Deutsche Außenpolitik im Zeitalter der Globalisierung - Rede von Bundesminister Dr. Kinkel in Berlin

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Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, hielt anläßlich der
Vortragsreihe der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP)
zum Thema "Reden zur Außenpolitik der Berliner Republik" am 1. Juli 1998 in
Berlin folgende Rede:

Im kommenden Jahr werden Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin
umziehen - zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, fünfzig Jahre nach
Gründung der Bundesrepublik Deutschland und pünktlich zur Jahrtausendwende.
Für das Auswärtige Amt ist dieser Umzug mehr als
ein Ortswechsel: Es kehrt an seinen Ursprung zurück, in ein geeintes Berlin.
Berlin ist der Geburtsort des Auswärtigen Amts - das verbindet uns mit der
Deutschen Bank.

Vierzig Jahre lang haben deutsche Außenminister und Diplomaten darauf
hingearbeitet, die Teilung dieser Stadt und Deutschlands zu überwinden. Dieses
Ziel haben wir erreicht: Deutschland ist vereint und Europa wächst zusammen.
Jetzt müssen wir den Blick aufs 21. Jahrhundert richten. Ich danke deshalb der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik für diese Vortragsreihe. Sie
zeigt: Die DGAP wird auch in Berlin das außenpolitische Diskussionsforum in
Deutschland sein.

Das Wort von der "Berliner Republik" wirft die Frage auf: Beginnt mit den
Umzug von Bonn nach Berlin ein neuer Abschnitt in der deutschen Außenpolitik?
Sicher ist: Berlin wird ein anderes hauptstädtisches Leben hervorbringen, als
das Bonn möglich war. Dennoch sage ich als Außenminister: Die
Grundorientierungen der deutschen Außenpolitik hängen nicht vom Sitz des
Parlaments und der Regierung ab. Sie werden bestimmt durch die Vorgaben
unseres Grundgesetzes und unsere nationalen Interessen: Frieden, Freiheit und
Wohlstand. Artikel 1 des Grundgesetzes bindet auch die Außenpolitik an die
Achtung der Menschenwürde. Und nach der Präambel soll Deutschland als
gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt
dienen.

Diese Wertbezogenheit unserer Außenpolitik ist die bleibende Lehre aus den
Irrwegen der deutschen Geschichte. "Uns fehlte als Ganzem die Idee, wir hatten
keinen geltenden Wert", so beklagte am Ende des Ersten Weltkrieges ein junger
Generalstabsoffizier das außenpolitische Dilemma des Kaiserreichs. Das Spiel
der Mächte hatte diesen Wert nicht stiften können. Zwanzig Jahre später
stürzte der nationalsozialistische Eroberungs- und Rassenwahn Europa in Krieg,
Gewalt und Zerstörung.

Die Integration Deutschlands in die Europäische Union und in die NATO, seine
Mitwirkung in den Vereinten Nationen, in der OSZE, im Europarat und vielen
anderen internationalen
Organsationen, die endgültige Festlegung unserer Grenzen - all das
unterscheidet die Außenpolitik der deutschen Nachkriegsdemokratie grundlegend
von früheren Phasen der deutschen Geschichte. Diese Prinzipien werden auch
Richtschnur für unsere Außenpolitik bleiben, wenn sie von Berlin aus gestaltet
wird. Nirgendwo ist deutsche Geschichte so präsent wie in Berlin, nirgendwo
mahnt sie uns so
eindringlich, den Versuchungen nationaler Machtpolitik zu widerstehen. Diese
Vortragsreihe hat gezeigt: Darüber besteht zwischen den demokratischen
Parteien Einigkeit - ein gutes Zeichen!

Damit ist die Frage nach der deutschen Außenpolitik im 21. Jahrhundert aber
noch nicht beantwortet. "Der Sturm ist in die Zeit gefahren" - selten traf
dieses Wort Ludwig Uhlands so zu wie heute. Wir leben mitten in einer
Zeitenwende. Über vierzig Jahre war die Überwindung der Teilung Deutschlands
und Europas das zentrale Thema unserer Außenpolitik. Die Herausforderung des
21. Jahrhunderts heißt: Globalisierung und multipolare Welt.

