27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar 1999

  • Bundesregierung | Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

"Die Zukunft der Erinnerung"

Was Menschen anderen Menschen an Leid und Grausamkeiten zufügen können, ist tief in das individuelle wie in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Der heutige Tag, der auf die Befreiung von Auschwitz hinweist, ist bleibende Erinnerung daran.

Aber die vergangenen Monate haben doch auch wieder gezeigt, daß wir – worauf ich oft hingewiesen habe – die bleibende Form dieses Erinnerns noch nicht gefunden haben.

Wieder ist eine Debatte darüber entstanden, in welcher Form wir uns redlich an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern sollten, ja sogar auch wieder darüber, ob es – fünfzig Jahre nach dem Ende des Grauens – überhaupt noch notwendig sei, daß wir uns immer wieder von neuem selbst mit diesem Teil unserer Geschichte konfrontieren.

Ich werde sogleich noch ein paar Worte zu den ernsthafteren Teilen der ganzen Debatte sagen. Vorweg aber das eine: Wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnerns erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglich ablassen. Das hat noch nicht einmal etwas mit Nationalsozialismus und Holocaust zu tun, sondern es ergibt sich aus zwei ganz einfachen, fast möchte ich sagen banalen Erfahrungen:

Erstens: Ohne gründliches Wissen um seine Geschichte kann auf die Dauer kein Volk bestehen. Das war in den jüngstvergangenen Jahrzehnten zwar nicht unbestritten. Aber diese Zeit ist, wenn ich recht sehe, vorbei. So frei und so souverän ist überhaupt kein Volk, daß es ohne Wissen um seine Vergangenheit bestehen könnte.

Zweitens: Wenn ein Volk aber versucht, in und mit seiner Geschichte zu leben, dann ist es gut beraten, in und mit seiner ganzen Geschichte zu leben, und nicht nur mit ihren guten und erfreulichen Teilen. Ich habe es schon des öfteren gesagt und wiederhole es hier bewußt: Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Nationalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung auszublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektueller Feigheit, und Feigheit ist das letzte, was ich von meinem Volk erleben möchte. Das hat für mich auch nichts damit zu tun, ob uns andere immer wieder an unsere Geschichte erinnern, ja nicht einmal damit, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht sie das tun. Unserer Geschichte haben wir uns ohne Rücksicht darauf zu stellen, was andere aus ihr machen, und übrigens auch ohne Rücksicht darauf, was andere aus ihrer eigenen Geschichte machen. Aufrechnungen und Hinweise auf die Defizite anderer lenken nur von der Sache ab. Und wenn ich mich unserer Geschichte zu stellen versuche, versuche ich das auch nicht in Schande, sondern in Würde und Redlichkeit.

Aber wir leben in einer Zeit des Generationenwechsels, in einer Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur Erinnerung an Mitgeteiltes, und in einer solchen Zeit ist es unerläßlich, daß man sich der Formen des Erinnerns noch einmal in allem Ernst vergewissert. Und deshalb war es gut, daß die Debatte stattgefunden hat, die sich mit den Namen Walser und Bubis verbindet. Es ist ohnehin immer gut, wenn sich Positionen klären und wenn nicht unausgesprochen bleibt, was viele Menschen – so oder so – denken. Aber diese Debatte hat auch viele Gedanken zutage gefördert, die wir in ihrer Bedeutung erst richtig erkennen werden, wenn sich der unvermeidliche Pulverdampf verzogen haben wird.

Ich will aber auch sagen, was mich an der Debatte gestört hat. Martin Walsers Rede – man mag zu ihr stehen wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das Vergessen plädiert – hat eine wichtige Auseinandersetzung in unserer Öffentlichkeit provoziert, und sollte das wohl auch. Diese Auseinandersetzung hat in der Tat auch stattgefunden, teils in bemerkenswerten Diskussionsbeiträgen von dritter Seite, teils in dem faszinierenden, glücklicherweise dokumentierten Streitgespräch zwischen den beiden Hauptkontrahenten. Daneben gab es aber gewissermaßen business as usual: Schon nach kurzer Zeit fielen Teile der allgemeinen Debatte wieder in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung zurück: als stünden hier die ewigen Verdränger oder gar Leugner, dort die ewigen Beschuldiger, ja Selbstbeschuldiger. Solche Art der Auseinandersetzung ist unsinnig und unfruchtbar. Der Holocaust ist das allerletzte, was wir solchen primitiven Denkschablonen oder – sagen wir es deutlich: – was wir der political correctness überlassen dürfen.

