- Bulletin 44-98
- 22. Juni 1998
In der Europäischen Union leben zur Zeit rund 370 Millionen Menschen. Ich
brauche hier nicht die völlig unterschiedlichen Traditionen, die Geschichte
und die Strukturen der einzelnen Länder vorzutragen. Ich halte es für völlig
ausgeschlossen - dies ist gegen den Sinn der föderalen Ordnung in Europa -,
daß es möglich ist, zentral von Brüssel aus zu erkennen, welche
Strukturpolitik für Mecklenburg-Vorpommern, für Lappland, für Sizilien und die
Kanarischen Inseln richtig ist. Wenn wir diesen Weg gehen würden, würden wir
eine Überbürokratisierung und einen europäischen Zentralismus schaffen, der
für die Idee der europäischen Einigung tödlich wäre. Deswegen müssen wir hier
etwas tun.
Ein ganz wichtiger Punkt der nächsten Monate im Zusammenhang mit der Agenda
2000 ist die Frage der Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Auch dies war
in Cardiff ein zentrales Thema. Wir haben eingehend darüber gesprochen, als
wir uns mit dem Stand und den künftigen Perspektiven der Europäischen Union
befaßten. Nach den Beschlüssen zur Erweiterung der Europäischen Union, nach
den Beschlüssen zur Einführung des Euro und vor allem auch vor dem Hintergrund
der anstehenden Fragen ist dieses ein Thema von entscheidender Bedeutung.
Ich bin dem Vorsitzenden des Europäischen Rates, Premierminister Tony Blair,
und auch den anderen Kollegen dankbar, daß sie die Anregungen von Präsident
Jacques Chirac und mir aufgegriffen haben.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Klaus
Kinkel dazu?)
- Ihre Anregungen können sie ja nicht aufgreifen; denn Sie haben noch nie
welche gemacht. Ihre Tätigkeit in diesem Haus hat tiefe Spuren hinterlassen.
Die Diskussion hat gezeigt, daß in dieser Frage eine große Übereinstimmung
besteht.
Der europäische Einigungsprozeß wird mit Sicherheit nur dann erfolgreich
sein, wenn dieses Europa von den Menschen akzeptiert wird. Die Menschen müssen
spüren, daß das Haus Europa für sie gebaut wird und daß es ein Haus der
gemeinsamen Zukunft sein wird.
Wir müssen uns also folgenden Fragen stellen: Erstens: Wie kann eine
erweiterte Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit nach innen und außen
verbessern? Zweitens: Wie kann sie zugleich ihre demokratische Verankerung
weiter stärken und ihre Bürgernähe verbessern? Jetzt, nach den Beschlüssen
über den Euro und vielen anderen Entscheidungen, ist sicherlich der richtige
Zeitpunkt gekommen, die notwendigen Gespräche zu führen und, falls
erforderlich, auch Veränderungen vorzunehmen.
Das Ziel ist, auf einen einfachen Nenner gebracht, die Kompetenzen der
Europäischen Union klarer und unter konsequenter Beachtung des
Subsidiaritätsprinzips gegenüber den kommunalen, regionalen - wir würden hier
von Landesinteressen reden - und nationalen Zuständigkeiten abzugrenzen. Es
geht hier also überhaupt nicht um die Änderung von Verträgen: weder um eine
nachträgliche Änderung des Vertrages von Maastricht noch um eine Änderung des
Vertrages von Amsterdam. Vielmehr geht es darum, daß das Protokoll des letzten
Vertrages realisiert wird.
In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen doch noch einmal sagen, daß dies nicht
eine beliebige Frage ist. Der dänische Kollege hat in sehr eindrucksvoller
Weise über den Diskussionsstand bei der Volksabstimmung in Dänemark berichtet
und dargelegt, welche Fragen dort aufgeworfen wurden. Ich konnte feststellen,
daß - ungeachtet der unterschiedlichen Sprachen - die Fragen in Dänemark genau
die gleichen sind wie bei uns. Vor allem geht es ganz einfach darum, daß die
Menschen Fragen nach ihrer Identität stellen: Bin ich ein Deutscher in Europa?
Bleibt meine Identität bestehen?
Die großartige Formulierung von Thomas Mann ,,Ich bin ein deutscher Europäer
und ein europäischer Deutscher" ist sicherlich die Richtschnur für den Weg,
auf den wir uns begeben - zumal dann, wenn wir begreifen, daß das Gefühl für
Heimat, die Zugehörigkeit zu einer überschaubaren Region heute zunehmend an
Bedeutung gewinnt.
