Zum 40jährigen Bestehen der Katholischen Akademie in Bayern - Ansprache des Bundespräsidenten in München

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Bundespräsident Roman Herzog hielt vor der Katholischen Akademie in Bayern am
28. Februar 1997 in München folgende Ansprache:

I.

Wann immer man sich mit Theologen einläßt, muß man gefaßt sein, mit sehr
grundsätzlichen Themen konfrontiert zu werden. Diese Auseinandersetzung über
Grundfragen unseres Lebens und unserer Gesellschaft war dementsprechend auch
Gegenstand Ihrer Akademiearbeit in den letzten vierzig Jahren gewesen. Es gibt
kein wesentliches Thema, sei es theologisch, philosophisch, ethisch oder
kulturell, das in dieser Akademie nicht entweder angestoßen oder doch
wenigstens hochkarätig diskutiert wurde.

In Ihrem Programm stehen die ethischen Probleme der Gentechnik neben dem
Nachdenken über einen universalen Anspruch der Menschenrechte. Neben der
philosophischen Auseinandersetzung steht die Frage nach den Grundlagen des
Glaubens. Alle Ihre Themen sind aktuell, politisch brisant und sie sind in der
öffentlichen Debatte. Die katholische Akademie in Bayern trieb in den letzten
vierzig Jahren kirchliche Erwachsenenbildungsarbeit auf einem so hohen Niveau,
daß es in unserer kurzatmigen, Gründlichkeit oft bewußt mit Absicht
vermeidenden Zeit eigentlich eine ständige Herausforderung darstellte.

Wenn heute gesagt werden kann, die Katholische Akademie in Bayern hat ihren
christlichen Bildungsauftrag bestens erfüllt, dann hat das natürlich auch
damit zu tun, daß Sie, Herr Henrich, als verantwortlicher Hüter stets klug auf
das Nötige und Wesentliche geachtet haben. Das geistige Gewicht der Akademien
in der Gesellschaft kommt ja eher durch Qualität als durch Quantität zustande
– eine Wahrheit, die in den zurückliegenden Jahren nicht immer und nicht
überall beherzigt wurde. Sie haben die Lücke erkannt, die Ihnen auch in der
Medien- und Informationsgesellschaft Gehör verschafft hat, nämlich die
fundierte, differenzierte, qualifizierte Aussage – und das in erster Linie als
Scharnier zwischen Religion und Politik. Diese Verbindung zwischen Kirche und
Gesellschaft zu vertiefen, das ist und bleibt die unverzichtbare Aufgabe
kirchlicher Akademien in Deutschland.

II.

Wir brauchen diesen Dialog zwischen Kirche und Politik,

möglicherweise heute noch mehr als in der Zeit der Gründung der Akademien.
Für mich steht hier eine Überlegung am Anfang: In einer Demokratie wird
niemandem vorgeschrieben, was er glauben soll und an welche moralischen Werte
er sich halten soll. Das ist das eine. Aber ein demokratischer Rechtsstaat
kommt ohne einen gemeinsamen Schatz von Grundüberzeugungen und Grundwerten
nicht aus. Das ist das andere. In unserer Gesellschaft ist der einzelne Mensch
frei, sich im Rahmen der Gesetze für oder gegen bestimmte Wertvorstellungen zu
entscheiden. Aber die Demokratie braucht trotzdem mehr als nur das Bißchen
staatlich verordneter und garantierter Regeln, die ein sinnvolles
Zusammenleben möglich machen.

Ich will zwei Gründe nennen, warum wir eine Schicht gemeinsam geteilter Werte
und Überzeugungen brauchen:

Erstens: Wir brauchen in unserer Demokratie jeden Tag von neuem den
Grundkonsens über das, was wir unter Solidarität, Einsatz des einzelnen für
die Gemeinschaft verstehen. Wenn berechtigte Interessen gesellschaftlicher
Gruppen gegeneinanderstehen, dann – so sagt man gerne – muß "politisch"
entschieden werden. Aber eine "politische" Entscheidung reflektiert nicht nur
die Mehrheitsverhältnisse, die es gibt. Sie ist – oder sollte es zumindest
sein – eine Entscheidung auf der Grundlage eines breiten, uns alle
verbindenden Werteverständnisses. Sonst wird eine Mehrheitsentscheidung auf
die Dauer nicht geachtet und kein Kompromiß, der das Lebenselement der
Demokratie ist und bei dem jeder zurückstecken muß, eingehalten.

Die Frage nach diesem Grundkonsens stellt sich vor allem dann, wenn sich die
sozioökonomischen Rahmenbedingungen ändern: Wie gestalten wir das Steuersystem
so, daß es den wirtschaftlichen Notwendigkeiten, aber auch unserem Bedürfnis
nach Gerechtigkeit entspricht? Wie sichern wir die Sozialversicherungssysteme
auf Dauer und verhindern dabei, daß einerseits Menschen an den Rand der
Gesellschaft gedrängt werden und andererseits die Beiträge ins Unendliche
wachsen? Denn dann geht das System auch kaputt. Wie sichern wir die Versorgung
der älteren Generation, ohne die jüngere übermäßig zu belasten? Das sind
Fragen, die wir ohne eine halbwegs fundierte Vorstellung von dem, was gerecht,
sozial, zumutbar und nötig ist, gar nicht beantworten können. Wenn wir keine
Schnittmenge erprobter Normen und Werte mehr haben, dann wird auch der für
politische Entscheidungen notwendige Konsens, der Mehrheitsentscheidungen erst
trägt, unmöglich.