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Was ich hier kritisiere, lag nicht an Ignatz Bubis. Ignatz Bubis legt natürlich immer wieder den Finger in Wunden, die weh tun, und löst damit auch manche heftige Reaktion aus. Aber er hat den Schrecken der Lager am eigenen Leibe erlebt, und er hat seine Angehörigen dort verloren, er hat also jedes Recht, in Fragen unserer Geschichte empfindlich, ja auch einmal leidenschaftlich zu reagieren. Und dennoch: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie gerade er im Ausland für das heutige Deutschland eintritt und wie er auch Ansprüche, die er für ungerecht hält, mit aller Entschiedenheit zurückweist. Viel zu wenige wissen bei uns um die Angriffe, denen er auch dieserhalb ausgesetzt ist. Ich sage es gerade heraus: Ignatz Bubis ist ein deutscher Patriot.

Aber ich will hier nicht über Personen reden, sondern über die hinter uns liegende Debatte. An ihr hat mich noch etwas ganz anderes nachdenklich gestimmt. Wieder einmal hat sie sich fast ausschließlich unter Vätern und Großvätern, unter Müttern und Großmüttern abgespielt, und das, obwohl wir doch wissen, wie ernsthaft sich große Teile unserer Jugend gerade auch mit den Schattenseiten unserer Vergangenheit beschäftigen; es ist ja nur die eine Seite der Realität, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, daß vielleicht ein Viertel dieser Jugend von den damaligen Verbrechen nichts weiß – andersherum gelesen bedeutet das doch auch, daß dann drei Viertel sehr wohl Bescheid wissen, und ich möchte von hier aus gerade jenen Opfern der NS-Zeit meinen Dank sagen, die weder Mühe noch Aufwand noch Schmerz scheuen, um in Gesprächen mit jungen Menschen ihre Geschichte und ihre Erlebnisse weiterzugeben, solange es Alter und Gesundheit eben zulassen.

Dennoch bleibt es wahr: Auch in der jüngsten Debatte haben sich die jungen Menschen kaum hörbar gemacht, und ich frage mich, woran das liegt – denn, wie gesagt, an fehlendem Wissen und fehlendem Interesse kann es nach allem, was ich weiß und beobachte, nicht liegen. Ich stelle nur eine Frage: Liegt es vielleicht daran, daß die ältere Generation – was ihr gewiß niemand verübeln kann – wieder einmal über ihre eigenen Verwicklungen und Verkrampfungen diskutiert hat, nicht aber darüber, was das alles für die jungen Menschen bedeutet und welche Konsequenzen diese aus der Geschichte ziehen soll? Ja liegt es vielleicht daran, daß diese Jugend längst dabei ist, ihr eigenes Verhältnis zu dieser Geschichte zu gewinnen, ohne daß das schon in greifbaren Formeln seinen Ausdruck gefunden hätte?

Wie auch immer: Wenn es so wäre, dann hätten wir darauf mehr zu achten als auf "richtiges" Reden in der Eltern- und Großelterngeneration; denn wie die jungen Menschen, die die Zukunft unseres Volkes bestimmen werden, über die Frage denken, ist heute schon ungleich wichtiger als alle Auseinandersetzungen und Begriffsklärungen zwischen denen, die sich damit nunmehr seit über fünfzig Jahren befassen.

Es geht heute ja nicht mehr so sehr um die Frage, ob, sondern es geht um die Frage, in welcher Weise wir uns erinnern sollen. Die besondere Bedeutung, die diese Fragestellung heute bekommt, entsteht dadurch, daß inzwischen die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Neue Generationen sind herangewachsen, so daß Erinnerung, selbst in der jetzigen Elterngeneration, nur mehr eine vermittelte, keine eigene mehr sein kann. Deswegen fehlt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus heute die zusätzliche Aufladung durch einen Generationenkonflikt, es fehlt ihr auch das Tribunalartige, das sie lange Zeit, vielleicht unvermeidlicherweise, bestimmt hat, und das hat Folgen: Niemand aus der jetzt in die Verantwortung hineinwachsenden Kinder- und Enkelgeneration kann beispielsweise aus der deutschen Vergangenheit heraustreten, indem er die Pose moralischer Überlegenheit annimmt. Niemand kann sich im Nachhinein auf die Seite der Opfer oder der Widerstandskämpfer phantasieren und politische Gegner auf die Seite der Täter stellen. Der Nationalsozialismus ist unser gemeinsames, schreckliches Erbe.

