Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Schöne an freiheitlichen Debatten ist, dass jeder über das spricht, was er für das Land für wichtig hält. Dies hier ist unsere vierte Haushaltsdebatte in diesem Jahr. Das hat natürlich damit zu tun, dass wir für 2018 lange keinen Haushalt hatten und dass wir jetzt zeitgerecht den Haushalt für 2019 beschließen – in einem Umfeld, in dem wir nach wie vor, im neunten Jahr in Folge, Wirtschaftswachstum haben. Wir haben über 45 Millionen Erwerbstätige, einen ausgeglichenen Haushalt und im vergangenen Jahr zum ersten Mal das von uns lange erarbeitete Ziel erreicht, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Unsere Investitionsquote kann sich sehen lassen, und unser Schuldenstand wird bald wieder die Maastricht-Kriterien erfüllen.

Ich will hier nur im Kurzformat sagen, was diese Bundesregierung der Großen Koalition bereits auf den Weg gebracht hat – die vielen Einzeletats, die hier debattiert werden, stellen das ja ausführlicher dar –: Wir haben Familien entlastet, wir haben die kalte Progression bekämpft, wir haben Mittel für den sozialen Wohnungsbau ausgereicht, wir haben das Baukindergeld eingeführt, wir haben einen Wohnungsgipfel durchgeführt, auf dem wir uns mit den eigentlich wichtigen Fragen neben dem Geld beschäftigen, nämlich mit der Verfügbarkeit von Bauland und der Beschleunigung von Bauvorhaben, und wir haben im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Brückenteilzeit und das Gute-Kita-Gesetz wichtige Weichen gestellt.

Ich will hier nur ganz kurz auch darauf hinweisen, dass die Bundesfrauenministerin gestern auf ein Phänomen aufmerksam gemacht hat, das uns alle umtreiben muss, nämlich auf Gewalt gegen Frauen in unserem Land. Es ist richtig, dass wir hier auch im Bundeshaushalt einen Akzent setzen, um etwas dagegen zu tun, und auch die Länder und Kommunen ermutigen, hier mehr zu machen.

Wir haben die Allianz für Pflege und ein weiteres Pflegestärkungsgesetz auf den Weg gebracht, und wir haben wesentliche Weichenstellungen im Rentensystem vorgenommen: Festhalten am Rentenniveau bis 2025, Verbesserung der Erwerbsunfähigkeitsrente, Verbesserung der Mütterrente. Im Weiterbildungsbereich haben wir im Blick auf die Digitalisierung Weichen gestellt, wir haben die Exzellenzinitiative für Forschung und Sonderausschreibungen für erneuerbare Energien auf den Weg gebracht und die Sammelklagemöglichkeit – gerade im Blick auf VW – eingeführt. Mit Blick auf die Dieselfragen haben wir das Bundes-Immissionsschutzgesetz verändert, um mehr Rechtsklarheit zu bekommen, und wir haben eine Vielzahl von Gesetzen im Zusammenhang mit der Steuerung und Ordnung von Flüchtlingen und Migration verabschiedet.

Daneben haben wir drei wichtige Kommissionen auf den Weg gebracht, von denen eine, die Kommission zum Strukturwandel in den Braunkohlegebieten, jetzt in die entscheidende Phase kommt. Deshalb will ich noch einmal deutlich machen, dass es uns hier darum geht, den Klimawandel auf der einen Seite und die Zukunft der Menschen auf der anderen Seite in Einklang zu bringen. Es geht nicht darum, als Erstes irgendwelche Ausstiegsdaten zu beschließen, sondern darum, den Menschen Hoffnung und Zukunft zu geben und den Strukturwandel wirklich vorzubereiten, um ihnen dann die Sicherheit zu geben und zu sagen: Ja, auch wir werden unseren Beitrag für den Klimawandel leisten.

Wir werden die Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland und die Rentenkommission haben, die uns besonders wichtig sind, und wir werden noch vor Weihnachten ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschließen.

All das sind Dinge, die von größter Wichtigkeit sind.

