Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Heute Abend sind Sie, sind wir alle Teil einer historischen Premiere. Zum ersten Mal richten wir in diesem Schloss ein „Banquet républicain“ aus, ein Republikanisches Bankett. Es erinnert an die Tradition der Festmahle, die Liberale und Demokraten zwischen 1830 und 1848 in vielen französischen Städten und auch im vormärzlichen Deutschland abhielten, um das Verbot politischer Versammlungen zu umgehen.

Man traf sich damals in Festsälen oder Gartenlokalen, die Tische waren in den Farben der Republik geschmückt, Orchester, Kapellen spielten dazu, bei den einen wurde Champagner gereicht, bei anderen auch Schlichteres. Jedenfalls wurden beim gemeinsamen Essen freiheitliche Ideen diskutiert, mancher Redner forderte das allgemeine Wahlrecht, erhob sein Glas auf die Volkssouveränität.

Unser Republikanisches Bankett, liebe Gäste, findet heute Abend in einem Schloss statt, das vor 175 Jahren, als in ganz Europa die Revolution ausbrach, dem preußischen König gehörte. Friedrich Wilhelm IV. und seine Familie wohnten zeitweilig sogar hier in Bellevue, und 1848 wurde eine ganze Kompanie zum Schutz des Schlosses abgestellt – man fürchtete den Aufstand der Menschen, die in den Fabriken und Manufakturen unweit von hier in Moabit arbeiteten, drüben auf der anderen Seite der Spree.

Heute ist dieses Schloss der Amtssitz des Bundespräsidenten, ein Ort, der unsere freiheitlich-demokratische Republik repräsentiert – eine Republik, deren Verfassung liberale und politische Grundrechte garantiert und in der niemand mehr zu einem Bankett einladen muss, um eine politische Versammlung zu tarnen. Es ist mir seit Beginn meiner Amtszeit wichtig, in diesen Räumen auch an die vielen Wegbereiterinnen und Wegbereiter unserer Demokratie zu erinnern, die in der deutschen Geschichte für Aufklärung, Freiheit und Selbstbestimmung eingetreten sind.

Vor einiger Zeit haben wir deshalb zum Beispiel einen Salon im Erdgeschoss nach Rahel Varnhagen benannt. Und Sie alle sind eben hier oben durch den erst vor drei Jahren eingerichteten Robert-Blum-Saal gekommen und haben vielleicht einen Blick auf die Bilder dort geworfen; sie zeigen Ereignisse der deutschen Demokratiegeschichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.

Heute, an diesem Vorabend des 18. März, wollen wir hier in Bellevue gemeinsam an die Frauen und Männer erinnern, die vor 175 Jahren in Berlin auf die Barrikaden gingen und den König dazu brachten, das übermächtige preußische Militär zurückzurufen und seinen Hut vor den Opfern der Gewalt zu ziehen. Und wir wollen an jene erinnern, die damals in den Ländern des Deutschen Bundes und in anderen Staaten Europas aufstanden, um gegen Unfreiheit, Unterdrückung, Armut und Hunger zu kämpfen. Viele von ihnen bezahlten ihren Mut mit dem Leben, viele wurden als „innere Feinde“ verfolgt, ihrer Rechte beraubt, ins Gefängnis gesperrt oder ins Exil getrieben.

Nicht zuletzt wollen wir heute Abend daran erinnern, dass der Kampf für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie schon vor 175 Jahren eine europäische Angelegenheit war. Ich freue mich deshalb ganz besonders, dass auch Freundinnen und Freunde aus den Republiken Frankreich, Österreich und Polen bei uns sind – bienvenue, herzlich willkommen, serdecznie witamy!

Und ich freue mich natürlich, liebe Gäste, dass Sie alle heute hier sind: engagierte Bürgerinnen und Bürger aus vielen Teilen unseres Landes, Repräsentanten der Verfassungsorgane, Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen, Preisträgerinnen und Preisträger meines Geschichtswettbewerbs für die Schulen, Historikerinnen und Journalisten, Schauspielerinnen und Schriftsteller. Was für eine wunderbare republikanische Tischgesellschaft, in Vielfalt geeint! Seien Sie alle ganz herzlich willkommen zu diesem schönen Abend!