Aber: Mit dem Verschwinden der Generation, aus der viele durch persönliche Schuld, durch Mitläufertum oder durch Wegschauen in das Verbrechen verstrickt waren, wird auch ein neues Hinsehen möglich. Das kann doch auch eine große Hoffnung sein.

Eine Gefahr könnte darin liegen, daß die Erinnerung einfach ausbleibt, daß neue Generationen einfach sagen, das alles gehe sie nichts mehr an und sie wollten deswegen auch nichts mehr davon wissen. Ich halte diese Gefahr allerdings – ich sage das mit allem Nachdruck – für sehr gering.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie gesagt, daß die Kenntnisse über den Nationalsozialismus bei unseren Jugendlichen und jungen Erwachsenen beachtlich sind. Vor allem aber, daß das Interesse, sich weiterhin damit zu beschäftigen, groß ist. Es sind eher einige der Älteren, der 60-70jährigen, die ihre Verdrängungswünsche auf die Jugend projizieren oder sie ihr gar einreden wollen. Das macht mir Mut zu sagen: Ich sehe eher die Chancen. Die jüngeren Leute kennen – ich nenne nur ein paar Beispiele – die Tagebücher von Anne Frank, das Hitler-Buch von Sebastian Haffner, die Tagebücher Viktor Klemperers, sie haben die Holocaust-Serie und "Schindlers Liste" gesehen, sie fahren an die Orte des Schreckens, sie pflegen Gedenkstätten und Gräber, sie arbeiten an Dokumentationsprojekten ihrer Schulen mit, und sie sehen sich die historischen Sendungen im Fernsehen an. Kein anderes Thema hat beim Schülerwettbewerb deutsche Geschichte so viele Einsendungen gehabt wie die Ausschreibungen zum Thema "Alltag im Nationalsozialismus". Keine Frage: Unsere jungen Leute diskutieren und forschen, sie fragen und schauen hin.

Darin liegt die Chance, die Erinnerung wach zu halten. Dazu gehört es dann aber, daß die jüngeren Generationen nicht nur passive Zuhörer der alten bleiben. Ich möchte direkt an diese Jüngeren appellieren: Wir brauchen Sie auch als aktive Debattenteilnehmer. Wir brauchen Ihre Fragen, die wahrscheinlich ganz anders sind als die unseren, wir brauchen Ihre Sichtweisen, Ihre Art der Auseinandersetzung, Ihr Interesse. Und Sie sollten sich in die Diskussionen einmischen! Brechen Sie mit Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten Sprachspiele auf! Wenn das gelingt, hat die Erinnerung eine Zukunft.

Zur Zukunft der Erinnerung gehört aber noch mehr. Zunächst: Wir brauchen Orte der Erinnerung. Dabei denke ich nicht allein an ein zentrales Mahnmal. Darüber soll und wird der Deutsche Bundestag entscheiden. Ich bin froh, daß es eine lange, auf weite Strecken außerordentlich ernsthafte und fruchtbringende Debatte über das Mahnmal gegeben hat. Es muß aber jetzt bald eine tragfähige Entscheidung getroffen werden.

Eines möchte ich aber hinzufügen: Wir Deutschen müssen dieses Mahnmal um unserer selbst willen bauen. Wir bauen es nicht für das Ausland, wir bauen es nicht als Demonstration dauernder Schuld, wir bauen es auch nicht in wohlfeiler, letztlich aber unehrlicher Identifikation mit den Opfern. Es muß das werden, was sein Name sagt: gewiß eine bleibende Erinnerung an die Verbrechen, vor allem aber ein Gedenken an die Opfer und ihr Leid – und ein Mahnmal für die Lebenden.

Wir sollten – über das ganze Land verbreitet – noch mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung haben. Der Nationalsozialismus hat nicht nur in Berlin stattgefunden, oder in Nürnberg oder in München. Überall hat es Szenen des Schreckens gegeben. Überall gab es Schulen, aus denen die jüdischen Kinder entfernt wurden. Überall gab es Geschäfte, die den Besitzern weggenommen wurden. Überall hatte die SA ihre Verhörkeller. Überall gab es Sammelstellen für die Transporte. Wer sich nur ein wenig damit beschäftigt, der kann herausfinden, wie sich das Verbrechen in das Land hineingefressen hat, wie sich das Verbrechen ganz in seiner nächsten Umgebung abgespielt hat.

