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„Sagen Sie
Ist jede Woche Blutwursttag“
„Jeden Dienstag ist Blutwursttag“
„Jeden Dienstag“
„Jeden Dienstag“
Ist jeden Tag Wursttag“
„Jeder zweite Tag ist Wursttag“
„Aber der Dienstag
Ist immer der Blutwursttag“
„Ja“

Lieber Uli, dieser herrlich absurde Dialog aus Thomas Bernhards „Theatermacher“ erinnert mich an unsere zurückliegenden Versuche, uns gemeinsam zum Essen zu verabreden. Immer, wenn uns das gelungen ist, war es – mit Ausnahmen – letzten Endes die allerdings hervorragende Bulette in der Kantine des Deutschen Theaters. Meistens hattest Du erst Minuten vorher die Bühne verlassen, und ich hatte gerade einmal wieder ein Beispiel Deiner großartigen Schauspielkunst genießen dürfen.

Heute ist alles ein bisschen anders. Sie, lieber Herr Matthes – ich werde jetzt dem Anlass entsprechend etwas förmlicher – Sie, lieber Herr Matthes, haben heute ausnahmsweise die kleinere Sprechrolle, und die Bulette kommt heute auch nicht auf den Tisch. Das Publikum ist kleiner, als Sie es gewohnt sind, dafür ist es Ihnen ausnahmslos zugetan: Freunde, Wegbegleiter, Anhänger eines der ganz Großen unter den deutschen Schauspielern, den ich heute auszeichnen darf.

Was Ihr Freund Wolfram Koch als Bruscon in jeder Aufführung des „Theatermachers“ von sich behauptet, das könnte man ebenfalls über Sie sagen:

„Ein gewisses Talent für das Theater
Schon als Kind
Geborener Theatermensch wissen Sie
Theatermacher
Fallensteller schon sehr früh“

Diese Leidenschaft fürs Theater, für das „Fallenstellen“ der Schauspielkunst kennen auch Sie fast von Kindesbeinen an.

Bernhards „Theatermacher“ handelt vom Glanz und von den Abgründen des Theaters, von den Größenfantasien eines Theatermannes, der ein alles umfassendes Stück mit dem Titel „Das Rad der Geschichte“ aufführen will, in dem Caesar und Napoleon auftreten, Lady Churchill, Madame Curie und Metternich – und es handelt von der Demütigung, dieses Welttheaterstück an diesem Abend in der tiefsten Provinz spielen zu müssen: „Absolute Kulturlosigkeit / trostlos / Utzbach …“

Das Anrührende an diesem größenwahnsinnigen Theatermacher ist, dass er – trotz der riesigen Differenz zwischen künstlerischem Anspruch und oft trostloser Wirklichkeit – immer weiterspielen will. Für jeden Abend wird neu geprobt, jeder Abend könnte ein unverwechselbares, unvergessliches Theaterereignis werden, auch in Utzbach, in Gaspoltshofen oder in Ried im Innkreis. Jeder Abend ist eine einmalige Möglichkeit des großen Gelingens.

Allgemeiner gesagt: Die Schauspielkunst ist die Kunst der Einmaligkeit und damit der Vergänglichkeit. Die Schauspielkunst eines jeden Abends lässt die Betrachter mitgehen, mitfiebern, sie erweckt Zuneigung oder Verachtung für ihre Figuren, Mitleid oder Begeisterung, Liebe oder Hass; sie lässt das Leben – lebendig sein.

Und darum ist die Schauspielkunst so flüchtig und so rätselhaft, in jedem Augenblick so faszinierend und so offen bis zum Ende – und manchmal noch über das Ende hinaus: wie das Leben selbst.

Die Leidenschaft des guten Schauspielers – ganz besonders Ihre Leidenschaft und Ihr Können, Herr Matthes – erkennt man an dieser Leidenschaft für jeden Abend: für das Einmalige und Unwiederholbare, indem Sie dieses Stück und diese Rolle an genau diesem Abend so und nicht anders spielen.