Dieses Europa darf nicht fern von den Menschen sein, sondern die Menschen
müssen sehen, daß in Brüssel oder Straßburg nur das entschieden wird, was man
dort am besten entscheiden kann; daß im nationalen Bereich in Bonn - und später
in Berlin - das entschieden wird, was dort für Deutschland am besten und
bürgernah entschieden werden kann; und daß in den Landeshauptstädten, ob in
München oder in Düsseldorf, das entschieden wird, was in Sachen Landespolitik
am besten entschieden werden kann. Ich füge ausdrücklich hinzu: Ich wünsche
mir, daß in diesen Dreiklang noch stärker als bisher die Gemeindeebene
einbezogen wird, weil dort die Bürgernähe am besten gewährleistet werden kann.
Meine Damen und Herren, bei dieser Diskussion geht es überhaupt nicht darum,
daß wir Stimmung gegen Brüssel machen oder gar die Richtung unserer bewährten
Europapolitik ändern wollten. Aber es ist doch wahr, daß es Fehlentwicklungen,
Überregulierungen und damit unnötige Bürokratie gegeben hat. Ich will von
diesem Pult aus klar sagen: Es waren alle daran beteiligt - ich bin gegen eine
einseitige Schuldzuweisung - : die Europäische Kommission genauso wie die
Parlamente - das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente -, die
Regierungen der Mitgliedstaaten und nicht zuletzt die große Zahl von
wirtschaftlichen Interessenverbänden und Lobbys.
Wir sind also gemeinsam gefordert, und wir waren uns in Cardiff einig, daß
die Staats- und Regierungschefs in dieser Frage eine sehr persönliche
Verantwortung haben. Unser österreichischer Kollege hat in diesem Sinne
angekündigt, daß er noch vor dem EU-Rat in Österreich, also Mitte der zweiten
Jahreshälfte, zu einem informellen Treffen über dieses Thema einladen wird.
Meine Damen und Herren, alles deutet darauf hin, daß die deutsche
Präsidentschaft in diesem Zusammenhang eine ganz große Bedeutung gewinnt. Kurz
vor den Wahlen zum Europäischen Parlament wird eine wichtige Kursbestimmung
vorgenommen. Deswegen muß jeder in Deutschland wissen, daß auch bei der Wahl
zum Deutschen Bundestag mit über die Kursbestimmung entschieden wird, die dann
in Europa stattfindet.
Ich füge hinzu, daß diese Diskussion natürlich nur dann vorankommt, wenn wir
gemeinsam das Ziel erreichen, den Vertrag von Amsterdam in diesem Jahr zu
ratifizieren. In Cardiff ist sehr gewürdigt worden, daß die Bundesrepublik der
erste Mitgliedstaat war, der die Ratifikationsurkunde am 7. Mai 1998
hinterlegt hat. Ich will mich übrigens bei dieser Gelegenheit noch einmal bei
allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Es war für unsere Position in
Europa sehr wichtig, daß wir die ersten waren. Andere Mitgliedstaaten tun sich
sehr viel schwerer, die Ratifikation noch in diesem Jahr vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, es gilt also, alles zu tun, um das Prinzip der
Subsidiarität, wie es im Maastrichter Vertrag und im Protokoll zum Amsterdamer
Vertrag festgelegt ist, mit Leben zu erfüllen. Da es viele falsche
Vorstellungen von Subsidiarität gibt und viele über Dinge reden, die sie noch
nicht einmal zur Kenntnis genommen haben, will ich Artikel 5 des Amsterdamer
Vertrags zitieren. Dort heißt es:
In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen,
wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und
soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der
Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres
Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden
können.
Ich finde, das ist eine Definition, die jetzt mit Leben erfüllt werden muß,
und zwar ohne jede Position der Gegnerschaft zu irgendeiner europäischen
Institution.
Es gab und gibt Fehlentwicklungen, was auch niemand in Brüssel und Cardiff
bestritten hat. Ich will nur ein Beispiel nennen: Brauchen wir wirklich eine
Richtlinie über die Erhebung statistischer Daten im Bereich des
Fremdenverkehrs, die die Einführung eines umfassenden Informationssystems in
der Europäischen Union vorsieht? In dieser Richtlinie werden die Hoteliers
verpflichtet, vierteljährlich Daten über die Anzahl der Betriebe, Zimmer und
Betten, die Anzahl der Ankünfte und Übernachtungen Gebietsansässiger und
Gebietsfremder mit geographischer Untergliederung sowie über die
Kapazitätsauslastung zu liefern.