Auch hier geht es mir nicht um deutsche Selbstbezichtigung. Durch die konkrete Erinnerung an konkreten Orten wird die den späteren Generationen fremder werdende Geschichte als tatsächliche Realität greifbar. Die Menschen sollen es wissen: "Das alles hat sich nicht im Irgendwo einer grauen Vorzeit abgespielt, sondern hier, in Deutschland, in meiner Stadt, in einer Zeit, in der es schon Autos, Telefone und Radios gab, unter Menschen, die nicht sehr viel anders lebten als wir. Die Topographie des Terrors läßt sich im alltäglichen Leben unserer Welt finden."

In der regionalen Aufarbeitung, in der konkreten Suche nach Zeugnissen und Orten liegt übrigens auch eine Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Die Schule hat ihre besonderen Chancen, aber sie hat auch ihre besonderen Probleme; denn der Nationalsozialismus ist kein Unterrichtsgegenstand wie alle anderen, auch kein beliebiges Objekt der Zeitgeschichte. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung historischer Fakten. Wer sich dieser Geschichte stellt, der wird als moralisches Subjekt selbst in Frage gestellt. Der muß sich doch einfach fragen: Wieso haben die Täter so gehandelt, wieso die Mitläufer? Wieso konnten sie sich nicht in ihre Opfer einfühlen? Wie funktioniert Verführung und wie Massensuggestion? Und der wird auch um die Frage nicht herumkommen: Bin ich sicher, daß ich nicht mitgemacht hätte? Wäre ich nicht auch nur Zuschauer geblieben? Hätte ich nicht auch so furchtbare Angst gehabt, daß ich nicht widerstanden hätte?

Die Beschäftigung mit dieser Zeit geht deshalb notwendigerweise mit der Erziehung zu Gewissensbildung und Verantwortung einher. Dabei ist es für die Lehrer und Erzieher gewiß schwierig, die rechte Balance zu halten. Der Nationalsozialismus darf nicht nur als abgeschlossener Lernstoff einer endgültig vergangenen Geschichte behandelt werden. Andererseits darf er aber auch nicht durch platte und leichtfertige Aktualisierungen zur Moraldidaktik herhalten müssen. Das würde nur ein einzigartiges Verbrechen relativieren.

Lernziel – wenn man das überhaupt so nennen kann – wäre nicht nur eine möglichst genaue Kenntnis dessen, was im Dritten Reich geschehen ist, sondern auch so etwas wie eine Einübung in Empathie, das Sich-Hineinfühlen – und in Mißtrauen gegen die großen Vereinfacher. Kenntnis der Verbrechen und Gedenken an die Leiden sind zwei sehr verschiedene Dinge. Aber wir brauchen beides, damit die daraus erwachsenden Lehren tatsächlich in den Köpfen und in den Herzen ankommen. Das sind wirklich anspruchsvolle Ziele, aber mit weniger dürfen wir uns nicht zufriedengeben.

Natürlich hat der Schulunterricht auch seine besonderen Schwierigkeiten. Wie prinzipiell jeder Unterrichtsinhalt auf den prinzipiellen Widerwillen der Schüler stoßen kann – zum Beispiel weil es eine nichtgeliebte Schule ist, die ihn vermittelt – so kann die Ablehnung auch in diesem Fall zu besonders fatalen Blockaden und Verweigerungshaltungen führen. Um der wichtigen Sache willen – und nicht um das Thema herunterzuspielen – muß hier deshalb sehr sorgfältig – und ich sage bewußt auch: wohlüberlegt – vorgegangen werden. Und vor allem: Die Schule darf von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein gelassen werden, nur weil es mehr als je um die nachfolgenden Generationen geht. Lassen Sie uns die Lerninhalte und die Lehrmethoden sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorientiert diskutieren!

Denn daß es jetzt um die jungen Menschen in unserem Land geht, das müßte eigentlich vor aller Augen sein, und darauf sollten wir uns endlich einstellen. Und hier gibt es Dinge zu bedenken, die bisher so eindeutig nicht waren.

Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist nicht schuld an Auschwitz. Aber natürlich: Auch sie ist in besonderem Maße verantwortlich dafür, daß sich so etwas wie Holocaust und Auschwitz nicht und niemals wiederholt.

Und die Mehrheit der heutigen Deutschen ist auch nicht schuld an Selektion, Vertreibung und Völkermord. Aber sie muß ihre besondere Verantwortung dafür fühlen, daß da, wo wir auch nur ein wenig in der Welt mitzureden haben, kein Platz für diese Art von Verbrechen mehr sein darf.

Es trifft zu: Unser Erbe heißt Verantwortung. Aber selbst diese Verantwortung bezieht sich, was die nachfolgenden Generationen betrifft – und hier darf ich  mich als jemand, der bei Kriegsende gerade elf Jahre alt war, schon einschließen – nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft.