Ich möchte mich heute aber auf zwei Punkte konzentrieren. Das sind auf jeden Fall sehr große Herausforderungen im Zusammenhang mit unserer Zukunft.

Die Erste ist technologiegetrieben, nämlich die Digitalisierung. Die Digitalisierung wird unser Leben in allen Bereichen tiefgreifend und qualitativ verändern.

Wir haben in der vergangenen Woche eine zweitägige Klausurtagung durchgeführt. Die Struktur der Bundesregierung entspricht in dieser Legislaturperiode den Aufgaben und den Notwendigkeiten, und ich bin sehr froh, dass sich auch im Parlament entsprechende Kommissionen finden, die sich mit dem digitalen Wandel beschäftigen.

Die Zeit drängt. Wir stehen in einem wahnsinnigen globalen Wettbewerb, und wir stehen vor der Herausforderung, diesen Wettbewerb so zu gestalten, dass er uns auch im 70. Jahr der Sozialen Marktwirtschaft die Chance gibt, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht die Technik den Menschen beherrscht. Das ist die große Aufgabe und die große Überschrift, unter der das alles stattfindet.

Da geht es natürlich als Erstes – das wird viel diskutiert – um die Infrastruktur. Die ist in unserem Land nach wie vor noch unzureichend, aber ich glaube, wir sind jetzt auf einem guten Weg. Wir haben im Parlament ausführlich die Ausschreibungen für die neueste Technologie, die 5G-Frequenzen, und deren Versteigerung diskutiert. Hier stehen wir natürlich in einem Spannungsfeld zwischen politischen Vorgaben und Investitionsmöglichkeiten derer, die investieren wollen.

Aber genauso wichtig ist natürlich, dass wir eine Versorgung der Haushalte mit ausreichendem 4G-Standard bekommen. Hierzu hat jetzt der Bundesinfrastrukturminister Andi Scheuer die richtigen Förderbedingungen noch mal weiterentwickelt, damit es unbürokratischer gehen kann. Wir werden Ende 2019 98 Prozent der Haushalte angeschlossen haben und Ende 2020 99 Prozent der Haushalte.

Aber wie wir alle wissen und täglich erleben, reicht uns das natürlich nicht aus. Zu Hause ein Angebot von breitem Internet zu haben, ist gut und richtig – wir machen jetzt auch Sonderausschreibungen für Krankenhäuser, Gewerbegebiete, Schulen, auch richtig –, aber wir wollen natürlich flächendeckendes Internet. Genau daran wird gearbeitet. Insbesondere im Zusammenhang mit der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" werden wir dann das, was gerade auch für die ländlichen Regionen und was für die Landwirtschaftsministerin wichtig ist, in den Blick nehmen und dazu Lösungen finden.

Neben der Infrastruktur geht es jetzt darum, dass der Staat auch auf die digitale Herausforderung reagiert. Deshalb werden wir jetzt das Onlinezugangsgesetz, über das wir ja bereits in der vergangenen Legislaturperiode entschieden haben, mit Leben erfüllen und das Bürgerportal auch Realität werden lassen. Das ist eine wichtige, – ich würde sagen: –, eine zukunftsentscheidende Aufgabe, die mehr als vieles andere eine enge Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen erfordert.

Wir sind ein föderales Land. Bei uns geht das nicht so einfach. Ich habe gestern den dänischen Kollegen getroffen, Lars Rasmussen, der mir erklärt hat, dass Dänemark das alles schon vor Jahren mit seinen Kommunen gemacht hat. Wir als föderales Gebilde tun uns da sehr schwer. Das Wichtigste, das wir jetzt erst mal mit den Ländern erreichen müssen, ist ein für den Bürger akzeptabler Zugang zu diesem Portal, der nicht so kompliziert ist, dass ihn keiner nutzt. Dann geht es darum, dass wir über 500 Funktionen haben, die die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Staat abarbeiten. All die müssen jetzt digitalisiert werden.