Der Umzug nach Berlin ist deshalb keine Rückkehr in die Geschichte. Gerade
hier in Berlin ist überall mit den Händen zu greifen: Die Gründerzeit des 21.
Jahrhunderts hat längst begonnen. Die Frontstadt des Kalten Krieges ist zum
Bauplatz für die Deutsche Einheit und zur Drehscheibe des zusammenwachsenden
Europas geworden. Das Brandenburger Tor ist nicht mehr Symbol der Teilung, es
steht für eine bessere Zukunft. Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir
nur von Freunden umgeben. Was mit Frankreich gelang, kann und wird jetzt auch
mit Polen und der Tschechischen Republik gelingen - eine historische Chance!
Wir wollen sie gestalten - hier von Berlin aus, der vielleicht europäischsten
aller europäischen Städte.

Der Fall der Berliner Mauer war das Fanal für den Beginn eines neuen
Zeitalters - der Globalisierung. Das Ende des Kalten Krieges, der Abbau der
Grenzen und der technologische Fortschritt haben sie möglich gemacht. Die
Globalisierung überwindet Staatsräume und schafft transnationale
Wirtschaftsräume. Der Welthandel hat sich seit den achtziger Jahren fast
verdreifacht. An den internationalen Finanzmärkten werden rund um die Uhr und
rund um den Globus täglich mehr als 1,2 Billionen Dollar gehandelt - eine
unvorstellbare Summe. Und von den 100 größten Wirtschaftseinheiten auf der
Welt sind heute schon 51 Unternehmen und nur 49 Staaten!

Aber die Welt wächst nicht nur wirtschaftlich zusammen. Auch in der Politik
verliert die Geographie immer mehr an Bedeutung. Die Erwärmung des Weltklimas,
Flüchtlingsströme, grenzüberschreitende Kriminalität und Terrorismus - das
betrifft alle: die Weltmacht USA genauso wie unseren Nachbarn Luxemburg. Und
die Atombombentests in Indien und Pakistan zeigen: Die Proliferation von
Massenvernichtungswaffen bedroht alle Staaten. Im Zeitalter der Globalisierung
gibt es keine entfernten Orte mehr!

Zum neuen Zeitalter gehört auch: Staaten, die bislang im Schatten des Kalten
Krieges standen, möchten gleichberechtigt mit am Tisch sitzen. China mit einem
Viertel der Weltbevölkerung und Indien mit fast einer Milliarde Menschen sind
heute Schwergewichte in der Weltpolitik. Und die kleinen und mittleren Staaten
schließen sich nach dem Vorbild der Europäischen Union zu regionalen
Gruppierungen wie ASEAN oder MERCOSUR zusammen. Mit NAFTA und APEC sind unter
Führung der USA Zusammenschlüsse entstanden, die die bevölkerungsreichsten
Kontinente umfassen.

Wir müssen erkennen: Die Welt im 21. Jahrhundert wird von großen Staaten und
regionalen Zusammenschlüssen bestimmt werden. All das zeigt: Frieden und
Freiheit, Sicherheit und Wohlstand können wir nicht mehr im Alleingang
verwirklichen. Sicher, nach der Wiedervereinigung ist Deutschland das
zwölftgrößte Land der Erde, drittstärkste Volkswirtschaft der Welt und größtes
Mitgliedsland der Europäischen Union. Aber können wir angesichts
Globalisierung und EU-Binnenmarkt noch von einer "deutschen" Volkswirtschaft
sprechen?

Nur Europa verfügt über die "kritische Masse", um die globalen Entwicklungen
spürbar beeinflussen zu können. Nur in und mit Europa können wir Deutschen
unsere Interessen zur Geltung bringen. Allen Europa-Skeptikern sage ich
deshalb: In der multipolaren Welt brauchen wir nicht weniger, sondern mehr
Europa. Die Einigung Europas ist nicht nur die Lehre aus der Vergangenheit -
sie ist auch der Schlüssel zu unserer Zukunft.

Unsere Partner außerhalb Europas sehen das oft viel klarer als wir selbst.
Viele betrachten die Europäische Union als Zivilisationsmodell. Ja - wir haben
alte Machtpolitik durch die geregelte Zusammenarbeit von großen und kleinen
Staaten überwunden - mit Erfolg! Die Europäische Union ist heute eine
Weltwirtschaftsmacht und mit 377 Millionen Verbrauchern der kaufkräftigste
Binnenmarkt der Welt. Nach der Erweiterung werden es 470 Millionen Bürger
sein. Mit 25 Prozent ist ihr Anteil am Weltsozialprodukt schon heute größer
als der der USA. Der Euro wird die Europäische Union zum größten Kapital- und
Finanzmarkt der Welt machen.