„Sie wollten ein Bankett; aber sie werden nicht mal die Krümel davon bekommen“, mit diesen Worten kommentierte Louis-Philippe, der sogenannte Bürgerkönig der Franzosen, das Verbot eines Festessens der liberalen und demokratischen Opposition in Paris.

Aber, nach dem schönen deutschen Sprichwort, Hochmut kommt vor dem Fall! Als seine Regierung wenig später auch das für den Abend des 22. Februar 1848 geplante Bankett untersagte, entzündete sie ein Pulverfass: Studenten, Arbeiter, Handwerker zogen protestierend durch die Straßen, bauten Barrikaden, stürmten am nächsten Morgen das Schloss. Die Revolutionäre zwangen den König zum Abdanken – und riefen die Zweite Französische Republik aus.

Die Nachrichten aus Paris brachten den Kontinent in Bewegung. Überall standen Menschen auf, um für ihre Rechte und für nationale Selbstbestimmung zu kämpfen; überall brachten sie die alten Regime ins Wanken – in den Staaten des Deutschen Bundes, zu dem auch Österreich und Böhmen gehörten, in Italien, Ungarn und in Polen.

Der Völkerfrühling, der damals aufblühte, war der Beginn unserer nationalstaatlichen Demokratien in Europa. Gerade wir Deutsche wissen: Die Idee der Nation wurde später in Teilen Europas auch zur Quelle eines aggressiven Nationalismus, der Überlegenheitswahn, Großmachtstreben, Ausgrenzung, Krieg und Gewalt mit sich brachte. Aber schon vor 175 Jahren gab es in Europa viele Menschen, für die nationale Einheit nicht nur untrennbar mit demokratischer Freiheit im Innern verbunden war, sondern die sich auch für ein Europa einsetzten, in dem freie Nationen friedlich zusammenleben.

Nationale, aber auch europäische Einigkeit in Recht und Freiheit: Ich finde, wir tun gut daran, uns auf diese Ideale des Völkerfrühlings neu zu besinnen. Sie sind es, die uns in Europa bis heute verbinden und ziemlich stark machen!

Im März 1848 wagten Menschen nicht nur hier in Berlin, sondern an vielen Orten des Deutschen Bundes den Aufbruch zur Freiheit – in Baden, in Württemberg, Hessen und Bayern, in Sachsen, im Rheinland; in Karlsruhe, Köln, Leipzig, Offenburg, Heidelberg, Freiburg und Hamburg. In den Städten und auf dem Land, überall versammelten sich Männer und auch Frauen. Studenten, Gesellen und Lehrlinge; Anwälte, Ärzte, Lehrer und Redakteure; Handwerker, Arbeiter, Bauern und Tagelöhner brachten ihre Empörung über Monarchen, Bürokraten oder Fabrikherren zum Ausdruck, protestierten gegen Elend und Obdachlosigkeit, kämpften für große Ideale und manchmal auch nur für das Recht, abgefallene Äste auf dem Boden der fürstlichen Wälder als Brennholz zu sammeln. Überall diskutierte man liberale, demokratische, auch soziale „Märzforderungen“ und stimmte über Petitionen ab – in Berlin nur wenige hundert Meter östlich von hier, in den alten Ausflugslokalen im Tiergarten.

