Globaler Wettbewerb, globale Verantwortung - neue Herausforderungen für die Politik - Rede des Bundespräsidenten in St. Gallen

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Bundespräsident Roman Herzog hielt anläßlich des
27. Management Symposiums am 28. Mai 1997 in St. Gallen folgende Rede:

I.

Meine Damen und Herren,

ich bin sehr gerne nach St. Gallen gekommen und freue mich auf das
anschließende Gespräch mit Ihnen. Ich wüßte kein besseres Forum als das
internationale Management Symposium für Diskussionen darüber, wie wir mit der
Globalisierung umgehen sollen, ohne unseren inneren und äußeren Frieden aufs
Spiel zu setzen, wie wir dafür sorgen sollen, daß sich nicht nur der
Wettbewerb, sondern auch unser Verantwortungsbewußtsein und unsere Werte
globalisieren, welche Voraussetzungen eine – nach innen wie nach außen –
global verantwortliche Politik der Staaten im einzelnen haben sollte.
Schließlich begegnen sich hier fast alle relevanten Kräfte: die verschiedenen
Generationen und Kulturen, Wirtschaft und Wissenschaft, Politik und Medien.

Denn es geht heute mehr als je zuvor um den Dialog, um die richtigen Fragen,
nicht um den Monolog einer allein über die richtigen Antworten verfügenden
Kultur, Wissenschaft, Philosophie oder Werteordnung! Die Probleme der
Globalisierung sind heute mehr als komplex, und sie betreffen alle Länder der
Welt. Es gibt keine Patentrezepte. Deshalb brauchen wir auch differenzierte
Antworten und einen globalen Gedankenaustausch, der die nationalen,
sprachlichen, kulturellen, aber auch die fachlichen Grenzen überschreitet.
Wagenburgmentalität und Abschottung lösen die Probleme nicht, sondern sie
schaffen nur neue. Offenheit und Öffnung sind die Aufgaben der Zeit. Offene
Gesellschaften können die Herausforderungen der Zukunft am besten meistern, ja
ich behaupte sogar: Nur offene Gesellschaften können sie auf die Dauer
meistern.

Das wissen wir nicht erst seit Popper. Denn Globalisierung ist kein neuer,
sondern ein altbekannter Vorgang; nur die Bezeichnung ist neu. Die letzte
Barriere ist mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und mit dem Scheitern von
Staatskonzepten gefallen, die ihr Heil in der Abschottung sahen. Sie sind
schließlich am Wesen der Globalisierung, dem freien Fluß der Informationen,
gescheitert. Was wir Globalisierung nennen, ist insofern die aktuelle
Ausprägung einer Entwicklung, die im Grunde seit Hunderten von Jahren abläuft.
Sie stellt Menschen wie Staaten aus ihrer ursprünglich begrenzten Familien-, Stammes-
und Nationalorientierung in eine umfassende Verantwortung und Abhängigkeit: Jede
einzelne Größe auf dieser Welt hängt von allen anderen ab, beeinflußt aber
auch alle anderen und ist damit zugleich für sie mitverantwortlich.


II.

Was uns verblüfft und beunruhigt, ist also weniger das Phänomen der
Globalisierung selbst. Schon deshalb warne ich vor jeder Dämonisierung. Nicht
alle unsere heutigen Schwierigkeiten sind globalisierungsbedingt. Aber es gibt
tatsächlich eine Reihe von neuen Problemen, die wir infolgedessen nüchtern
analysieren und für die wir Lösungen finden müssen.

Ungewohnt und neu ist heute vor allem die enorme – wissens- und
technikbedingte – Veränderungsgeschwindigkeit der Globalisierung. Am besten
scheint noch die Wirtschaft diesem Tempo gewachsen. Unternehmen können auf der
Suche nach den günstigsten Wettbewerbsbedingungen relativ leicht ihren
Standort wechseln. Damit stellt sich aber eine entscheidende Frage: Welche
weiterreichende Verantwortung wollen oder können weltweit operierende
Unternehmen dann noch gegenüber ihrem jeweiligen Sitzland übernehmen, wenn
nationale Loyalitäten immer weniger Bedeutung haben? Immerhin für einen
Standort, von dessen Infrastruktur die Unternehmen auch dann noch profitieren,
wenn sie ihre Produktions- und Steuersitze längst ins Ausland verlagert haben?