Zweitens: Man übersieht zu leicht, daß unsere Gesellschaft nur dann
funktioniert, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder sich freiwillig an
gesellschaftliche Regeln, aber auch an Normen des menschlichen Zusammenlebens
halten, ohne daß das immer gleich auf staatliche Verbote zurückzuführen ist.
Ich will nur daran erinnern, daß Polizei und Strafverfolgung unendlich teuer,
ja unmöglich würden, wenn sich nicht die große Mehrheit unserer Bürger ganz
selbstverständlich an Recht und Gesetz hielte. Und über die Gesetzestreue
hinaus gibt es viele Tugenden und Lebenshaltungen, die eine demokratische
Gesellschaft freier Bürger ebenfalls erst möglich machen: Zivilcourage,
Ehrlichkeit, Leistungsbereitschaft und Gemeinsinn, um nur einige zu nennen.
Diese Tugenden leben davon, daß ihre Gültigkeit allgemein angenommen wird und
werden kann. Orientierungslosigkeit und Werteverlust verführen Menschen zur
Verantwortungslosigkeit und führen zum Verlust der gesamtgesellschaftlichen
Dimension ihres Handelns.

Wo das Vertrauen in Werte und Tugenden unsicher wird, folgt zudem oft eine
Fundamentalkritik an den Institutionen: Kirche und Staat verlieren in dem Maße
an Bedeutung, in dem sie nicht mehr die Kraft oder den Mut besitzen, die für
unser Zusammenleben grundlegenden Regeln zu vermitteln. Fehlt aber das
Vertrauen in die ungeschriebenen Regeln unserer Gemeinschaft und in die sie
vertretenden Institutionen, dann entstehen gesellschaftliche "Gesamtkosten",
die nicht mehr zu beziffern sind.

III.

Wie lassen sich diese unverzichtbaren Lebenshaltungen erhalten und
weitergeben? Hier gibt es für eine freiheitliche Gesellschaft nur wenige
Möglichkeiten: einmal durch die Erziehung in den Familien, dann durch Bildung
in den Schulen und nicht zuletzt durch die Kirchen. Leider ist unübersehbar,
daß diese Institutionen in vielen Fällen ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen oder
erfüllen können. Man fragt sich: Warum? Sie sind viel stärker als sie sich
selbst eingestehen.

Man muß sich allerdings auch die kritische Frage stellen, ob die Kirchen
immer einer ihrer wichtigsten Funktion nachkommen, nämlich Traditionen und
Erfahrungswissen aus zweitausend Jahren Miteinander und Zusammenleben zu
vermitteln. Sie müssen das heute aber in einer immer säkulareren Gesellschaft
tun, und zwar nicht nur den Menschen gegenüber, die ohnedies gläubig sind, die
man in der Kirche gerade noch erreicht, sondern auch den anderen gegenüber,
die zwar nicht unmittelbar gläubig sind, die dafür aber noch offen und
ansprechbar sind. Ich glaube, daß eine moderne Gesellschaft ohne das
Verbindende eines solchen Erfahrungswissens nicht auskommt.

Wenn diese Lebens- und Glaubenserfahrungen in kirchlichen Akademien
aktualisiert, diskutiert und mit Vorstellungen modernen Lebens ins Gespräch
gebracht werden, dann haben wir das, was wir in der offenen Gesellschaft
besonders brauchen: Foren des freien Dialogs, Orte, an denen auch gestritten
werden kann, an denen Standpunkte gefunden werden können. Denn unsere
Gesellschaft braucht den vernünftigen Diskurs, um gemeinsame Standpunkte zu
finden, gerade, wenn in der Medienwelt vieles durch Inszenierungen oder
Traumwelten verdeckt wird.

Wir müssen wieder mehr darüber nachdenken, was unsere Gesellschaft wirklich
zusammenhält. Dafür muß es Orte vertieften Nachdenkens geben. Ein Staat, der
sich weltanschaulich zurücknimmt – das muß unser freiheitlicher Staat auch –,
sollte deshalb Institutionen fördern, die Orientierung bieten können. Ich sehe
hier keinen Widerspruch gegen die weltanschauliche Neutralität des Staates. Es
geht um eine Arbeitsteilung zwischen Kirche und Staat in dieser Gesellschaft.

IV.

Eine der Persönlichkeiten, die von seiten der Kirche stark in die
Gesellschaft hineingewirkt haben, ist der diesjährige Romano Guardini
Preisträger. Herr Biser, Sie haben nicht nur durch Ihre wissenschaftlichen
Veröffentlichungen im Bereich der Fundamentaltheologie und der christlichen
Weltanschauung, nicht nur durch Ihre Vorlesungen und Ihre Tätigkeit als
Seelsorger gewirkt. Ich will aber dem Laudator nicht vorweggreifen; deshalb
beschränke ich mich auf zarteste Andeutungen. Nicht versäumen möchte ich es
aber, der Katholischen Akademie in Bayern für ihre Leistungen in den
vergangenen vierzig Jahren zu danken und ihr für die Zukunft jeden Erfolg zu
wünschen.