch; denn von alleine ist das dann nicht mehr zu stoppen. Da möchten wir möglichst nicht hinkommen.

Deshalb: AHA-Regeln, Lüften und Testen weiter auf der Tagesordnung behalten und am besten eben impfen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eben selbst davon gesprochen, dass das Impfen auf Dauer auch vor Beschränkungen schützen kann. Aktuell hören wir, dass die Inzidenz allein nicht mehr das Maß aller Dinge sein soll. Trotzdem schwebt über den Köpfen der Bundesbürger nach wie vor eine Bundesnotbremse, die sich ausschließlich auf die Inzidenzen als auslösendes Faktum bezieht. Ganz simple und offene Frage: Wann hört die Bundesregierung damit auf, sich unter Verweis auf Corona in das Leben und die Freiheitsrechte der Menschen derart einzumischen?

Eine Zusatzfrage: Wie lange ist es noch weiter zu rechtfertigen, dass Impfverweigerer auf Steuerzahlerkosten einen Gratistest erhalten, um in die Kneipe zu gehen?

BK’in Merkel: Erstens. Die Inzidenz bleibt nach wie vor eine wichtige Größe, weil aus ihr je nach Impfstand wiederum folgt, wann man zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommt. Da würde die Zahl 100 aber nicht mehr dieselbe Bedeutung haben wie zu der Zeit, als wir das Impfen noch nicht hatten. Man kann durch das Impfen heute also mit höheren Inzidenzen leben, ohne dass das Gesundheitssystem überfordert wird. Wenn ich weiß, wie die jeweilige Variante wirkt, kann ich aus der Inzidenz in jedem Falle ableiten, was das bedeutet. Insofern ist die Inzidenz nie die alleinige Größe gewesen. Unser Gradmesser war und bleibt, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Da haben wir jetzt mehr Freiheiten, da wir eben einen hohen Prozentsatz - und möglichst noch steigenden Prozentsatz - an Geimpften haben.

Die Einschränkung von Freiheitsrechten muss ja jedes Mal sehr gut abgewogen werden geben das Leben und zum Beispiel auch gegen Long-COVID-Einschränkungen - Jens Spahn hat eben davon gesprochen. Wir wünschen uns natürlich so wenig wie möglich davon zu machen. Wir glauben aber zum Beispiel, dass das Verlangen des Tragens einer Maske, das Abstandhalten, das Lüften und das Testen sehr niederschwellige Eingriffe sind, für die wir sehr stark werben, damit andere Eingriffe in die Freiheitsrechte nicht passieren müssen.

Wenn Sie sich einmal anschauen, was jetzt in den Niederlanden passiert ist, wo sehr schnell geöffnet wurde - der Ministerpräsident hat gestern ja auch gesagt, dass man zu schnell geöffnet hat - und wo das Parlament jetzt zusammenkommen muss, dann sehen Sie, dass ab einer bestimmten Zahl von Fällen der Anstieg eben doch wieder so ungebremst ist, dass das dann auch Auswirkungen auf die Gesundheit vieler hat. Jens Spahn hat es gesagt: Wir haben eine ganze Gruppe von Menschen, die wir noch nicht impfen können, und diese Menschen haben in den vergangenen Monaten viel Rücksicht genommen. Deshalb müssen wir als Politiker immer an alle denken.

Die Pandemie ist nicht vorbei, wir können nicht so tun, als gäbe es sie nicht mehr. Wir können uns jetzt aber glücklicherweise sehr viel mehr Freiheiten ermöglichen.

BM Spahn: Wenn ich das vielleicht nur kurz ergänzen darf: Die Bundesnotbremse ist am 30. Juni ausgelaufen. Da gibt es jetzt also keinen Automatismus mehr beziehungsweise das ist nicht mehr in Kraft. Natürlich ist die Inzidenz immer noch ein Parameter, aber mit dem berühmten § 28c des Infektionsschutzgesetzes haben wir für Geimpfte und Genesene ja auch jetzt schon weitreichende Ausnahmen von Beschränkungen. Das ist auch richtig, und es ist auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit, dass ich Kontaktbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen für jemanden, der geimpft ist, so nicht mehr machen muss und auch nicht mehr machen kann. Das bleibt ja so.

Damit ist schon auch klar: Bei der Frage, welche Beschränkungen es gibt, wird die Antwort immer zugunsten desjenigen ausfallen, der geimpft oder genesen ist und damit geschützt ist, schon allein wegen der Verhältnismäßigkeit. Wer sich heute nicht impfen lässt, darf sich morgen also nicht beschweren, wenn er nicht zur Party eingeladen wird. Das ist dann eine individuelle Entscheidung. Das ist der eine Parameter. Die Diskussion verstehe ich ja gut; auch ich habe sozusagen intuitiv den Reflex zu sagen: Wenn sich alle haben impfen lassen können, dann kann man doch die Maßnahmen zur Normalität zurückfahren. Aber wir können eben noch nicht alle impfen - die Kinder und Jugendlichen sind angesprochen worden.