Ich spreche darüber so ausführlich, weil dabei eine wesentliche Sache zu beachten ist, und zwar dass wir vom Bürger her denken und nicht unsere Projekte so durchsetzen, wie wir das gewöhnt sind. Wir sind im normalen klassischen Denken gewohnt, ein Projekt zu planen, das gesamte Projekt dann schrittweise umzusetzen, während im digitalen Zeitalter eine völlig andere Art der Herangehensweise da ist und die Anwendungen Schritt für Schritt eingeführt werden müssen. Dieses richtige Denken beim Umsetzen des Bürgerportals wird sehr wichtig sein.

Wir werden erste Funktionen, nämlich die des Bundes – das sind über 100 –, sehr schnell einführen. Wir werden dann mit den Ländern die anderen 400 Funktionen durchsetzen, sodass wir Ende 2022 wirklich den vollkommenen und kompletten Zugang – von Fahrzeuganmeldung über Elterngeldbeantragung, Steuererklärung, Gesundheitsakten und vielen, vielen anderen Dingen – digital schaffen. Das ist notwendig. Das ist kein Nerd-Projekt, wie man vielleicht sagen könnte, denn wenn die Bürgerinnen und Bürger diesen Zugang nicht bekommen, werden wir im digitalen Zeitalter nicht bestehen. Deshalb muss der Staat hier Vorbild sein. So viel zu Infrastruktur und digitalem Staat.

Zweitens: Die Strategie für die künstliche Intelligenz ist die Voraussetzung dafür, dass wir Industrie 4.0 wirklich erfolgreich in Deutschland realisieren können. Wir werden hier zwölf Zentren bilden, die sich vernetzen. Wir werden 100 neue Professuren einführen. Wir werden mit Frankreich eng kooperieren. Und wir werden unsere Agentur für Disruptive Innovationen ganz stark auf diese Dinge ausrichten. Ich glaube, dass es hier Möglichkeiten gibt, aufzuholen, Möglichkeiten, den Anschluss zu finden. Wir sind in einzelnen Punkten spitze, aber wir sind nicht überall Weltklasse. Unser Anspruch muss sein: Wir wollen wieder überall Weltklasse werden. Das gilt für Deutschland, und das gilt für Europa.

Wir haben uns mit Blick auf die Frage: "Wie dient die ganze Sache dem Menschen?" mit der Frage beschäftigt: "Wie ist das mit der Ethik der Daten?" Es gibt heute zwei Modelle: das der USA, wo die Daten der Bürgerinnen und Bürger sehr stark im privaten Sektor verankert sind und dem privaten Sektor gehören, und das Chinas, wo der Staat Zugriff auf alle Daten hat. Das sind nicht die Modelle der Sozialen Marktwirtschaft, und deshalb müssen wir eines finden, bei dem der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht und der Staat Leitplanken setzt. Genau das ist die Aufgabe der Datenethikkommission, die uns im nächsten Jahr die Ergebnisse ihrer Arbeit vorstellen wird.

Das ist im Kurzumriss die große digitale Herausforderung, bei der wir natürlich der Wirtschaft zur Seite stehen und sie unterstützen können, aber mit der sich natürlich auch die gesamte Wirtschaft verändern wird. Industrie 4.0 bedeutet nicht nur Veränderung im Produzieren; Industrie 4.0 bedeutet erhebliche Veränderungen in der Arbeit.

Gerade bei der Weiterbildung – diese Frage stellt sich im Übrigen auch für die Beamtinnen und Beamten und Angestellten des Bundes – werden wir breitflächig unterstützen. Wir haben bereits jetzt ein Gesetz auf den Weg gebracht, nach dem es möglich ist, dass Unternehmen, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung Fortbildung und Qualifizierung brauchen, erhebliche Zuschüsse – je kleiner, desto höher der Prozentsatz der Zuschüsse – für diese neue Aufgabe der Weiterbildung bekommen.

Die zweite Herausforderung ist für uns politisch, glaube ich, mindestens so relevant, aber eigentlich noch relevanter. Da geht es um die Frage, wie unsere gesellschaftlichen Vorstellungen, unsere deutschen Vorstellungen, für die Zukunft der globalen Welt aussehen.