Für die einzelnen Menschen sieht die Sache sehr viel schwieriger aus. Die
meisten von ihnen können ihren Lebensmittelpunkt nicht so ohne weiteres
verlagern. Also wächst bei ihnen das Gefühl der Fremdbestimmung und die Angst
vor Fremdbestimmung und vor neuer Unübersichtlichkeit.

Auch für die nationale Politik wird das Handeln nicht leichter. Denn die
Globalisierung der Wirtschaft führt bei ihr zu einem wachsenden Verlust an
faktischer Autonomie, zu einem Verantwortungsdefizit ersten Ranges. Die
modernen Staaten haben zunehmend nur noch die "Freiheit", Entscheidungen für
oder gegen den Weltmarkt zu treffen. Die Kontrollierbarkeit der Entwicklungen,
die "Zuständigkeit" wandert ab.

Wer entscheidet schließlich noch: der Staat, den wir bisher als den "modernen"
bezeichnet haben, oder weltweit operierende Konzerne? Wer entscheidet: die
demokratisch legitimierten Parlamente oder anonyme, jeden
wirtschaftspolitischen Fehler bestrafende Finanzmärkte? Müssen wir deren oft
vagabundierende Bewegungen ohne Einflußmöglichkeit hinnehmen? Oder gibt es
auch im globalen Zeitalter Entscheidungskriterien jenseits von Angebot und
Nachfrage? Definiert der weltweite Wettbewerb um optimale Standortbedingungen
jetzt allein, was "richtig" ist? Oder können wir unter diesen Voraussetzungen
Legitimität und Wirksamkeit politischer, vor allem wertgebundener
Entscheidungen doch noch erhalten? Und wenn ja, in welchen Bereichen?

Ungewohnt ist auch, daß die alten Industrieländer, vor allem die der
Westeuropäer, weder Initiatoren noch Herren des neuen Geschehens sind. Wie
selbstverständlich wurde bisher angenommen, der Rest der Welt müsse vom
"westlichen Modell" lernen. Wenn die Soziologen sagen, daß die westlichen
Gesellschaften Belehrungskulturen sind, die häufig selbstgefällig andere
kritisieren, während es in Asien überwiegend Lernkulturen gebe, so mögen sie
für die Vergangenheit nicht Unrecht gehabt haben. Ich bezweifle aber, daß das
auch für die Gegenwart gilt und besonders für die überschaubare Zukunft.

Erfassen die Menschen in der "alten Welt" wirklich, was
sich – zum Beispiel – in Asien tut und wie darauf angemessen zu reagieren ist?
Wie stellen wir auch bei uns ein positives Lernklima sicher? Welche
Konsequenzen muß die Bildungspolitik für die Entstehung einer global
orientierten Lernkultur ziehen? Ich sehe weit und breit keine Konsequenzen.
Wie organisieren wir eine friedliche, offene Begegnung der Kulturen?

Die einstigen "Schüler" haben ihre Lektion – so ist mein Eindruck – fast
besser gelernt als wir selbst. Frühere Hilfe- und Kreditempfänger kommen heute
über die Weltmärkte zu uns, und sie fordern ihren Teil am weltweiten
Wohlstand. Und sie fordern ihn nicht nur, sie nehmen ihn sich, indem sie zu
überaus günstigen Konditionen hochwertige Produkte und Dienstleistungen auf
unseren Märkten anbieten, die in ihrer Heimat produziert werden und nicht mehr
bei uns.

Wie reagieren die vormals "reichen" Gesellschaften Westeuropas, aber auch
Nordamerikas, Japans oder Australiens darauf, daß sie sich jetzt vor wachsende
neue, durch die Globalisierung zumindest verschärfte innere Probleme gestellt
sehen? Die Arbeitslosigkeit wächst – freilich nicht in allen diesen Ländern.
Der Sozialstaat gerät in Finanzierungsschwierigkeiten. Die Reallöhne sinken.
Der innere Konsens wird –
möglicherweise zumindest – brüchig. Und das, obwohl in der Welt insgesamt der
Wohlstand steigt – aber eben nicht mehr überwiegend in den "alten"
Industrieländern, auch nicht in allen Entwicklungsländern, sondern vor allem
dort, wo die attraktivsten Bedingungen für eigene und ausländische
In-vestitionen bestehen.