Meine Damen und Herren, ich habe dieses Beispiel gewählt, weil es ein
besonders absurdes Beispiel ist. Es hilft keinem Menschen in Europa. Es nutzt
gar nichts. Der Fremdenverkehr wird hierdurch behindert. Die Qualität der
Gastronomie wird nicht erhöht, die Preise werden nicht gesenkt. Ich kann mir
keinen Nutzen für irgend jemanden vorstellen.
Bei all diesen Fragen - auch das muß klar ausgesprochen werden - geht es uns
überhaupt nicht um Renationalisierung. Wir müssen notwendige Reformen
vornehmen, weil sich die Verhältnisse verändert haben. Es muß doch möglich
sein, daß wir auf der europäischen Ebene prüfen und ohne jegliche Emotion
sagen, was gut gelungen und was nicht gut gelungen ist. Es geht also um eine
klare Abgrenzung der Aufgaben und zugleich um die Prüfung, ob die heutige
Regelungsdichte wirklich den Erfordernissen der Zukunft entspricht.
Meine Damen und Herren, es gibt auch Bereiche, in denen wir ein Mehr an
Integration brauchen. Die gemeinsame Währung wird mit Sicherheit die
Notwendigkeit zu weiteren Gemeinschaftsregelungen verstärken. Das gilt in
besonderem Maße - jeder spürt es doch in diesen Wochen - auch für den Bereich
der Außen- und Sicherheitspolitik. Das enttäuschende Verhalten der
Europäischen Union im Jugoslawien-Konflikt hat doch deutlich gemacht, daß wir
hier ein stärkeres, wirkungsvolleres gemeinsames Vorgehen brauchen. Bis
geschichtliche Erfahrungen in tägliche Entscheidungen einfließen, braucht es
seine Zeit. Aber gerade in diesen Tagen der Auseinandersetzungen im Kosovo
zeigt sich doch, daß Europa mit sehr viel größerer Kraft handlungsfähig sein
muß. In diesem Sinne brauchen wir mehr Integration und Gemeinsamkeit in der
Europäischen Union.
Ich sage dies auch - obwohl es manche nicht gern hören - für den Bereich der
Innen- und Justizpolitik. Sie können aus dem in Cardiff vorgelegten Bericht
ersehen: Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität ist mit den
bisherigen Mitteln allein nicht mehr zu bewerkstelligen.
Man brauchte kein Prophet zu sein, um zu erkennen, daß die Fragen des Asyls,
der Immigration, der Zunahme der Gefährdung durch Drogen und internationale
Kriminalität Schicksalsfragen in Europa sein werden. Hier hat Europa künftig
eine besondere Aufgabe. Die Bürger werden dieses Europa auch unter dem
Gesichtspunkt betrachten, ob es auf diesen Feldern handlungsfähig ist.
Deswegen müssen wir hierfür ohne Zweifel mehr tun als bisher.
Ein handlungsfähiges und bürgernahes Europa muß ein Europa sein, in dem die
Vielfalt der politischen, kulturellen und regionalen Traditionen gewahrt wird.
Diese Vielfalt ist eine Quelle der Kraft und Dynamik für das neue Europa.
Deswegen müssen auch die Reformen der Institutionen energisch vorangetrieben
werden. Wir haben in Amsterdam vereinbart, daß über die Größe und Struktur der
Europäischen Kommission,
die Gewichtung der Stimmen der Mitgliedstaaten und den verstärkten
Gebrauch von Mehrheitsentscheidungen weiter diskutiert und entschieden werden
muß. An diesen kurzen Bemerkungen läßt sich unschwer erkennen, welch eine
Wucht der Auseinandersetzungen, auch der nationalen Interessen, sich hinter
diesen Fragen verbirgt. Auch diese Entscheidungen stehen während der deutschen
Präsidentschaft an. Deswegen ist es wichtig, daß all diese Fragen rechtzeitig
vor dem Wahltermin des Europäischen Parlaments im Juni des nächsten Jahres
positiv abgeschlossen und erledigt werden.
Meine Damen und Herren, wir alle sind dazu aufgerufen, als Parlamentarier in
den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union unseren Beitrag dazu zu leisten, daß die Wählerinnen und Wähler Europas
mit einer soliden, zukunftsweisenden Erfolgsbilanz für Europa gewonnen werden.
Diese Wahl ist von großer Bedeutung für die Gestaltung Europas im neuen
Jahrhundert.
Unsere Zukunft, die Zukunft des vereinten Deutschland, liegt mehr als die
aller anderen Länder im vereinten Europa. Nur gemeinsam mit unseren Partnern
und Freunden werden wir Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit
auf Dauer sichern können. Das kann nur gelingen, wenn wir das Haus Europa
weiterbauen.