Ich glaube, die vergangenen Tage haben uns noch einmal in Erinnerung gerufen, in welchem historischen Kontext wir stehen. Wir stehen ja alle immer in der Zeit. Am Freitag der vorvergangenen Woche, vor zwölf Tagen, fand hier die Gedenkstunde zur Ausrufung der Republik vor 100 Jahren durch Philipp Scheidemann statt. Der Bundespräsident hat anlässlich dieses Jahrestages eine Rede gehalten, aus der ich mir erlaube zu zitieren:

"Wir müssen wieder kämpfen für den Zusammenhalt in Europa, und wir müssen streiten für eine internationale Ordnung, die angefochten wird – selbst von unseren Partnern. Denn dieser europäischen Einigung und dieser internationalen Ordnung haben wir es zu verdanken, dass wir Deutschen heute wieder ein Volk sind, das wirtschaftlich und politisch zu Kräften gekommen ist; das in seiner großen Mehrheit weltoffen und europäisch leben will; das von vielen in der Welt geachtet, ja sogar geschätzt wird."

Einen Tag später war ich von dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eingeladen, an der Gedenkstätte in Compiègne des 100. Jahrestages der Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen Deutschland und Frankreich zu gedenken. Das war bewegend. Noch kein Bundeskanzler war an diesem Platz gewesen. Und bis zuletzt, bis zum 10. November 2018, war dort ein Gedenkstein. Auf dieser Gedenkplatte standen Worte vom "verbrecherischen Stolz des deutschen Reiches". Diese Gedenkplakette ist jetzt ersetzt worden, und aus dem "verbrecherischen Stolz" wurde "die deutsch-französische Freundschaft".

Symbolischer kann man vielleicht das, was sich da in den letzten Jahrzehnten getan hat, nicht beschreiben. Als vor vier Tagen Emmanuel Macron anlässlich des Volkstrauertages hier im Deutschen Bundestag seine Rede gehalten und die Worte gefunden hat: "Wenn Sie die Worte aus Frankreich nicht verstehen, denken Sie daran, dass Frankreich Sie liebt", war das mehr als berührend. Es ist aber vor allen Dingen für uns eine Verpflichtung.

Ich sage das in Bezug darauf, dass uns doch in diesen Tagen immer und immer wieder die bohrende Frage leitet: Was haben wir aus der Geschichte gelernt, und haben wir aus der Geschichte gelernt?

Ich glaube, dass diese Frage nicht nur wegen hundertster Jahrestage interessant ist, sondern weil wir immer weniger Zeitzeugen gerade auch des schrecklichen und von Deutschland verursachten Zweiten Weltkriegs unter uns haben werden, weil wir alleine sein werden, die Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind, und weil wir zeigen müssen, ob wir etwas gelernt haben.

Warum war es möglich, dass Deutschland diesen Zweiten Weltkrieg entfacht hat? Mit dazu beigetragen haben – das sage ich, ohne damit die deutsche Schuld zu relativieren – zwei Dinge: Der Waffenstillstand war keine Aussöhnung, und es ist nicht gelungen, was sich der amerikanische Präsident Wilson vorgestellt hatte: eine internationale, multilaterale Ordnung zu schaffen in Form eines funktionierenden Völkerbundes. Die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg waren glücklicherweise die, eine multilaterale Ordnung zu schaffen. Dafür steht die Gründung der Vereinten Nationen. Diese Vereinten Nationen sind die Lehre aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, nie wieder gegeneinander zu arbeiten, sondern, wo immer möglich, zu versuchen, gemeinsam als Weltgemeinschaft die Dinge zu klären.