Haben wir dazu eine Alternative? Ich fürchte nein. Wir müssen auf die
veränderte Lage mit neuen Konzepten reagieren, aber wir müssen positiv
reagieren. Denn wir wissen aus Erfahrung genau, was passiert, wenn wir nichts
tun: Jüngstes
Beispiel ist ja gerade das Versagen der sozialistischen Wirtschaftssysteme im
ehemaligen Ostblock. Der Mangel an marktwirtschaftlicher Effizienz, aber auch
an persönlicher Freiheit der Menschen, an Offenheit und Austausch, an der
Fähigkeit, aufeinander zuzugehen, hat sie letztlich scheitern lassen. Aber das
ist eben nicht alles. Der globale Wettbewerb bedrängt auch die gewachsene
Soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in Deutschland entwickelt haben, und er
bedrängt ebenso ähnlich verfaßte Wirtschaftssysteme mit hochentwickelten
sozialen Sicherungsnetzen in Europa.

Immer mehr Experten – und nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und
Amerika –, sind deshalb der Auffassung, daß man im Zeitalter der
Globalisierung zwei, aber nicht alle drei "guten" Dinge haben kann:

– Wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Zusammenhalt, aber keine wirkliche
individuelle Freiheit ;

– Wohlstand und Freiheit, aber auf Kosten der sozialen Solidarität;

– soziale Kohäsion und Freiheit, aber nur bei stagnierendem oder gar
schrumpfendem Wohlstand.

Das mag auf den ersten Blick abstrakt klingen. Aber es entspricht in der
Realität heute schon den Erfahrungen vieler Menschen auf der ganzen Welt. Und
es macht die Frage nur noch wichtiger, was getan werden kann, um alle drei
Ziele – Freiheit, Wohlstand und Solidarität – gleichzeitig zu erreichen, so
schwierig das aus heutiger Sicht auch erscheinen mag. Dafür brauchen wir
global taugliche Lösungen – für die Politik im Innern der Staaten, aber auch
für ihr Verhältnis zueinander.

III.

Im Binnenbereich brauchen wir zunächst einen neuen Konsens auf den Grundlagen
der Sozialen Marktwirtschaft darüber, was das "Soziale" und was das
"Marktmäßige" in unserem Wirtschaftssystem eigentlich sein soll. Konkret: Was
hat der Staat noch zu erledigen, was die Wirtschaft? Wie können wir in unseren
Ländern die Kosten der sozialen Sicherungssysteme und der Sozialpartnerschaft
durch eine entsprechende Produktivität ausgleichen? Wie können wir unsere
Schwächen überwinden und unsere strukturellen Stärken, zum Beispiel in der
beruflichen Bildung, bei den dynamischen kleinen und mittleren
Unternehmen, in den Forschungseinrichtungen und so weiter ausbauen und besser
nutzen? Und vor allem: Wie können wir wieder ausreichende Freiheitsspielräume
für den einzelnen gewährleisten? Das ist keine theoretische Frage.

Denn Freiheit mag unordentlich und komplex sein, voll von Uneinigkeit und
Konflikten. Aber sie fördert Aktivität und Kreativität. Sie ist die notwendige
und hinreichende Bedingung, die besten Kräfte in unseren Gesellschaften
freizusetzen und allen zu besseren Chancen und Möglichkeiten zu verhelfen. Im
Zweifel also für die verantwortete Freiheit. Sie schafft die besten
Voraussetzungen für Wohlstand und für Solidarität gleichermaßen.

Wer national Verantwortung trägt, muß – gerade auch im Interesse der
Schwächeren – darauf achten, daß der Staat die Freiheitsspielräume seiner
Bürger auch nicht durch überzogene Fürsorge einschränkt, sondern sie fördert.
Der Verteilungsrahmen darf nicht überzogen werden; neue Arbeitsplätze werden
ja schließlich nur angeboten, wenn sie sich auch für die Investoren rechnen.
Wer weiterhin in einem Hochlohnland leben will, der muß, soweit ihm dies
möglich, auch die entsprechende Leistung erbringen. Dazu gehört vor allem, daß
das genutzt wird, was rohstoffarme Länder als letztlich einziges Volksvermögen
besitzen: das Wissen in den Köpfen. Das ist eine Frage der geistigen Freiheit.