Nur so offenbart sich eine entscheidende Dimension des Theaters. Dort sind wir ja unmittelbar dabei, wenn sich das Suchende und Irrende des Lebens zeigt, das verdient Scheiternde und das unverdient Glückende – oder umgekehrt. Das Theater lässt immer neue Situationen lebendig werden, in denen Entscheidungen fällig sind, die zum Guten oder zum Bösen führen können. Jetzt, in diesem Augenblick.

Zwei große Stücke der deutschen Theatergeschichte reflektieren diese unaufhebbare Gegenwartsbezogenheit der Schauspielkunst. Im „Vorspiel auf dem Theater“ in Goethes „Faust“ sagt die Lustige Person, also der Schauspieler, über das Publikum:

„Noch sind sie gleich bereit zu weinen und zu lachen,
Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein;
Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;
Ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Schiller konnte da nicht nachstehen. Im Prolog zu „Wallenstein“ finden sich die bekannten Zeilen:

„Denn schnell und spurlos geht des Mimen Kunst,
Die wunderbare, an dem Sinn vorüber,
Wenn das Gebild des Meißels, der Gesang
Des Dichters nach Jahrtausenden noch leben.
[…]
Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze […]“.

Weil und wenn das so ist, dass die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, dann ist es umso wichtiger, dass wir Sie heute mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnen. Als Dank für das, was Sie an lebendiger Vergegenwärtigung uns bisher auf deutschen Bühnen geschenkt haben.

Ich kann und will nicht alle großen Rollen aufzählen, die Sie gespielt, oder die Stücke, in denen Sie mitgewirkt haben. Sie haben verdiente Preise bekommen: für Ihr Spiel in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ zum Beispiel den Gertrud-Eysoldt-Ring und die Auszeichnung als Schauspieler des Jahres; für Ihren Onkel Wanja wurden Sie ebenfalls zum Schauspieler des Jahres gewählt und bekamen dafür auch den Faust-Theaterpreis. Der Berliner Theaterpreis, der Grimme-Preis, der Bayerische Filmpreis und viele andere kommen dazu.

Das Publikum schätzt und verehrt Sie – aber es ist wohl noch ein bisschen mehr. Sie hätten 2017 wohl nicht gleich dreimal den „Goldenen Vorhang“ gewonnen, wenn das Publikum Sie nicht auch ins Herz geschlossen hätte.

Mir geht es ähnlich – und ich erinnere mich immer noch an einen Auftritt, der für Sie vielleicht keiner der aus Ihrer Sicht großen war, der mir aber ganz besonders nahegegangen ist.

Bei der Veranstaltung „Violins of Hope“ erklangen in der Berliner Philharmonie in einem einzigartigen und in Deutschland einzigen Konzert die Geigen von europäischen Juden, die Opfer des Holocaust geworden sind. Der israelische Geigenbauer Amnon Weinstein aus Tel Aviv hat sie gesucht, gesammelt und restauriert: Geigen, die entrissen, geraubt, aus Transportwaggons geworfen oder in Verstecken zurückgelassen wurden. Bei diesem Konzert am 27. Januar 2015, zum siebzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, haben Sie, lieber Herr Matthes, Texte gelesen, darunter Briefe von Verfolgten, Gefangenen und Gequälten an Angehörige und Freunde, Briefe voller Verzweiflung und doch auch voller Ermutigung an Kinder oder Eltern. Briefe, die die Adressaten nur selten erreichten, Briefe von Todgeweihten an Todgeweihte.

Sie haben ein so unnachahmliches Gespür für die Situation, Sie wissen, was Sie Ihrem Publikum zumuten können, was Sie ihm zumuten müssen. Weit über jedes Handwerk hinaus wissen Sie, was Sie tun – was Sie sprechen, spielen, darstellen.

Deswegen gilt sicher auch für Sie, was Thomas Bernhard im Textbuch zu seinem Stück „Ritter, Dene, Voss“ am Ende in einer Notiz festgehalten hat: „Ritter, Dene, Voss, intelligente Schauspieler“.