Als der Kalte Krieg noch nicht alles überschattet hatte, gelang es dann sogar 1948 noch – auch dies ein Jahrestag –, die Charta der Menschenrechte bei den Vereinten Nationen zu verabschieden: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." So heißt es dort sehr ähnlich zu Artikel 1 unseres Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Den allermeisten muss man das hier nicht sagen, aber: Die Vereinten Nationen sind demokratisch legitimiert. Sie sind eine Entscheidung der Weltgemeinschaft. Bei jedem, der beigetreten ist, haben Parlamente – wo auch immer existent – ratifiziert, dass man Mitglied der Vereinten Nationen sein will. Das ist die Grundlage aus unserer Perspektive.

Zug um Zug hat sich ein Geflecht von Organisationen um die und in den Vereinten Nationen herausgebildet, die für uns heute so wichtig sind, die für Millionen Flüchtlinge wichtig sind, wie zum Beispiel das UN-Flüchtlingshilfswerk. Sehr interessant ist die Herausbildung einer Organisation, die erst seit 2016 unter dem Dach der Vereinten Nationen agiert, nämlich der Internationalen Organisation für Migration. Das war nämlich ein intergouvernementales Komitee für die Bewegung – wie es damals hieß – der Migranten aus Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals sind elf Millionen Menschen, Migranten, wie man schon damals sagte, in Europa umhergeirrt, und diese Organisation hat versucht, ihnen wieder eine Heimat zu geben. Sie hat sich dann später beim Ungarn-Aufstand 1956 bewährt. Sie hat bei der Tschechoslowakei 1968 geholfen. Sie hat im Kosovo geholfen und in Timor. Erst seit 2016 ist sie unter der Ägide der Vereinten Nationen. Das war also eine europäische Organisation, die sich mit den Schrecken der europäischen Kriege beschäftigt hat, bevor sie überhaupt internationalisiert wurde.

Deshalb ist die Debatte, die wir nun über den globalen Pakt für Migration für eine geordnete, legale Migration führen, wichtig: In einer Welt, in der wir noch 222 gewaltsam ausgetragene Konflikte haben, in einer Welt, auf der von diesen Konflikten mehr als eine Milliarde Kinder betroffen sind, in einer Welt, wo wir 68,5 Millionen Flüchtlinge haben – 52 Prozent davon Kinder –, spielen diese Organisationen natürlich eine zentrale Rolle. Als wir im Jahre 2015 gemerkt hatten, dass wir uns nicht abkoppeln können von dem Leid der Menschen in der Umgebung Europas, als wir nicht ausreichend gezahlt hatten für die Flüchtlingslager im Libanon und in Jordanien – ich habe das oft dargelegt –, haben wir gespürt, wie wichtig es ist, Flucht, aber auch Migration im Zusammenhang des internationalen Kontextes zu lösen und nicht zu glauben, irgendein Land könnte das allein.

Wenn heute der Eindruck erweckt wird, als wäre all das, was in diesem Pakt für Migration jetzt auftaucht, irgendetwas, über das wir nie gesprochen hätten, dann ist das doch das Gegenteil von richtig. Seit der Frage der Flüchtlinge, der vielen Flüchtlinge, die zu uns kamen, haben wir uns gefragt: "Wie können wir dieses Problem lösen?" und haben dann nicht immer zur Freude aller – das war meine erste Tat – das EU-Türkei-Abkommen verabschiedet. Dieses EU-Türkei-Abkommen hat zum ersten Mal zu einer geregelten Migration geführt, hat Flüchtlingen das Leben gerettet, weil sie sich nicht mehr in die Hände von Schleppern und Schleusern begeben mussten. Danach haben wir eine Zusammenarbeit mit Afrika aufgebaut: die Mission Sophia, die libysche Küstenwache, unsere Kooperation mit Niger als Transitland, wo die Internationale Organisation für Migration (IOM) uns hilft.

Ich war da. Ich war in Niger. Ich habe mir das angeguckt: Die Menschen, die aus Libyen zurückkehren, weil sie unmenschlich behandelt wurden, finden bei der IOM einen Aufenthalt und werden von dort dann wieder zurück in ihre Heimatländer geleitet. Das genau ist es, wie man menschlich mit illegaler Migration umgeht, und genau das ist ein Ansatzpunkt in diesem Pakt, in dem sich Menschen verpflichten, überall mit Menschen vernünftig umzugehen.