Hierfür die Voraussetzungen zu schaffen ist zunächst die zentrale
Herausforderung für die Bildungspolitik. Wie können sich also unsere Schulen
und Hochschulen auf die Globalisierung einstellen? Ich weiß: In St. Gallen mit
seinen vielen ausländischen Studenten und Dozenten ist das kein Problem. In
Deutschland hat die Attraktivität vieler Universitäten leider abgenommen, ist
der Anteil der ausländischen Studenten sogar geschrumpft.

Auch die Unternehmen müssen sich personell internationalisieren und die
Chancen globaler Kooperationsmöglichkeiten nutzen. Wer mit rein national
zusammengesetzten Vorständen Weltmärkte erobern will, wird zumeist Schiffbruch
erleiden. Unternehmer wie Arbeitnehmer brauchen in der globalen Wirtschaft
interkulturelle Kompetenz.

Letztlich stehen wir hier vor der Entscheidung, was künftig Priorität haben
soll: Chancen für mehr Arbeitsplätze im globalen Wettbewerb, auch für die
Schwächeren unter uns, oder Verteidigung überkommener, aber längst
verkrusteter Strukturen und vor allem Besitzansprüche? Erhaltungssubventionen
für die Vergangenheit oder Förderung von Forschung und Entwicklung für die
Zukunft?

Es mag etwas simplifizierend klingen, stimmt aber doch: Ob eine Gesellschaft
"sozial" ist, entscheidet sich im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr
allein am Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit, sondern vor allem – und das
lernen wir in diesen Jahren wieder auf bittere Weise – am
Beschäftigungseffekt. "Sozial" ist im Zeitalter der Globalisierung vor allem,
was mehr Arbeitsmöglichkeiten und mehr Arbeits-plätze schafft. Daran werden
wir uns wieder gewöhnen müssen.

Das bedeutet nicht sozialpolitischen Kahlschlag, weder beim Staat noch bei den
Unternehmen. Deshalb sollte sich gerade auch die Wirtschaft um eine offene
Diskussion über Chancen und Risiken der Globalisierung bemühen, die
dahinterstehenden Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen und nicht jeden
kurzfristigen Vorteil im Verteilungs- und Tarifkampf zu Lasten der
Arbeitnehmer wahrnehmen. Zufriedene, gut ausgebildete, loyale Mitarbeiter sind
für jedes Unternehmen mindestens genauso wichtig wie ausreichendes
Finanzkapital – auch und gerade im globalen Wettbewerb. Wachsen angesichts von
Ängsten in Bevölkerung und Politik protektionistische Verteilungskämpfe, so
gehören ja auch die Unternehmen zu den ersten Verlierern. Die soziale
Verantwortung der Unternehmen darf mit dem globalen Wettbewerb nicht aufhören
– schon in ihrem eigenen Interesse.

Wer übrigens glaubt, der Globalisierung entgehen zu können, indem er sich in
die nationale Ecke zurückzieht, der koppelt sich selber von Fortschritts- und
Zukunftsprozeß ab. Die Weltmärkte sind in Bewegung. Voraussetzungen für
Wohlstand und Zukunftschancen werden neu verteilt. Wer da nicht mitspielt, hat
schon verloren. Hier ist also gegenzuhalten und immer wieder auf die großen
Chancen des globalen Wettbewerbs zu verweisen.

Beispiel Dienstleistungswirtschaft: Hier entsteht mit der
Globalisierung ein riesiger vernetzter Weltmarkt. Auch anspruchsvolle
Dienstleistungen wie komplizierte Softwarelösungen und dergleichen werden rund
um den Globus produziert und gehandelt. Deutschland beschäftigt sich statt
dessen oder mindestens zur gleichen Zeit jahrelang mit so epochalen Problemen
wie einer Verlängerung der Ladenschlußzeiten und bleibt ansonsten in weiten
Bereichen immer noch eine "Dienstleistungswüste". Auch das ist natürlich etwas
übertrieben.