Um so weniger kann sich die Europäische Union auf Dauer mit der Rolle des
Wirtschaftsriesen zufriedengeben. Sie muß als Politische Union mit einer
Stimme sprechen, wenn sie als "global player" die Weltordnung des 21.
Jahrhunderts mitbestimmen will. Wir Europäer haben ein elementares Interesse
an offenen Märkten. Wir wollen ein kooperatives Verhältnis zwischen den großen
Staaten und Regionen der Welt. Die Europäische Union braucht deshalb eine
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und mehr gemeinsames Handeln in den
Bereichen Recht und Inneres.

Mit dem Vertrag von Amsterdam haben wir den vorerst letzten Schritt auf
diesem Weg getan. Weitere müssen folgen. Die ökonomische Supermacht
Europäische Union muß in Zukunft in der Lage sein, im Krisenfall - siehe
Bosnien/Kosovo - selbst für Stabilität zu sorgen, ohne immer gleich nach
unseren amerikanischen Freunden zu rufen.

Trotzdem fragen viele Bürger: "Brauchen wir wirklich immer mehr Integration?"
Ja - nach Amsterdam und der Entscheidung für den Euro sind wir an einer
Wegscheide angelangt. Wir werden in den kommenden Monaten in der Europäischen
Union unter der Überschrift "Subsidiarität" über grundsätzliche Fragen
diskutieren wie: Was entscheidet Brüssel, was
die nationalen Hauptstädte und Regionen? Wie machen wir Europa demokratischer
und bürgernaher? Sicher ist: Niemand in Europa will die Nationalstaaten durch
einen europäischen Zentralstaat ersetzen. Ohne die Vielfalt seiner Nationen
wäre Europa wie ein Körper ohne Seele.

Aber: Wir dürfen die europäischen Institutionen nicht demontieren. Europa ist
unser Schicksal - politisch und wirtschaftlich. Eine handlungsfähige
Europäische Union mit starken, demokratisch kontrollierten Institutionen liegt
in unserem wohlverstandenen Interesse. Renationalisierung und die Abkehr von
der Integrationspolitik würde Deutschland, dem Land in der Mitte Europas mit
den meisten Nachbarn, am meisten schaden. Und wer glaubt, in Brüssel mit
Kraftmeierei und Oberlehrergehabe deutsche Interessen durchsetzen zu können,
würde bald ein böses Erwachen erleben. Nur gemeinsam mit unseren Partnern,
nicht gegen sie können wir die Zukunft gewinnen. Dabei bleibt für uns das
Verhältnis zu Frankreich von zentraler Bedeutung - auch nach dem Umzug vom
Rhein an die Spree.

Ich werde nicht vergessen, was mein polnischer Amtskollege Bronislaw Geremek
am 30. März 1998, dem Tag der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der
Europäischen Union mit Polen, sagte: "Jetzt beginnt die Wiedervereinigung
Europas". Über Jahrzehnte haben wir unseren Nachbarn im Osten zugerufen:
Schüttelt das Joch des Kommunismus ab - kommt in die Freiheit! Ihnen jetzt zu
sagen, leider ist kein Platz mehr für Euch im Haus Europa - das wäre
unmoralisch und unhistorisch.

Die Erweiterung der Stabilitätszone Europäische Union nach Osten entspricht
unseren vitalen Interessen - politisch und wirtschaftlich. Schon heute sind
wir größter Handelspartner der Staaten in Mittel- und Osteuropa - mit
steigender Tendenz. Letztlich wird die Integration der Wachstumsmärkte
in Mittel- und Südosteuropa mit hundert Millionen Verbrauchern die
"kritische" Masse Europas im Wettbewerb der Weltregionen erhöhen. Die
Erweiterung der Europäischen Union ist eine Zukunftsinvestition in sichere
Arbeitsplätze und soziale Stabilität.