Wir haben in diesen Verhandlungen, obwohl wir wissen, dass wir es nur international lösen können, Wert darauf gelegt, zu sagen: Die Souveränität unseres eigenen Landes, unsere Gesetzgebung werden nicht berührt. Aber wir wollen vernünftige Bedingungen überall auf der Welt, weil ansonsten die Menschen natürlich sagen: "Du hast nur wenige Länder, in die du gehen kannst", es versuchen und ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. Deshalb ist es in unserem nationalen Interesse – um es ganz klar zu sagen –, dass die Bedingungen auf der Welt für Flucht auf der einen Seite und Migration auf der anderen Seite, Arbeitsmigration, sich verbessern.

Wir wollen, dass, wenn in Katar Stadien gebaut werden – das war ein deutsches Anliegen, ein Anliegen der deutschen Gewerkschaften –, die dort arbeitenden Bauarbeiter vernünftig behandelt werden, dass sie nicht ausgebeutet werden, dass es nicht Kinderarbeit gibt – und was sonst noch alles auf der Welt ist, von dem wir glücklicherweise überhaupt keine Ahnung haben. Aber wenn wir uns dafür einsetzen, dass es woanders auf der Welt besser wird, dann kann es doch nicht sein, dass wir hinterher sagen: Wir wollen aber nicht mehr mitmachen, wenn wir nicht ganz sicher sind, dass auch die letzte Feinheit geklärt ist.

Dieser Pakt für Migration genauso wie der Pakt für Flüchtlinge ist der richtige Antwortversuch – wir stehen ja am Anfang –, globale Probleme auch international und miteinander zu lösen. Deshalb war es richtig, dass sich die UN-Vollversammlung 2016 auf den Weg gemacht hat, diese zwei Pakte zu verhandeln, und deshalb ist es richtig, jetzt auch dem Pakt für Migration zuzustimmen. Es wird übrigens nichts unterzeichnet, nichts unterschrieben; es ist nicht rechtlich bindend, um das alles auch noch mal gesagt zu haben.

Das soll aber gar keine Ausrede sein. Wir haben rechtlich bindende Vorschriften für den Umgang mit Menschen. Wir haben eine ausgefeilte Verfassungsrechtsprechung. Bei uns bekommen die Menschen eine grundlegende Sicherung. Bei uns bekommen sie einen Zugang zum Gesundheitssystem – alles selbstverständlich. Und wir wollen natürlich, dass dies in viel mehr Ländern der Welt der Fall ist als heute.

Auch die Europäische Union ist, wenn Sie so wollen, ein multilaterales Projekt. Die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zur Aufnahme von Arbeit ist eine der Formen von legaler Migration, wie sie gerade dieser Pakt für Migration beschreibt, und diese Freizügigkeit hat uns Wohlstand gebracht, nicht nur Deutschland, sondern auch anderen Ländern. Diese Freizügigkeit ist eine Errungenschaft der Europäischen Union.

Schauen Sie: Das Schöne an der heutigen Zeit ist, dass es wieder richtige Gegensätze gibt und dass man einfach sagen muss: Da gibt es auch keine Kompromisse. Wenn man zu denen gehört, die glauben, sie könnten alles allein lösen und müssten nur an sich denken: Das ist Nationalismus in reinster Form. Das ist kein Patriotismus, denn Patriotismus ist, im deutschen Interesse auch andere mit einzubeziehen und Win-win-Situationen zu akzeptieren.

Europa ist ein multilaterales Projekt, und diese Europäische Union gilt es zu stärken; das tun wir. Denn in nahezu sechs Monaten werden wir in eine Europawahl ziehen. Deshalb wollen wir die Wirtschafts- und Währungsunion wetterfester machen. Da stehen jetzt, um mal zu etwas anderem zu kommen, die Zeichen günstig, wenn wir die Bankenunion machen, den Europäische Stabilitätsmechanismus zu einem Backstop weiterentwickeln und natürlich auch die Risiken reduzieren; denn es gibt jetzt eine Zusammenarbeit zwischen En Marche! und ALDE, der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa. Insofern werden die Bedenken von Herrn Lindner etwas geringer werden. Das freut uns und hilft uns in unseren Verhandlungen sehr viel. Ansonsten haben wir uns auf ein Euro-Budget geeinigt; das haben Sie vernommen.