Beispiel Verkehr: Mit der Globalisierung wachsen weltweit die Handelsströme,
entstehen ganz neue Chancen für den Export integrierter Verkehrskonzepte.
Deutschland könnte hier ein enormes Potential einbringen. Im Moment tun wir
uns aber schon noch schwer damit, das Hightechprodukt Magnetschwebebahn mit
einer überzeugenden, gebrauchstauglichen und rentablen Referenzstrecke auf den
Weg zu bringen. Da kann man jahrelang darüber diskutieren. Aber die anderen
verkaufen es.

Beispiel Gentechnologie: Für die Medizin, die Umwelt- und die Landwirtschaft
bieten Bio- und Gentechnologie in einer globalen Weltwirtschaft beeindruckende
Entwicklungs- und Absatzchancen. Hier holt Deutschland langsam auf, hat aber
in den zurückliegenden Jahren durch innere Blockaden viele Möglichkeiten
verpaßt oder zumindest abgebremst. Aber ich füge hinzu, die Tatsache, daß sich
hier eine positive Änderung abzeichnet, hängt mit der sich verändernden
Einstellung in der Gentechnologie zusammen.

Beispiel Energiewirtschaft: Mit der Globalisierung, der weltweiten
Liberalisierung, aber auch mit den globalen Klimaproblemen wachsen die bislang
voneinander abgeschotteten Energiemärkte immer mehr zusammen. Es bieten sich
ganz neue Chancen für die Anbieter moderner, ökologieverträglicher
Spitzenkraftwerkstechnik und integrierter Energiekonzepte. Auch hier haben
leistungsstarke Wettbewerber ihre Chancen bereits genutzt, auch hier muß auch
Deutschland noch nachziehen.

Beispiel Informationstechnik: Die technischen Entwicklungen haben den globalen
Informationsverbund längst Wirklichkeit werden lassen. Auch hier haben potente
Wettbewerber ihre Chancen durch das Angebot globaler "Paketlösungen" bereits
genutzt, während Deutschland erst jetzt zum Mitspieler wird.

Die Beispiele zeigen vor allem: Eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem
globalen Wettbewerb kann auch neue Souveränitätsspielräume für die Staaten
zurückbringen. Je leistungsfähiger, je innovativer eine Volkswirtschaft und
ihre Bürger sind, desto größer sind die Möglichkeiten für neue Arbeitsplätze,
aber auch für die Verwirklichung eigener politischer Überzeugungen und
Vorstellungen, zum Beispiel in der Sozial- und der Umweltpolitik. Entscheidend
ist, daß Politiker und Bürger überall lernen, daß nicht Protektionismus und
Isolierung, sondern Innovation, Öffnung und Beweglichkeit die beste Methode
sind, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Globalisierung ist dann kein
Schicksal, dem wir hilflos ausgeliefert sind, sondern ein Prozeß, den wir auch
von uns aus erfolgreich beeinflussen und gestalten können.


IV.

Trotz oder gerade wegen des globalen Wettbewerbsdrucks und trotz aller
Interessengegensätze gilt: Weil wir wechselseitig voneinander abhängig sind –
ökonomisch wie ökologisch, die "jungen" wie die "alten" Industrieländer, Nord
und Süd, Ost und West – müssen wir auch in der internationalen Politik mehr
globale Abstimmung und Rücksichtnahme praktizieren – im eigenen wie im
gemeinsamen Interesse. Abschottung, nationale Alleingänge, unabgestimmtes
Vorgehen rechnen sich in einer interdependenten globalen Weltwirtschaft meist
weder für die Wirtschaft noch für die Politik. Sie bestrafen letztlich den,
der aus dem gemeinsamen Verbund ausschert. Also: internationale Kooperation,
aber nicht als Abwehrkartell gegen die zunächst bedrängenden Folgen der
Globalisierung, sondern als Instrument für freien Welthandel und Wohlstand.
Insofern müssen wir unsere internationalen Abstimmungsmechanismen und
-prozeduren, einschließlich der unserer internationalen Organisationen, immer
wieder überprüfen, ob sie noch ausreichen, um den Anforderungen einer
globalen, interdependenten Welt in Wirtschaft und Politik gerecht zu werden.

