staatsbesuch des generalsekretaers des zentralkomitees der kpdsu vom 12. bis 15. juni 1989

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der generalsekretaer des zentralkomitees der
kommunistischen partei der sowjetunion und vorsitzende
des obersten sowjets der union der sozialistischen
sowjetrepubliken, michail sergejewitsch gorbatschow,
stattete vom 12. bis 15. juni 1989 der bundesrepublik
deutschland einen staatsbesuch ab.

gemeinsame erklaerung

bundeskanzler dr. helmut kohl und der
generalsekretaer des zentralkomitees der kpdsu und
vorsitzende des obersten sowjets der udssr, michail
s. gorbatschow, haben am 13. juni 1989 im
bundeskanzleramt in bonn folgende gemeinsame
erklaerung unterzeichnet:

i.
die bundesrepublik deutschland und die union der
sozialistischen sowjetrepubliken stimmen darin ueberein, dass
die menschheit an der schwelle zum dritten jahrtausend vor
historischen herausforderungen steht. probleme, die von
lebenswichtiger bedeutung fuer alle sind, koennen nur
gemeinsam von allen staaten und voelkern bewaeltigt
werden. das erfordert neues politisches denken.
- der mensch mit seiner wuerde und seinen rechten und
die sorge fuer das ueberleben der menschheit muessen im
mittelpunkt der politik stehen.

- das gewaltige potential an schoepferischen kraeften und
faehigkeiten des menschen und der modernen
gesellschaft muss fuer die sicherung des friedens und des
wohlstands aller laender und voelker nutzbar gemacht
werden.

- jeder krieg, ob nuklear oder konventionell, muss
verhindert, konflikte in verschiedenen regionen der erde
beigelegt und der friede erhalten und gestaltet
werden.

- das recht aller voelker und staaten, ihr schicksal frei zu
bestimmen und ihre beziehungen zueinander auf der
grundlage des voelkerrechts souveraen zu gestalten, muss
sichergestellt werden. der vorrang des voelkerrechts in
der inneren und internationalen politik muss gewaehrleistet
werden.

- die erkenntnisse moderner wirtschaft, wissenschaft und
technik bieten ungeahnte moeglichkeiten, die allen
menschen zugute kommen sollen. risiken und chancen, die
sich hieraus ergeben, verlangen gemeinsame antworten.
es ist daher wichtig, die zusammenarbeit auf allen diesen
gebieten auszuweiten, handelshemmnisse jeglicher art
weiter abzubauen, neue formen des zusammenwirkens
zu suchen und zum beiderseitigen vorteil dynamisch zu
nutzen.

- die natuerliche umwelt muss im interesse dieser und
kuenftiger generationen durch entschlossenes handeln
gerettet, hunger und armut in der welt muessen ueberwunden
werden.

- neue bedrohungen, einschliesslich seuchen und
internationaler terrorismus, muessen energisch bekaempft
werden.

beide seiten sind entschlossen, ihrer sich aus dieser
einsicht ergebenden verantwortung gerecht zu werden.
fortbestehende unterschiede in den wertvorstellungen und in
den politischen und gesellschaftlichen ordnungen bilden
kein hindernis fuer zukunftsgestaltende politik ueber
systemgrenzen hinweg.

ii.
bei der gestaltung einer friedlichen zukunft kommt europa
eine herausragende rolle zu. trotz jahrzehntelanger
trennung des kontinents ist das bewusstsein der europaeischen
identitaet und gemeinsamkeit lebendig geblieben und
wird zunehmend staerker. diese entwicklung muss gefoerdert
werden.
die bundesrepublik deutschland und die sowjetunion
betrachten es als vorrangige aufgabe ihrer politik, an die
geschichtlich gewachsenen europaeischen traditionen
anzuknuepfen und so zur ueberwindung der trennung europas
beizutragen. sie sind entschlossen, gemeinsam an
vorstellungen zu arbeiten, wie dieses ziel durch den aufbau
eines europas des friedens und der zusammenarbeit - einer
europaeischen friedensordnung oder des gemeinsamen
europaeischen hauses - in dem auch die usa und kanada
ihren platz haben, erreicht werden kann. die ksze-schlussakte
von helsinki in allen ihren teilen und die
abschlussdokumente von madrid und wien bestimmen den kurs
zur verwirklichung dieses zieles.
europa, das am meisten unter zwei weltkriegen gelitten hat,
muss der welt ein beispiel fuer stabilen frieden, gute
nachbarschaft und eine konstruktive zusammenarbeit geben,
welche die leistungsfaehigkeiten aller staaten, ungeachtet
unterschiedlicher gesellschaftssysteme, zum
gemeinsamen wohl zusammenfuehrt. die europaeischen staaten
koennen und sollen ohne furcht voreinander und in
friedlichem wettbewerb miteinander leben.
bauelemente des europas des friedens und der
zusammenarbeit muessen sein:

- die uneingeschraenkte achtung der integritaet und der
sicherheit jedes staates. jeder hat das recht, das eigene
politische und soziale system frei zu waehlen. die
uneingeschraenkte achtung der grundsaetze und normen des
voelkerrechts, insbesondere achtung des
selbstbestimmungsrechts der voelker.

- die energische fortsetzung des prozesses der abruestung
und ruestungskontrolle. im atomzeitalter muessen die
anstrengungen nicht nur darauf gerichtet sein, krieg zu
verhindern, sondern auch den frieden zu gestalten und
sicherer zu machen.

- der dichte, alle sowohl traditionellen als auch neuen
themen der bilateralen und multilateralen beziehungen
umfassende dialog, einschliesslich regelmaessiger
begegnungen auf hoechster politischer ebene.

- die verwirklichung der menschenrechte und die
foerderung des austausches von menschen und ideen. dazu
gehoeren der ausbau der staedtepartnerschaften, der
verkehrs- und nachrichtenverbindungen, der kulturellen
kontakte, des reise- und sportverkehrs, die foerderung
des sprachunterrichts als auch eine wohlwollende
behandlung humanitaerer fragen einschliesslich der
familienzusammenfuehrung und reisen in das ausland.

- der ausbau von direkten kontakten zwischen der jugend
und die verpflichtung der nachwachsenden generationen
auf eine friedliche zukunft.

- die umfassende wirtschaftliche zusammenarbeit zum
gegenseitigen vorteil, die auch neue formen der
kooperation einschliesst. die gemeinsame erklaerung
zwischen der europaeischen gemeinschaft und dem rat fuer
gegenseitige wirtschaftshilfe vom 25. juni 1988 und die
normalisierung der beziehungen zwischen der europaeischen
gemeinschaft und den europaeischen mitgliedstaaten des
rates fuer gegenseitige wirtschaftshilfe sowie der
begonnene politische dialog zwischen der sowjetunion und den
zwoelf mitgliedstaaten der europaeischen gemeinschaft
eroeffnen neue perspektiven fuer eine gesamteuropaeische
entwicklung in diese richtung.

- der stufenweise aufbau gesamteuropaeischer
zusammenarbeit in verschiedenen bereichen, insbesondere
des verkehrswesens, der energiewirtschaft, des
gesundheitswesens, der information und kommunikation.

- die intensive oekologische zusammenarbeit und die
ausnutzung von neuen technologien, die im interesse der
menschen insbesondere die entstehung von
grenzueberschreitenden gefahren verhindert.

- die achtung und pflege der geschichtlich gewachsenen
kulturen der voelker europas. diese kulturelle vielfalt
ist einer der grossen schaetze des kontinents. nationale
minderheiten in europa mit ihrer kultur sind teil
dieses reichtums. ihren berechtigten interessen gebuehrt
schutz.

die bundesrepublik deutschland und die sowjetunion
fordern alle teilnehmerstaaten der ksze zur mitarbeit an der
kuenftigen architektur europas auf.