Kein Zweifel, noch nie stand die Europäische Union vor einer so schwierigen
Erweiterungsrunde. Trotzdem: Nichts wäre jetzt gefährlicher, als die
Verhandlungen zu verzögern. Vertagen hieße versagen! Wir sind bei unseren
Nachbarn im Wort. Unsere Vertrauenswürdigkeit beruht auf der Verläßlichkeit
und Berechenbarkeit unserer Außenpolitik. Innenpolitisch bedingtes Irrlichtern
darf es hier nicht geben. Deshalb dürfen die Erweiterungsverhandlungen nicht
mit bilateralen Fragen verbunden werden. Deutsches Draufsatteln auf die
EU-Beitrittskriterien würde niemand in der Europäischen Union verstehen.

Die Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union ist nicht zum
Nulltarif zu haben. Wenn wir innerhalb des vorgesehenen Finanzrahmens bleiben
wollen, sind Reformen unvermeidlich, vor allem bei der Agrar- und
Strukturpolitik. Die Europäische Union braucht ein neues Finanzierungssystem.
Und wir brauchen eine gerechtere Lastenverteilung, insbesondere bei den
Rückflüssen. Daran haben gerade wir Deutschen ein großes Interesse. Nur wenn
die Europäische Union mehr in Zukunftsbereiche wie Forschung und Technologie
investiert, wird Deutschland als Industrie- und Dienstleistungsstandort in den
Genuß höherer Rückflüsse kommen und seine Nettozahlerposition abbauen können.

Die Europäische Union wird im globalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn sie
weiterhin mehr als fünfzig Prozent für die Landwirtschaft und weniger als vier
Prozent für Forschung und Bildung ausgibt. Sicher, nicht alles in der Agenda
2000 ist der Weisheit letzter Schluß - aber die Richtung stimmt. Die
europäische Lokomotive muß unter Reformdampf gesetzt werden. Und verbirgt sich
nicht hinter mancher Europa-Schelte bei uns in Wirklichkeit Reform-Angst?

Nie zuvor in diesem Jahrhundert waren die Kernelemente einer dauerhaften und
gerechten Friedensordnung für ganz Europa so wenig umstritten wie heute: die
Europäische Union, die Atlantische Allianz und die transatlantische
Partnerschaft mit den USA, die Sicherheitspartnerschaft mit Rußland, der
Ukraine und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, OSZE und Europarat.
Wer hätte es vor einigen Jahren für möglich gehalten, daß die NATO und Rußland
eine Sicherheitspartnerschaft eingehen und in Bosnien gemeinsam den Frieden
erhalten? Hier zeigt sich: Europa kann seine friedliche Einheit nur mit einem
demokratischen Rußland, der Ukraine und den anderen Nachfolgestaaten finden.
Deshalb unterstützt Deutschland bilateral und im Rahmen der Europäischen Union
wie kein anderes Land den Reformprozeß in Osteuropa.

Im nächsten Jahr feiert die NATO ihren 50. Geburtstag. Es wird dann eine
"neue" NATO sein, die sich an ein neues Umfeld anpaßt. Mit Polen, Tschechien
und Ungarn wird sie erstmals demokratische Staaten aufnehmen, die einmal
Mitglieder des Warschauer Paktes waren: ein Schritt von historischer Bedeutung
- aber kein Schlußpunkt! Die Tür der NATO bleibt auch für die Staaten offen,
die vorerst nicht beitreten werden. Dafür habe ich mich persönlich eingesetzt.
Alle Staaten müssen beim Aufbau der europäischen Friedensordnung beteiligt
werden, kein Volk darf ausgegrenzt werden. Schon heute haben wir durch die
Partnerschaft für den Frieden und den Europäisch-Atlantischen
Partnerschaftsrat ein einzigartiges Maß an Zusammenarbeit und Vertrauen in
Europa erreicht.

Bosnien und Kosovo zeigen leider: Die europäische Friedensordnung ist noch
nicht Wirklichkeit. Die Staatengemeinschaft darf und wird im Kosovo kein
zweites Bosnien zulassen. Wir wollen eine dauerhafte und gerechte Lösung, die
die legitimen Interessen aller Beteiligten im Rahmen einer weitgehenden
Autonomie für den Kosovo in den Grenzen des heutigen Jugoslawien
berücksichtigt.

Die Hauptverantwortung liegt jetzt bei der Führung in Belgrad. Sie muß den
Forderungskatalog der Kontaktgruppe erfüllen. Und sie muß wissen: Die
Staatengemeinschaft wird alles tun, um die Spirale der Gewalt anzuhalten -
einschließlich von Maßnahmen, die einer Sicherheitsratsresolution bedürfen.
Aber auch die Kosovo-Albaner dürfen nicht durch Gewalt gegen die serbische
Bevölkerung im Kosovo Belgrad einen Vorwand liefern, die Forderungen der
Kontaktgruppe abzulehnen.