Dies gilt um so mehr im Blick auf die künftige Erweiterung der Europäischen
Union. Wir waren uns einig, daß in den wenigen Monaten seit den Luxemburger
Beschlüssen vom Dezember 1997 zur Einleitung des Erweiterungsprozesses auf
diesem Weg schon viel geleistet worden ist. Ich will der Kommission, aber auch
den Beitrittskandidaten von dieser Stelle aus ausdrücklich dafür danken, daß
diese sehr schwierigen Verhandlungen mit sehr viel Geschick und auch zügig
vorangebracht werden.
Dabei steht außer Frage - wir sind mit diesem Thema mitten in der deutschen
Innenpolitik -, daß wir in einzelnen Fragen nicht ohne langfristige
Übergangsregelungen auskommen werden. Ich denke hierbei beispielsweise an die
zu Recht vieldiskutierte Frage der Freizügigkeit für Arbeitnehmer.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Erweiterung der Europäischen
Union nach Mittel- und Osteuropa ist eine entscheidende Frage für das künftige
Gesicht Europas. Wir Deutschen müssen noch mehr als andere leidenschaftlich
dafür eintreten und kämpfen, daß der frühere Eiserne Vorhang nicht durch eine
neue sogenannte Wohlstandsmauer ersetzt wird. Polen und Ungarn gehören genauso
zu Europa wie Spanien und Dänemark. Deswegen werden wir das Notwendige auf
diesem Gebiet tun.
Die Konflikte der letzten Jahre auf dem Balkan haben uns
vor Augen geführt, welche Bedeutung der europäische Integrationsprozeß für
den Frieden auf unserem Kontinent hat. Wir haben uns in Cardiff
notwendigerweise auch mit der Frage der Entwicklung im früheren Jugoslawien
beschäftigt. Auf der Grundlage der Beratungen der Außenminister haben wir eine
Erklärung der Staats- und Regierungschefs zur Lage im Kosovo verabschiedet. In
ihr sind konkrete Forderungen formuliert. Ich will einige davon nennen: Beendigung der
Operationen der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung und Abzug der
hierfür eingesetzten Einheiten; Ermöglichung wirksamer und ständiger
internationaler Überwachung im Kosovo; Ermöglichung der Rückkehr aller
Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre Heimat und des ungehinderten Zugangs für
humanitäre Organisationen sowie ein möglichst rascher Fortschritt im Dialog
mit der Führung der Kosovo-Albaner.
Meine Damen und Herren, für den Fall, daß diesen Forderungen nicht
entsprochen wird, wurde ein umfangreicher Katalog von Maßnahmen in Aussicht
genommen, von Maßnahmen, die auch ein militärisches Eingreifen einschließen.
Wir begrüßen und unterstützen die Initiative Großbritanniens, hierzu ein
Mandat des UN-Sicherheitsrats zu erreichen.
Meine Damen und Herren, bei den Gesprächen von Präsident Miloševi´c am 15.
und 16. Juni in Moskau, die wir von unserer Seite sehr stark mit unterstützt
haben - nicht zuletzt anläßlich des Besuches von Boris Jelzin letzte Woche bei
uns in Bonn -, hat der jugoslawische Präsident in einer gemeinsamen Erklärung
mit der russischen Regierung Verpflichtungen im Hinblick auf eine friedliche
Lösung übernommen. Er selbst sagte, es seien klare Verpflichtungen.
Ich will zunächst einmal Präsident Jelzin für seine Initiative danken, aber
ich will hier doch klar aussprechen, daß wir mit großem Interesse und nicht
ohne Skepsis - auch das muß gesagt werden - abwarten, ob nun Präsident
Miloševi´c seine Zusagen auch wirklich einhält. Wenn das Ganze nur zur
Verschleppung dient, ist das eine völlig inakzeptable Position - wenn es so
sein sollte. Wir werden alles aufmerksam beobachten, und wir müssen ihn an
seinen Taten messen. Die täglichen Berichte von neuen Morden sind völlig unerträglich.
Ein vorrangiges Ziel der Staatengemeinschaft muß einfach sein, daß das
Blutvergießen und die völlig unerträgliche Brutalität bei den Vorgängen im
Kosovo beendet werden und daß die elementaren Menschen- und Minderheitenrechte
endlich auch dort gewahrt werden.