iii.
die bundesrepublik deutschland und die sowjetunion
erklaeren, dass man eigene sicherheit nicht auf kosten der
sicherheit anderer gewaehrleisten darf. sie verfolgen deshalb
das ziel, durch konstruktive, zukunftsgewandte politik die
ursachen fuer spannung und misstrauen zu beseitigen, so dass
das heute noch gegebene gefuehl der bedrohung schritt
um schritt von einem zustand gegenseitigen vertrauens
abgeloest werden kann.
beide seiten erkennen an, dass jedem staat, unabhaengig
von seiner groesse und seiner weltanschaulichen orientierung,
legitime sicherheitsinteressen zustehen. sie verurteilen
das streben nach militaerischer ueberlegenheit. krieg darf
kein mittel der politik mehr sein. die sicherheitspolitik
und streitkraefteplanung duerfen nur der verminderung und
beseitigung der kriegsgefahr und der sicherung des
friedens mit weniger waffen dienen. das schliesst ein
wettruesten aus.
beide seiten streben an, durch verbindliche vereinbarungen
unter wirksamer internationaler kontrolle bestehende
asymmetrien zu beseitigen und die militaerischen potentiale
auf ein stabiles gleichgewicht auf niedrigerem niveau zu
vermindern, das zur verteidigung, aber nicht zum angriff
ausreicht. beide seiten halten es insbesondere fuer erforderlich,
die faehigkeit der streitkraefte zum ueberraschungsangriff
und zur raumgreifenden offensive auszuschliessen.
die bundesrepublik deutschland und die sowjetunion treten
ein fuer

- eine 50prozentige reduzierung der strategischen
nuklearen offensivwaffen der usa und der sowjetunion,

- einvernehmliche amerikanisch-sowjetische loesungen bei
den nuklear- und weltraumverhandlungen, dies gilt auch
fuer die einhaltung des abm-vertrages,

- die herstellung eines stabilen und sicheren
gleichgewichts der konventionellen streitkraefte auf
niedrigerem niveau sowie fuer die vereinbarung von weiteren
vertrauens- und sicherheitsbildenden massnahmen in ganz
europa,

- ein weltweites, umfassendes und wirksam nachpruefbares
verbot chemischer waffen zum fruehestmoeglichen
zeitpunkt,

- die vereinbarung eines zuverlaessig verifizierbaren
nuklearen teststopps im rahmen der genfer
abruestungskonferenz zum fruehestmoeglichen zeitpunkt. bei
den laufenden gespraechen zwischen den usa und der
sowjetunion ist ein schrittweises herangehen an dieses
ziel wuenschenswert,

- die schaffung weiterer vertrauensbildender massnahmen,
mehr transparenz der militaerischen potentiale und der
militaerhaushalte sowie wirksame internationale
mechanismen des krisenmanagements, auch fuer krisen ausserhalb
europas.

iv.
die bundesrepublik deutschland und die sowjetunion sind
sich angesichts der europaeischen geschichte und der lage
europas in der welt sowie angesichts des gewichts, das
jede seite in ihrem buendnis hat, bewusst, dass eine positive
entwicklung ihres verhaeltnisses zueinander fuer die lage in
europa und fuer das west-ost-verhaeltnis insgesamt zentrale
bedeutung hat. in dem wunsch, ein verhaeltnis guter und
verlaesslicher nachbarschaft dauerhaft zu begruenden, wollen
sie an die guten traditionen ihrer jahrhundertelangen
geschichte anknuepfen. ihr gemeinsames ziel besteht darin,
die fruchtbare zusammenarbeit fortzusetzen,
weiterzuentwickeln und zu vertiefen und ihr eine neue qualitaet
zu verleihen.
der moskauer vertrag vom 12. august 1970 bleibt die
grundlage fuer das verhaeltnis beider staaten. beide seiten
werden die in diesem vertrag und anderen abkommen
angelegten moeglichkeiten voll ausschoepfen.
sie haben beschlossen, die vertraglichen grundlagen der
beziehungen und die partnerschaftliche zusammenarbeit in
allen bereichen auf der grundlage des vertrauens, der
gleichberechtigung und des beiderseitigen vorteils
konsequent weiterauszubauen.
berlin (west) nimmt an der entwicklung der
zusammenarbeit unter strikter einhaltung und voller anwendung
des viermaechte-abkommens vom 3. september 1971 teil.

v.
die bundesrepublik deutschland und die sowjetunion
sind entschlossen, ihre beziehungen im vertrauen in die
langfristige berechenbarkeit der beiderseitigen politik
auf allen gebieten weiterzuentwickeln. sie wollen der
aufwaertsbewegung ihrer beziehungen stabilitaet und dauer
verleihen.
diese politik beruecksichtigt die beiderseitigen vertrags- und
buendnisverpflichtungen, sie richtet sich gegen niemanden.
sie entspricht dem tiefen und langgehegten wunsch der
voelker, mit verstaendigung und versoehnung die wunden der
vergangenheit zu heilen und gemeinsam eine bessere
zukunft zu bauen.
bonn, den 13. juni 1989
helmut kohl michail gorbatschow