Presse- und Versammlungsfreiheit, unabhängige Gerichte, ein nationales Parlament, das war damals so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner der Oppositionellen. An vielen Orten breitete sich aber auch echte republikanische Begeisterung aus. Der badische Journalist Ernst Elsenhans schrieb: „In den Kammern und Clubs, in Zeitungen und Volksversammlungen, auf den Bierbänken und sogar von den Kanzeln herab ward es verkündet – die neue Botschaft, dass nicht ein einzelner von Gottesgnaden, sondern das Volk souverän oder wie wir Leute sagen: Herr im Hause sei.“

Den vielen Frauen und Männern, die im März 1848 auf Straßen und Plätzen für ihre Rechte eintraten, ihrem Mut und ihrem Freiheitswillen ist es zu verdanken, dass in Frankfurt am Main wenig später das Vorparlament und die deutsche Nationalversammlung zusammentreten konnten – am 18. Mai werden wir in der Paulskirche an dieses Ereignis erinnern dürfen; wir freuen uns darauf. Was für ein Erfolg nach den langen Jahrhunderten „tiefster Erniedrigung“, wie Gustav Struve es formulierte!

Wir wissen, die Revolution scheiterte damals, auf den Barrikaden und in den Parlamenten. Die alten Mächte gewannen bald in ganz Europa wieder die Oberhand; Polizei und Militär gingen mit äußerster Brutalität gegen Demokraten vor; in Dresden, Wien und Rastatt wurden die Achtundvierziger vernichtend geschlagen. Es war das blutige Ende der damaligen Hoffnungen auf die Demokratie. Aber der Geist der Freiheit war in der Welt, und er ließ sich von keinem Obrigkeitsstaat und von keiner Diktatur mehr ersticken.

Im März 1848 war die politische Öffentlichkeit aufgeblüht; Männer und Frauen hatten Klubs und Vereine gegründet, Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben, Flugblätter, Briefe, Lieder, Gedichte geschrieben; viele hatten sich zum ersten Mal getraut, vor größerem Publikum zu sprechen; der Widerstreit der Meinungen, die Lust auf Debatte war entfacht.

Und gerade auch Frauen eroberten sich damals den öffentlichen Raum – und das, obwohl ihnen ihre politischen Rechte weiterhin vorenthalten wurden. Kathinka Zitz-Halein, Malwida von Meysenbug, Louise Aston, Mathilde Anneke, Louise Otto-Peters, sie alle wurden im politischen Leben sichtbar und hörbar, forderten gleiche Rechte und bahnten der Frauenbewegung den Weg.

Ich bin überzeugt: Diese Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger macht die Märzrevolution zu einem der wirklich wichtigen Ereignisse unserer Demokratiegeschichte. Auf den Straßen und in den Parlamenten erwachte damals ein neuer Bürgermut, ein neues demokratisches Selbstbewusstsein. Überall gab es Menschen, die ihre Lage nicht länger als gottgegeben hinnehmen wollten; die mit Leidenschaft für neue Ideen stritten; die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen – für sich, für andere, für das Gemeinwesen.

Und auch wenn sie ihre Ziele damals nicht erreichten: Vergeblich war ihr Kampf nicht. Denn die Ideale der Achtundvierziger lebten weiter – in den Landtagen und später auch im Reichstag; in Vereinen und Verbänden; in der Arbeiter- und der Frauenbewegung; nicht zuletzt im Exil, vor allem in den USA.

Und diese Ideale lebten später wieder auf – in der Novemberrevolution von 1918, in der Weimarer Reichsverfassung und der ersten deutschen Republik; im Widerstand gegen die Nazis; nach der Befreiung 1945 in den demokratischen Parteien in der Westzone und im Bonner Grundgesetz; 1989 in den Friedlichen Revolutionen in der DDR, in Polen, Ungarn, im Baltikum und der Tschechoslowakei.

Vieles von dem, wofür Liberale und Demokraten im März 1848 und in den Monaten danach noch vergeblich stritten und kämpften, gehört heute zum festen Fundament unserer Republik und unserer in Vielfalt geeinten Europäischen Union. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir an diesem Wochenende hier in Berlin ein großes Fest der Demokratie feiern, zu Ehren der Achtundvierziger. Und ich wünsche mir, dass der 18. März auch darüber hinaus einen besonderen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis bekommt, nicht nur in der Hauptstadt, sondern in ganz Deutschland. Unsere Parlamente im Bund und in den Ländern, meine ich, sollten sich erneut damit beschäftigen.

