Friedland - Ort des Willkommens in der Freiheit - Ansprache des Bundespräsidenten

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Bundespräsident Roman Herzog hielt in der Feierstunde des Landes
Niedersachsen aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des
Grenzdurchgangslagers in Friedland am 21. September 1995
folgende Ansprache:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Glocke von Friedland
ist für unzählige Menschen zum Symbol des Friedens und der
Freiheit geworden. In den fünfziger Jahren hat sie Hunderttausende
Kriegsgefangene bei ihrer Heimkehr in Deutschland begrüßt, die nach
langen Jahren der Entbehrung und der Not aus sowjetischen
Gefangenenlagern entlassen worden waren. Viele von uns Älteren
erinnern sich noch an die herzzerreißenden Szenen, wenn
ausgemergelte Männer mit großen Augen suchten, ob sie vielleicht
von Frau oder Verwandten abgeholt wurden, wir erinnern uns an die
Freude des Wiedersehens, wenn es dazu kam. Und wer nicht
abgeholt wurde, wurde zunächst von hingebungsvollen Händen mit
dem Notwendigsten versorgt. Aus dieser Tradition entwickelte sich
1957 die Friedland-Hilfe, die bis heute den Ankömmlingen Gegenstände
des täglichen Lebens zur Verfügung stellt, von der Kleidung bis zum
Spielzeug für die Kinder, und ihre Mittel hierfür nach wie vor zu einem
Großteil aus Spenden aufbringt. Die Mitarbeiter des Lagers und die Helfer
der Wohlfahrtsverbände, die seit je in Friedland tätig sind, bieten den
eintreffenden Menschen darüber hinaus aber noch viel mehr, nämlich
persönliche Zuwendung. Das bedeutet heute wie in den fünfziger
Jahren für die Menschen, die ja in eine völlig neue Umwelt kommen,
Halt und Stütze. Sie gibt ihnen Mut und die Zuversicht, willkommen
zu sein. Die heutige Feierstunde möchte ich daher zum Anlaß
nehmen, allen Helfern und Spendern von Herzen zu danken. 1945 als
Lager in der britischen Zone gegründet und 1952 vom Land
Niedersachsen übernommen, ist Friedland nicht nur der Inbegriff der
wiedergefundenen Freiheit der ehemaligen deutschen
Kriegsgefangenen, von denen die letzten erst 1955/56 eingetroffen
sind. Es ist seither wie kein anderer Ort in Deutschland ein Ort des
ersten Willkommens für Vertriebene und Aussiedler. Wir brauchen
aber noch mehr Menschen in unserem Land, die Rat und Hilfe bei der
Eingliederung geben. Das ist nicht ausschließlich eine Frage des
Geldes und der materiellen Unterstützung. Vor allem ist es eine Frage
der Mitmenschlichkeit. Eine Mentalität, die da lautet "Das Boot ist
voll", würde auf uns selbst zurückfallen. Sie würde unsere
Gesellschaft auch menschlich und materiell ärmer machen: Die neuen
Mitbürger bringen ja Optimismus und Tatkraft - zusammengefaßt sagt
man am besten auch Zukunftsöffnung - mit. Sie wollen etwas
aufbauen. Wie schon einmal, als die Vertriebenen nach dem Zweiten
Weltkrieg halfen, den Wiederaufbau zu bewerkstelligen und eines der
wohlhabendsten und freiesten Länder der Welt aufzubauen, geben
auch heute Flüchtlinge und Aussiedler unserer Wirtschaft und
unserer Gesellschaft neue Impulse. Warum sollten wir unter ungleich
günstigeren Bedingungen nicht schaffen, was uns nach dem Zweiten
Weltkrieg gelungen ist: diese neuen Mitbürger anzunehmen und zu
integrieren. Über den heutigen Tag hinaus möchte ich folgendes
sagen: Nach der Öffnung der Grenzen in ganz Europa und zu den
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ist Migration ein
großes Thema in Europa. Politische Flüchtlinge, Opfer ethnischer
Verfolgungen, Menschen auf der Suche nach persönlichen Chancen -
es kommen viele Motive zusammen, die den Migrationsstrom
anschwellen lassen. Diesen Problemen können wir nicht durch
Abgrenzen begegnen. Wir müssen dafür sorgen, daß es keine
Armutsgrenze mehr gibt. Die osteuropäischen Länder zum Beispiel
brauchen eine Perspektive für den Beitritt zur Europäischen Union.
Vor allem müssen wir den Menschen in ihrer Heimat helfen, damit sie
dort, wo sie jetzt leben, auch eine Perspektive bekommen. Das liegt
auch in unserem eigenen Interesse, und das ist ein Wort von Vaclav
Havel, das ich oft zitiere, wenn wir den Osten nicht stabilisieren,
destabilisiert der Osten uns. Es gibt Signale, die optimistisch
stimmen: Die in Mittel-, Ost-, Südosteuropa und in den
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ansässigen Deutschen
haben jetzt in ihrer angestammten Heimat wieder eine Perspektive;
sie können zum Beispiel im Omsk- und im Altaigebiet eine
wirtschaftlich und kulturell gesicherte Zukunft aufbauen. Solche
Hoffnungen habe ich sehr eindringlich bei meinen Besuchen in
Kasachstan und in Rumänien verspürt. Für diese Perspektive in der
Heimat ist es aber auch wichtig, daß wir in Deutschland für diese
Menschen das "Tor offen halten", nicht als Formel, sondern um das
eines Tages lösen zu können. Das sage ich nicht nur in Deutschland,
das habe ich auch in Rumänien, Kasachstan und Usbekistan gesagt.