Der zweite Aspekt ist - das ist mir als Bundesminister für Gesundheit sehr wichtig, und diesen Aspekt haben wir seit Beginn der Pandemie -, dass wir eine Überlastung des Gesundheitswesen vermeiden. Gerade in den Modellen, die uns hier vorgestellt worden sind - die sind ja auch bekannt -, ist sehr deutlich geworden, dass, wenn die Impfquote nicht hoch genug ist, es zumindest noch einmal zu einer sehr starken Belastung kommen kann.

Deswegen sage ich noch einmal: Wir haben es jetzt in der Hand, in diesen Tagen und Wochen. Ja, die Inzidenz ist niedrig, und viele haben das Gefühl, es läuft gerade gut. Das stimmt. Aber die Frage, ob es gut bleibt und wie gut es im Herbst und Winter wird, entscheiden wir jetzt durch das Impfen. Deswegen kommen wir immer wieder dahin zurück: Das ist der Schlüssel, der den entscheidenden Unterschied macht und der es möglich macht, mit Basismaßnahmen - AHA+L - ansonsten gut durch den Winter zu kommen. Wichtig ist dafür aber eine hohe Impfquote.

Zusatz: Die zweite Frage ist nicht beantwortet worden - die Frage, warum Impfverweigerer die Gratisimpfung ablehnen dürfen, aber weiterhin Gratistests auf Steuerzahlerkosten bekommen.

BM Spahn: Aus meiner Einschätzung kann man darüber in einer späteren Phase der Pandemie beziehungsweise der Entwicklung des Jahres - noch sind wir ja in der Phase des Überzeugens und in der Phase, in der für alle ein Impfangebot gemacht wird - sicherlich darüber nachdenken. Frankreich hat ja gerade entschieden, dass der PCR-Test dort für die Nichtgeimpften, die den Test brauchen, um an bestimmten Dingen teilnehmen zu können, kostenpflichtig wird. Für Deutschland sehe ich das jetzt noch nicht. Ich will aber auch nicht ausschließen, dass man einmal in diese Situation hineinkommt. Noch sind wir da aber nicht; dafür müssen wir erst einmal noch viel mehr das Impfangebot gemacht haben - auch niedrigschwellig gemacht haben. Im Dreiklang „geimpft, genesen, getestet“ sollte das, finde ich, jetzt noch eine Zeit lang parallel so einfach und niedrigschwellig laufen. Ich will aber nicht ausschließen, dass der Punkt kommt, an dem man auch darüber nachdenkt.

BK’in Merkel: Muss man da ja immer abwägen. Wir haben ganze Gruppen, die heute noch nicht geimpft werden können. Das sind zum einen die Kinder in den Schulen. Da wird man natürlich das kostenlose Testen beibehalten. Wir haben auch Menschen, bei denen es Gründe dafür gibt, dass sie sich nicht impfen lassen können. Wir wollen jetzt ja ein möglichst hohes Maß an Sicherheit erreichen. Ich schließe auch nicht aus, dass man darüber in einigen Monaten anders redet, aber im Augenblick haben wir gesagt: Wir wollen keine Impfpflicht, sondern wir werben für das Impfen. Insofern muss man bei Maßnahmen, die eine indirekte Impfpflicht sind, natürlich auch gut überlegen. Die nächsten Wochen gelten aber erst einmal dem Werben, so wie der Bundesgesundheitsminister das gesagt hat - und dann diskutieren wir weiter.

Eines muss ich noch einmal sagen: Wir haben jetzt ja doch eine Vielzahl von Varianten oder Mutationen. Wir müssen immer im Kopf haben: Bei riesengroßen Zahlen von Fällen ist die Gefahr, dass das Virus eine noch aggressivere Variante entwickelt, nicht zu unterschätzen. Noch wirken die Impfstoffe, und ich möchte auch, dass das so bleibt. Die Wirkung ist bei Delta aber schon etwas geringer. Wir müssen da jetzt wirklich achtsam sein und dürfen nicht zu viele Fälle produzieren; denn sonst steigt die Gefahr. Das gilt allerdings für alle Länder der Welt, denn die Varianten kommen bis jetzt ja nicht aus Deutschland, sondern sie kommen aus anderen Ländern zu uns.

StS Seibert: Vielen Dank!

BK’in Merkel: Danke schön!