Denn der 18. März ist ein besonderer Tag der deutschen Demokratiegeschichte. An diesem Tag erinnern wir uns auch an die deutschen Jakobiner, die 1793 schon in Mainz die erste Republik auf deutschem Boden errichteten. Und wir erinnern an die erste freie Volkskammerwahl der DDR im Jahr 1990. Der 18. März steht für Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit, er steht für das Herzstück der deutschen Demokratie. Er steht für demokratische Zuversicht – und vielleicht und hoffentlich auch für den Aufbruch in Zeiten des Umbruchs.

Für mich ist der 18. März der Tag des Bürgermuts. Es ist ein Tag, den wir an vielen Orten unseres Landes feiern sollten. Und dem wir gerade jetzt, in dieser Zeit des Krieges und der Veränderungen, mehr Aufmerksamkeit schenken sollten!

Wir erleben seit mehr als einem Jahr, wie die Ukraine, ein souveräner demokratischer Staat in Europa, von Russland mit einem brutalen Angriffskrieg überzogen wird. Und wir erleben seit vielen Jahren, wie Demokratie und Rechtsstaat von antiliberalen Kräften angefeindet und bekämpft werden – weltweit, in Europa und auch bei uns in Deutschland.

Unsere Demokratie muss heute eine wehrhafte Demokratie sein. Sie braucht starke, abwehrbereite Institutionen. Sie braucht kraftvolle Symbole und Menschen, die diese Symbole auch pflegen. Schwarz, Rot und Gold, das sind die historischen Farben unserer Demokratie. Lassen wir nicht zu, dass diese Farben heute von Verächtern der Demokratie missbraucht werden!

Unsere wehrhafte Demokratie braucht aber vor allen Dingen selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger, die Verantwortung übernehmen, die sich in der Gesellschaft und in den demokratischen Institutionen für Gerechtigkeit und ein gutes Miteinander der Verschiedenen einsetzen. Wir, die Bürgerinnen und Bürger, müssen unsere Demokratie verteidigen und jeden Tag immer wieder mit Leben füllen.

Ich bin überzeugt: Es ist die Erinnerung an unsere Demokratiegeschichte, aus der wir jetzt Mut, Kraft und Zuversicht schöpfen können, in Deutschland und hoffentlich in ganz Europa. Auch deshalb freue ich mich, dass wir in zwei Monaten in der Paulskirche an das erste gesamtdeutsche Parlament und seine liberale Verfassung erinnern werden.

1849, als alles schon verloren schien, schrieb der Schriftsteller und Demokrat Arnold Ruge in einem Brief an die Berliner: „Der Wille freier Männer ist unbesiegbar.“ Dass auch der Freiheitswille der Frauen unbesiegbar ist, das führen uns viele, auch die vielen mutigen Iranerinnen, die gegen ihre Entrechtung und Unterdrückung protestieren, jeden Tag, jede Woche vor Augen. Deshalb sagen wir heute: Der Wille freier Menschen ist unbesiegbar. Und davon bin ich nach wie vor überzeugt, allen schrecklichen Niederlagen und Rückschlägen zum Trotz. Es ist dieser Wille zur Freiheit, der unsere Demokratien stark macht, stärker als jede Diktatur.

Heute Abend wollen wir den republikanischen Geist der Märzrevolution ein bisschen wieder aufleben lassen. Hélène Miard-Delacroix und Christopher Clark werden uns später mit einem Toast beehren; Katharina Thalbach wird Louise Otto-Peters zu uns sprechen lassen und Auszüge aus dem „Extrablatt der Freude“ vom 20. März 1848 vortragen; die Capella de la Torre wird Lieder aus dem Vormärz für uns spielen und singen – und wir wollen, nicht zuletzt, gemeinsam essen und trinken und an den Tischen miteinander ins Gespräch kommen.

Zuerst aber wollen wir anstoßen, wie es sich für ein echtes „Banquet républicain“ gehört: Auf unsere Republik! Auf die Demokratie in Europa! Auf Einigkeit in Recht und Freiheit!