Torschlußpanik bedroht jede ruhige Entwicklung in den
Herkunftsgebieten. Derzeit treffen zwar pro Jahr über 200000
Spätaussiedler bei uns ein. Aber zum Glück gibt es doch auch wieder
mehr Deutsche, die in ihrer Heimat bleiben wollen, weil, so hoffen sie
wenigstens, Demokratie und Marktwirtschaft zu ihnen kommen. Not
und Vertreibung gibt es nicht nur in Europa. Wer dachte, daß nach
Ende des Kalten Krieges auch ein Ende des Flüchtlingselends
eintreten würde, der hat sich furchtbar geirrt. Allein 18 Millionen
Flüchtlinge werden derzeit vom Flüchtlingswerk der Vereinten
Nationen betreut. Die größte Zahl der Flüchtlinge wird dabei in Afrika
registriert, dem wirtschaftlich ärmsten Kontinent, aber auch dem
Kontinent, auf dem die territorialen Grenzen durch Verschulden der
Europäer vielfach ohne Rücksicht auf Stammesgruppen und familiäre
Bande, also willkürlich, gezogen worden sind. Was kann und muß
gegen die weltweiten Flüchtlingsprobleme getan werden? Ich will nur
drei Voraussetzungen nennen, die erfüllt werden müssen. Es gibt
auch noch weitere, aber diese drei sind jedenfalls Mindestvoraussetzungen,
ohne die eine Lösung des Problems nicht denkbar scheint.

Erstens: Die Ursachen der Wanderungsbewegungen müssen beseitigt
werden, und zwar dort, wo sie entstehen. Das sind insbesondere -
Unterdrückung und Verfolgung, - Not und Armut, - Krieg und
Anarchie, - Raubbau an der Natur. Diese Aufgaben können wir nur in
einem aktiven Miteinander, über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg,
lösen. Noch nie war deutlicher, was es heißt, in einer "Weltgemeinschaft"
und in "einer Welt" zu leben. Wir Deutschen wollen daran verstärkt mitarbeiten,
im Rahmen der Vereinten Nationen und aller übrigen Global- und
Regionalorganisationen, denen wir angehören. Und das muß ernst
gemeint sein und durchgehalten werden. Zweitens: Die Menschen
müssen in ihrer jeweiligen Umgebung - bei aller Verschiedenheit nach
Traditionen, Religionen oder Gewohnheiten - miteinander leben und
sich austauschen können. Es kommt darauf an, daß die
wirtschaftlichen und politischen Belange gemeinsam von Bürgern
organisiert werden können, die ihr Menschenrecht auf freie
Entfaltung unter Achtung der Würde, der Eigenart und der
Interessen des anderen leben können. Wir brauchen einen Schutz
der Minderheiten in Europa und weltweit. Artikel 27 des "Zivilpakts"
der Vereinten Nationen von 1966 sieht das zwar schon vor. Und das
Rahmenabkommen des Europarats von 1994 konkretisiert dieses
Anliegen noch, in dem es ein "Klima der Toleranz und des Dialogs"
fordert, "damit sich die kulturelle Vielfalt für jede Gesellschaft als
Quelle und Faktor nicht der Teilung, sondern der Bereicherung
erweisen kann". Ich sage auch, daß der in mancher Hinsicht
vorbildliche deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag Minderheiten
"als natürliche Brücken" zwischen den Völkern bezeichnet. Ich füge
aber auch hier hinzu, das darf nicht nur auf dem Papier stehen und
geht auch nicht nur Regierungen an, sondern jeden von uns. In der
Europäischen Union sind wir auf diesem Weg. Wir müssen
versuchen, überall auf unserem Kontinent und auch weltweit klar zu
machen, daß Vertreibung und "ethnische Säuberung" - schon das
Wort ist ein Verbrechen - Verbrechen sind, die sich nicht auszahlen.
Und schließlich ein dritter Punkt: Hilfe für ein menschenwürdiges
Leben in der Heimat. Dazu gehört, in Europa und in der ganzen Welt
soweit wie möglich Lebensverhältnisse zu schaffen, die zwar nicht
überall gleich sein können, die aber unerträgliche Not und
ökologische Bedrohungen überwinden und damit das zweite Motiv
der großen Wanderungsbewegungen in unserer Zeit gegenstandslos
machen. Niemand, so ist es doch, verläßt gern oder gar freiwillig
seine Heimat. Doch die Menschen müssen Bedingungen vorfinden,
die ein Leben in der Heimat lebenswert machen. Ihre Not muß
zunächst einmal dort gelindert werden und nicht etwa zusätzlich
durch Heimatlosigkeit verstärkt werden. Vor wenigen Wochen haben
wir uns der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August
1950 erinnert. Helfen wir alle weiter mit, daß die damalige Vision eines
Lebens ohne Furcht und Zwang und des Aufeinanderzugehens sich
weiter verwirklicht. Lassen Sie uns mit aller Kraft und auch
unermüdlich, auch wenn es immer viele Rückschläge gibt, über das
europäische Haus hinaus an einem wahrhaft weltweiten "Haus des
Miteinander" bauen. Die fast 4 Millionen Menschen, die im Laufe der
fünf Jahrzehnte in Friedland eingetroffen sind, sie sind - das weiß ich
aus vielen Gesprächen - aufgrund ihres eigenen Schicksals die
besten Helfer auf diesem Weg. Aber aus dieser Verantwortung
entlassen ist keiner, und schon gar nicht, weil er nie in seinem Leben
vertrieben worden ist.