Ich möchte jetzt aber zu einem anderen Thema im Hinblick auf Europa sprechen, und das ist die Frage des Austritts Großbritanniens. Wir sind nach wie vor traurig darüber, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt, aber wir akzeptieren und respektieren das natürlich. Das haben wir hier vielmals gesagt. Ich möchte Michel Barnier und seinem Team danken, die in unendlich langen Verhandlungen jetzt das Austrittsabkommen mit Großbritannien finalisieren konnten. Wir haben noch einen Vorbehalt Spaniens, wobei ich nicht genau sagen kann, wie wir dieses Thema lösen werden. Ich hoffe, es wird gelöst bis Sonntag. Und es wird jetzt in diesen Tagen noch an der Erklärung zum zukünftigen Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU gearbeitet. Beide Dokumente müssen bis Sonntag fertig sein, damit wir Sonntag dann das Austrittsabkommen unterzeichnen und mit dieser Akzeptanz auch die Erklärung zum zukünftigen Verhältnis verabschieden können.

Wir wissen auch, wie schwierig die Diskussion in Großbritannien ist. Ich kann aber für die Bundesregierung sagen: Wir stimmen diesem Austrittsvertrag zu. Er ist hart erarbeitet, und er ist deshalb so kompliziert – ein Austritt aus der Europäischen Union ist ja sowieso schon kompliziert –, weil durch das Thema Nordirland und Republik Irland, die ein sozusagen grenzfreies Miteinander haben wollen – das Good Friday Agreement –, eine sehr, sehr schwierig zu lösende Konstellation besteht. Wir haben Wert darauf gelegt – und ich glaube, das ist richtig –, dass Großbritannien nicht einseitig entscheiden kann, wann es den Zustand der Zollunion beendet, sondern dass es mit der EU gemeinsam diesen Zeitpunkt definieren muss und erst danach das zukünftige Verhältnis in Kraft tritt.

Natürlich ist es bei einem solchen Vertrag immer so, dass man auch darauf setzen muss, dass das gut funktioniert. Ich glaube, das kann man; denn wir wollen ja – das ist in unserem elementaren Interesse – auch in Zukunft eine gute Beziehung zu Großbritannien. Im Bereich der Verteidigungszusammenarbeit, im Bereich der Sicherheitszusammenarbeit, aber auch im Bereich vieler internationaler Konferenzen wollen wir gute Freunde und Partner bleiben. Dafür werde ich jedenfalls alles einsetzen und die ganze Bundesregierung auch.

Wir haben eine intensive und vielleicht manchmal auch sehr nervöse Zeit. Im Rückblick auf die 30 Jahre zuvor muss man sagen: Die Welt des Kalten Krieges war in vielen Facetten schrecklich, aber sie war übersichtlich. In den letzten 30 Jahren hat sich eine multilaterale Weltordnung herausgebildet mit verschiedenen Zentren, bei denen nicht klar ist, wie sie miteinander in Zukunft agieren wollen. In einer solchen Situation kommt es auf jedes einzelne Land an. Wir hier sind der Deutsche Bundestag, und ich stehe vor Ihnen als Kanzlerin der Bundesregierung, und wir haben die Aufgabe, dazu beizutragen, dass in dieser Welt des 21. Jahrhunderts – das ist der Ausgangspunkt – jeder eine Chance für seine Entwicklung hat, dass wir Frieden haben. Dabei sollten wir nicht zuerst an uns selbst denken, sondern verstehen, dass deutsches Interesse heißt, immer auch die anderen mitzudenken. Das ist der Erfolg von Europa. Das ist der Erfolg einer multilateralen Welt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.