Ohnehin greifen wir zu kurz, wenn wir die Globalisierungsdiskussion auf
technische Innovationen beschränken. Wir brauchen auch institutionelle
Innovationen in der Politik, national wie international. Unsere politischen
Institutionen müssen den Wandel fördern, nicht hemmen, sie müssen die
Übernahme weltweiter Verantwortung unterstützen, nicht bremsen, sie müssen
globales Denken und Handeln belohnen, nicht bestrafen. Außerdem sind neue
Frühwarnsysteme erforderlich. Nur mit ihnen sind wir in der Lage,
überraschende neue Tendenzen wechselseitig wahrzunehmen und politisch
rechtzeitig zu berücksichtigen.

Auch der Weltfrieden kann sicherer werden, wenn sich die Erkenntnis der
wechselseitigen Abhängigkeit hinreichend verbreitet. Denn nichts kann die
eigenen Chancen jedes Landes im globalen Wettbewerb nachhaltiger zerstören als
unfriedliches oder gar kriegerisches Verhalten gegenüber den Nachbarstaaten.
Die Unternehmer wissen das. Den Politikern kann man es nicht oft genug sagen.
In dieser potentiell friedensstiftenden Wirkung liegt für mich – weit über die
wirtschaftlichen Wohlstandseffekte hinaus – der allergrößte Wert der
wirtschaftlichen Globalisierung.

Ich bin zuversichtlich, daß dieser Prozeß auch in der Politik schon
Fortschritte macht. Schauen Sie sich die zahlreichen Beispiele regionaler,
geographisch wie inhaltlich immer umfassenderer Kooperation an: Die EU in
Europa; ASEAN in Asien; die Nordamerikanische Freihandelszone und Mercosur in
den beiden Amerikas; zwischen Europa und Afrika die Zusammenarbeit
EU/Mittelmeeranrainer; die APEC zwischen Asien und Amerika; ASEM zwischen
Europa und Asien, um nur einige zu nennen.

Nebenbei – und das sage ich an die Adresse aller Zögerer und Zauderer in
Europa: Deshalb gibt es auch zur Fortsetzung des europäischen
Einigungsprozesses keine Alternative. Auch Europa wird den weltweiten
politischen wie wirtschaftlichen Globalisierungsprozeß nur bestehen, wenn es
in seinem eigenen Integrationsprozeß mutig weiter fortschreitet.

Fast alle diese Beispiele haben ihren Ausgangspunkt in einer einzigen
Erkenntnis: Gemeinsame ökonomische Abhängigkeit und umfassender Austausch –
auch im ideellen Bereich – bringen allen Beteiligten Vorteile. Handel ist kein
Nullsummenspiel. Der Vorteil des anderen ist auch mein Vorteil; sein Schaden
kann auch mein Schaden sein. Erfolgreicher wirtschaftlicher Austausch und
Handel bedürfen zur Absicherung der politischen Abstimmung und Integration.
Die Offenhaltung der Märkte und die Pflege der bilateralen wie der
multilateralen Handelsbeziehungen sind längst vom Stiefkind zum Wunschkind der
Außenpolitik geworden. Umgekehrt fördert wechselseitige wirtschaftliche
Abhängigkeit den politischen Ausgleich. Globaler Handel und Wettbewerb nützen
nicht nur der Wirtschaft und den Finanzmärkten, sondern sie dienen auch dem
Frieden in aller Welt.


V.

Globalisierung der Märkte, wechselseitige wirtschaftliche und politische
Abhängigkeit der Staaten, globale Verantwortung in der Politik – kann das ohne
eine gewisse Globalisierung der Werte und Überzeugungen funktionieren?
Immerhin: In Zeiten großer Umwälzungen neigen die Menschen verständlicherweise
dazu, sich auf ihre jeweils eigenen ethischen Wurzeln zurückzuziehen. Manche
befürchten deshalb als Gegenstrom zur wirtschaftlichen Globalisierung sogar
eine ethische Differenzierung und Abschottung, ja einen globalen Kulturkampf.
Müssen wir befürchten, daß diese Szenarien Wirklichkeit werden? Ich meine:
Nein!