Sie sind ein ungemein belesener – und damit ist nicht nur der bekennende Zeitungsverschlinger gemeint –, ein am aktuellen Weltgeschehen interessierter, ein engagierter, nachdenklicher, selbstkritischer Zeitgenosse. Sie melden sich staatsbürgerlich zu Wort, wenn Sie sich nach reiflicher Überlegung zu diesem oder jenem ein verantwortliches Urteil gebildet haben. Sie lassen sich in die Pflicht nehmen, wenn man Sie braucht und wenn Sie den Eindruck haben, etwas bewirken zu können: ob als Präsident der Deutschen Filmakademie, als Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und dort einige Zeit als Direktor der Sektion Darstellende Kunst oder als Kuratoriumsmitglied der Akademie für gesprochenes Wort.

Sie sind nicht nur ein überzeugter Demokrat – Sie lehnen auch billige Besserwisserei ab. Sie haben mehr als einmal deutlich gemacht, dass Künstler eine politische und gesellschaftliche Verantwortung haben, und zwar eine, die von Einsicht, Sachkenntnis und vom Bewusstsein gemeinsamer Herausforderung geprägt sein muss. Deswegen hört man auch genau zu, wenn Sie Ihr, wie Sie es selber nennen, „kleines, bescheidenes, prominentes Stimmchen erheben – weil das eben nie leichtfertig und kenntnislos geschieht. Ihre Beteiligung bei der Initiative ActOut, dem gemeinsamen Coming-out von fast zweihundert Schauspielerinnen und Schauspielern, hatte darum besonderes Gewicht.

Und es sind nicht nur die großen Dinge, die Ihnen wichtig sind. Sie engagieren sich bei sozialen Projekten, etwa – wie ich erst jüngst erfahren habe – bei den „Berliner Schwimmpaten“, wo Kinder aus armen Familien einen Ferienschwimmkurs fürs Seepferdchen machen können. Auch solche ganz praktischen Dinge haben Sie im Blick.

Noch mehr Menschen, als ins Theater gehen, kennen Sie aus Film und Fernsehen. Dort welkt ja auch der Kranz des Mimen nicht so schnell. Einer der besten „Tatorte“, der film- und theatergeschichtlich anspielungsreiche, auch ironisch-verspielte „Im Schmerz geboren“ konnte auf Sie als, nun ja: extremen Bösewicht zählen. Und Bösewicht ist ein viel zu harmloses Wort, um die Rolle zu bezeichnen, die Sie als Propagandaminister Goebbels in „Der Untergang“ gespielt haben. Sie haben dort nicht nur einem abgrundtief bösen Menschen Gesicht und Stimme gegeben – Sie haben den Abgrund des Bösen selbst sichtbar gemacht.

Auch das ist, wie ich glaube, mehr als Handwerk. Denn es bedeutet, den Mut zu haben, sich sehr genau anzuschauen und dann auch sehr genau darzustellen, was als furchtbare Möglichkeit im Menschen angelegt ist. Wovon also Stückeschreiber wie Shakespeare immer eine konkrete Ahnung hatten und was wir selber in unserer Gegenwart als furchtbare Realität erleben müssen. Ihre schauspielerische Leistung im „Untergang“ erschien mir, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, wie eine weltliche Darstellung der letzten Bitte aus dem Vaterunser: „Und erlöse uns von dem Bösen“.

Ich freue mich, heute mit dem Bundesverdienstkreuz einen engagierten Staatsbürger ehren zu können und einen wunderbaren, uns alle immer wieder bewegenden und überraschenden Schauspieler.

Thomas Bernhard hat manchen seiner Texte Untertitel gegeben wie etwa: „Holzfällen. Eine Erregung“ oder: „Auslöschung. Ein Zerfall“. Würde Bernhard noch leben, säße er mit Sicherheit schon an einem neuen Stück: „Matthes. Eine Ermutigung“.

Gerade gestern Abend durfte ich Sie, lieber Herr Matthes, noch einmal in Molières „Menschenfeind“ sehen. In der Rolle des Alceste sagen Sie ins Publikum: „Ich habe nie etwas vollbracht, von dem ich wüsste, dass mich der Staat dafür belohnen müsste.“ Wir alle sind da ganz anderer Meinung. Herzlichen Glückwunsch zum Bundesverdienstkreuz!