Meine Damen und Herren, ungeachtet der Leiden der ganz unmittelbar
betroffenen Bevölkerung ist auch die Feststellung angebracht - auch das habe
ich in Cardiff gesagt -, daß unser Land, daß die Bundesrepublik Deutschland
bei zunehmenden Flüchtlingsströmen mehr als alle anderen in Europa betroffen
ist. Sicherlich ermöglicht dies einigen unserer Kollegen, die dort mit am
Tisch sitzen, ein etwas distanzierteres Verhältnis zu dem Problem, weil sie
dieses Problem nicht im eigenen Hause haben. Ich habe dort noch einmal darauf
hingewiesen, daß wir aus unserer selbstverständlichen moralischen Pflicht und
aus unserem Verständnis von Solidarität bereit waren, viele Flüchtlinge aus
Bosnien-Herzegowina aufzunehmen. Wir haben das aus gutem Grund getan. Denn wir
wissen noch um die schlimmen Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des
Naziregimes und am Ende des Zweiten Weltkrieges, als wir Hilfe von anderen
erhalten haben. Es hat etwas mit der moralischen Statur unseres Volkes zu tun,
daß wir ungeachtet eigener Probleme bereit sind, anderen zu helfen.
Ich weiß - ich sage ganz offen, wie ich es empfinde -: Manche sind nicht
erfreut, wenn man in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß der deutsche
Steuerzahler in Bund, Ländern und Gemeinden für diese spezielle Hilfe fast 15
Milliarden D-Mark aufgebracht hat. Natürlich geht es hier nicht primär um
diese finanzielle Seite, sondern um die moralische Pflicht, aber, meine Damen
und Herren, ich habe auch gesagt: Wenn sich jetzt die Entwicklung im Kosovo so
zuspitzt und an Stelle der über 200000 Bosnien-Flüchtlinge, die Gott sei Dank
wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten - wir hoffen, daß andere auch bald
unter friedlichen Verhältnissen heimgehen können -, eine neue große
Flüchtlingswelle bei uns ankommt, dann ist das eine Frage, die auch andere
interessieren muß.
Wir können in Europa nicht die Arbeitsteilung haben: Für diese besonderen
Herausforderungen sind vor allem die Deutschen und dann noch die Österreicher
zuständig, und ansonsten schauen wir mit Gelassenheit in die Zukunft. Wir
Deutschen stehen zu unserer moralischen Verpflichtung, aber ich muß schon
darauf bestehen, daß man auch begreift, daß wir nicht allein eine europäische
Last schultern können, sondern daß das eine gemeinsame Herausforderung für
alle ist. Im übrigen war es die völlig einmütige Meinung, daß die politische
Lösung der Krise im Kosovo nur auf der Basis einer Autonomie für den Kosovo
möglich ist.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nicht zuletzt der erneute Ausbruch
von Gewalt und die kriegerische Entwicklung auf dem Balkan haben uns noch
einmal ins Bewußtsein gerufen, was die eigentliche Zielsetzung, was die
großartige Dimension des europäischen Einigungswerks ausmacht: Die Einigung
Europas ist die beste, ja die einzig wirklich dauerhafte Garantie für Frieden
und Freiheit in Europa im 21. Jahrhundert, nicht zuletzt und vor allem für die
Deutschen. Die Sicherung von Frieden, Freiheit und Stabilität durch ein ganz
enges Miteinander der europäischen Völker - das ist in Wahrheit der Kern des
europäischen Gedankens.
Die Geschichte Europas hat sich in diesem Jahrhundert vom Schlimmen zum Guten
gewendet. Wenn man sich in diesen Tagen an den 50. Geburtstag der D-Mark
erinnert - das wird ja am kommenden Samstag der Fall sein - und sich noch
einmal in Erinnerung ruft, wie das Land damals aussah, wie die Menschen
lebten, wie die Verhältnisse waren, dann kann man mit Fug und Recht sagen: Es
hat sich in diesen fünfzig Jahren auch für uns Deutsche - schon gar in dem
letzten Jahrzehnt mit der Deutschen Einheit - vom Schlimmen zum Guten
gewendet, erst im Westen und dann auch im Osten. Dies wäre nicht möglich
gewesen ohne den Aufbruch gleich nach dem Krieg zum Bau des Hauses Europa.
Deshalb ist es wichtig, daß wir, ungeachtet aller Auseinandersetzungen im
Bereich der Innenpolitik - die manchmal sein müssen und manchmal auch nicht -,
gemeinsam mit ganzer Kraft für die Einigung Europas arbeiten. Wir wollen und
wir werden das Haus Europa bauen als die Friedens- und Freiheitsordnung des
21. Jahrhunderts, als die gemeinsame Heimat kommender Generationen in Europa.