Zwar wächst angesichts der wachsenden Globalisierung aller Lebensbereiche
überall in der Welt der Wunsch nach "Heimat" und lokalen Bezügen. Die Vielfalt
der menschlichen Kulturen muß deshalb auch im Globalisierungsprozeß erhalten
bleiben. Ein tragfähiges Zukunftskonzept braucht zugleich Weltoffenheit wie
lokale Orientierung und Differenzierung.

Hier können die neuen Entwicklungen der Informationstechnik gerade auch die
regionalen und lokalen Kreise stärken. Denken Sie nur an die Möglichkeiten des
Internet oder des lokalen Rundfunks und Fernsehens. Dabei dürfen wir aber
nicht stehenbleiben. Wir müssen den Bürgern wieder glaubwürdig das Gefühl
geben, ihre lokalen und regionalen Angelegenheiten differenziert und nach
eigenständigen Werten
entscheiden zu können. Sie wissen, was ich meine: Subsidiarität – ein wenig
plastisches Wort für eine lebensnotwendige Sache.

Auf der anderen Seite findet sich in den Lehren der verschiedenen Kulturen,
Philosophien und Religionen der Welt trotz aller Differenzen durchaus auch ein
gemeinsamer Bestand von Kernwerten, den wir mobilisieren müssen. Dieser
Wertekanon mag im Augenblick noch schwer zu fassen sein, und er bietet auch
sicher keine direkten Lösungen für die zahlreichen großen Probleme der Welt.
Er kann auch die zentralen Mechanismen und Institutionen zur Konfliktlösung
und -vermeidung nicht ersetzen, so schön das wäre. Globale Werte, eine globale
Ethik können aber zu einer besseren, friedlicheren, gewaltfreieren Ordnung der
Welt beitragen. Voraussetzung: Sie sind langfristig für alle vorteilhaft,
indem sie Frieden und Freiheit, Wohlstand und Zusammenhalt gleichermaßen
fördern.

Die Kristallisationspunkte dieser weltweiten Ethik sind heute, wie gesagt,
noch schwer zu fassen. Aber es ist von vitaler Bedeutung, sich um sie zu
bemühen, und es gibt Ansatzpunkte dafür, vor allem die – auch von mir –
vielzitierte "Goldene Regel", die seit Jahrtausenden in vielen religiösen und
ethischen Traditionen der Menschheit zu finden ist, hat sich – in schwierigen
Menschenrechtsdebatten – bewährt: "Was du selbst nicht wünschst, das tue auch
nicht anderen Menschen an", hat Konfuzius im 6. Jahrhundert vor Christus
gelehrt. Positiv gewendet wird ihr Inhalt noch klarer: "Was du willst, das man
dir tu', das füg' auch anderen zu."

Schon dieser Satz kann – unabhängig vom kulturellen oder religiösen
Hintergrund – eine Norm für das menschliche Zusammenleben generell sein: für
Familien und Gemeinschaften, für Staaten und Nationen, für Religionen und
Rassen. Sie verpflichtet auch im globalen Wettbewerb – im eigenen Interesse –
zu guter Nachbarschaft, zur ehrlichen Mitberücksichtigung der Interessen des
anderen, sowohl in der Politik wie in der
Wirtschaft! Schon Adam Smith – übrigens im Hauptberuf Moralphilosoph und nicht
Ökonom – ist stets davon ausgegangen, daß die Menschen im Wettbewerb zwar
durchaus ihre egoistischen Eigeninteressen verfolgen, zugleich aber auch die
zentralen Belange der Gemeinschaft mitlösen.

Es kann nicht darum gehen, daß sich die verschiedenen Kulturen und Religionen
der Welt in ihren Grundüberzeugungen relativieren, etwa zugunsten einer
künstlichen, oberflächlichen Einheitsphilosophie. Aber es kommt darauf an, im
Konsens nach den Grundlagen für ein partnerschaftliches Verhalten der Menschen
wie der Nationen, das heißt nach der ethischen Grundorientierung für
verantwortete Weltpolitik und Weltwirtschaft zu suchen.

Was vor uns liegt, ist also die Chance des wechselseitigen
Voneinander-Lernens, auch des Lernens aus Fehlern der anderen. Wenn uns das
gelingt, können wir im globalen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen
Rahmen zur Entstehung einer lernenden Weltgesellschaft beitragen.