Es gibt, um nur ein Beispiel dafür zu nennen, eine falsche Einschätzung des Nationalsozialismus, die gleichzeitig eine gefährliche Verharmlosung darstellt. Ich meine, wir sind heute zu leicht geneigt zu glauben, 1933, am Anfang, hätte schon jeder sehen können, wohin das alles führen mußte. Darüber kann man ja reden, und viele haben es ja damals auch gesehen. Aber damit wird zugleich suggeriert, wir wären heute intellektuell und moralisch gegen eine solche Blindheit gefeit. Und das eben stimmt nicht. Das eine ist eine historische Täuschung, das andere eine fromme Illusion. Wenn wir den Anfängen wehren wollen, müssen wir also unablässig wachsam sein.

Das gilt vor allem für den Antisemitismus. Der mag in Deutschland gegenwärtig nicht größer sein als in anderen Ländern. Aber wenn bei uns immer noch jüdische Gräber geschändet werden, muß uns das mehr in Empörung und Gegenwehr versetzen als andere. Bei uns dürfen Antisemiten eben keinen Fußbreit Raum bekommen.

Aufmerksam sein müssen wir auch auf unseren Sprachgebrauch. Schon antijüdische Redensarten und Witze haben bei uns keinen Platz mehr. Und manche Wörter und Ausdrücke sind eben so beschmutzt, daß wir sie nie mehr unbefangen in den Mund werden nehmen können – denken Sie zum Beispiel nur an den Begriff Selektion.

Aufmerksam sein müssen wir auf alle Anzeichen von Aussonderung, von Diskriminierung anderer wegen Herkunft, Glauben oder aus welchem Grund auch immer.

Und ich will an dieser Stelle ausdrücklich hinzufügen: Wo es um berechtigte Ansprüche auf Entschädigung oder Wiedergutmachung geht, da muß dafür gesorgt werden, daß die Opfer bekommen, was ihnen zusteht. Das hat nichts mit Instrumentalisierung zu tun oder mit sogenannter ewiger Aufrechnung, sondern einzig und allein mit Recht und Gerechtigkeit.

Eines ist klar: Auschwitz hat unser Bild vom Menschen verfinstert. Was einmal historische Wirklichkeit war, gehört für immer zu den furchtbaren Möglichkeiten des Menschen, deren Wiederholung, in welcher Form auch immer, nicht ausgeschlossen werden kann. Die Dämme und Sicherungen müssen also immer wieder aufs neue gebaut werden.

Ivo Andric schrieb in seinem Roman "Die Brücke über die Drina", in ganz anderem Zusammenhang: "Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die Dämme waren weggeräumt. Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, ja auch Mord, stillschweigend zugelassen unter der Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen Auges lebte, konnte sehen, wie sich eine ganze Gesellschaft in einem Tage verwandelte."

Dieser Text handelt vom Jahr 1914! Wer ihn heute liest, erkennt, daß "die Dämme der guten Sitten und der Gesetze" überall und jederzeit nur dann Bestand haben, wenn sie ständig erneuert und gepflegt werden.

Im Laufe der letzten fünfzig Jahre hat sich in Deutschland eine Gesellschaft entwickelt, in der es vieles gibt, von dem man am Anfang nicht einmal zu träumen wagte. Wir haben ganz gewiß nicht die beste aller Welten. Aber wir haben einen Fundus an Toleranz und Freiheit, an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung, an sozialer Sicherheit, an Presse- und Meinungsfreiheit erreicht, von dem wir alle profitieren und über den wir uns freuen können. Jeder einzelne dieser Aspekte unseres Gemeinwesens ist auch eine Antithese zu dem, was der Nationalsozialismus verkündet hat.

So ist Deutschland heute, und so kennt und respektiert man es in der Welt.

An der Verteidigung der Gerechtigkeit, an der Stärke des Rechts, am Wert der Freiheit und am Schutz der Schwachen kann man heute Deutschland erkennen. Das höre ich in vielen Ländern der Welt, die ich besuche, und ist nicht nur eine politische Höflichkeitsfloskel.

Und so soll es auch bleiben. Natürlich müssen wir auch in diesen Fragen den Blick nach vorn richten. Ein Grund zum Ausblenden der Vergangenheit aber ist das nicht. Dazu geben uns die Opfer das Recht nicht und dazu gibt uns vor allem unsere Verantwortung für die Zukunft des Menschen kein Recht.