Die Krisen auf dem Balkan machen überdeutlich: Ohne die NATO ist dauerhafte
Stabilität in Europa nicht denkbar. Deutschland darf dabei auch in Zukunft
nicht abseits stehen - das verlangt unsere europäische Friedensverantwortung,
und das ist die berechtigte Erwartung unserer Partner. Der Friedenseinsatz von
3000 deutschen Soldaten in Bosnien im Rahmen von SFOR ist angesichts der
deutschen Geschichte alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Dennoch ist
das heute Teil europäischer Normalität - und ein Beweis für das Vertrauen
unserer Partner in das vereinte Deutschland.

Deutschland hilft mit, die NATO fit zu machen für neue Aufgaben: die
Zusammenarbeit mit Nicht-Mitgliedern, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung,
die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln. Manche
dieser Aufgaben reichen über das Bündnisgebiet hinaus - siehe die Beispiele
Bosnien und Kosovo. Aber: Wir dürfen die NATO nicht überfordern, indem wir
ihre Aufgaben überdehnen. Die Schlagworte von der "Globalisierung der NATO"
und der "Verteidigung unserer Interessen" sind hier wenig hilfreich.

Mit unseren amerikanischen Freunden sind wir uns einig: Zum neuen
strategischen Konzept der NATO gehört eine ausgewogene
europäisch-amerikanische Partnerschaft. Europa kann und muß heute mehr
Verantwortung für Sicherheit im eigenen Haus übernehmen. Wir brauchen deshalb
eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität als europäischer
Pfeiler der Atlantischen Allianz. Deshalb muß die WEU im Krisenfall selbst
unter Rückgriff auf NATO-Ressourcen handeln können.

Das frühere Jugoslawien, Tschetschenien und andere Konfliktherde machen
deutlich: Die OSZE leistet Großartiges beim Aufbau von Demokratie und
Rechtsstaat in ganz Europa. Sie ist die einzige euro-atlantische Organisation,
an der die nordamerikanischen Demokratien und Rußland, die Ukraine und die
anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion beteiligt sind. Deshalb muß
die OSZE auf dem Gipfel im kommenden Jahr als Instrument des Krisenmanagements
in ganz Europa weiter gestärkt werden. Ein Eckstein gesamteuropäischer
Sicherheit wird auch künftig der Vertrag über Konventionelle Abrüstung in
Europa sein. Er muß jetzt an die veränderte sicherheitspolitische Lage in
Europa angepaßt werden.
Wir wollen Türen öffnen für weitere konventionelle Abrüstung und
Vertrauensbildung!

Die größte Gefahr für globale Sicherheit im 21. Jahrhundert wird jedoch die
Proliferation von Massenvernichtungswaffen sein. Die Atomtests in Indien und
Pakistan sind ein schwerer Rückschlag für Bemühungen um nukleare
Nichtverbreitung und nukleare Abrüstung. Ein neues nukleares Wettrüsten mit
katastrophalen Folgen für globale und regionale Stabilität darf es nicht
geben. Alle Staaten müssen jetzt den Verträgen über Nicht-Verbreitung und
Test-Stopp beitreten. Und die Nuklearstaaten müssen ihrer Verpflichtung zu
weiterer nuklearer Abrüstung nachkommen.

Sicherheit buchstabiert sich heute immer mehr auch wirtschaftlich, sozial,
ökologisch. Grenzüberschreitende Kriminalität, unkontrollierte Migration,
nukleare Sicherheit - all das erfordert eine immer engere Zusammenarbeit der
Europäischen Union mit ihren Nachbarregionen. Darum müssen die Partnerschafts-
und Kooperationsabkommen der Europäischen Union mit Rußland, der Ukraine und
den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion jetzt umgesetzt werden - bis hin
zur Schaffung einer gesamteuropäischen Freihandelszone. Sie würde nach der
Erweiterung der Europäischen Union über 700 Millionen Menschen umfassen: ein
Jahrhundertprojekt, das wir entschlossen anpacken müssen! Zur Vision eines
gesamteuropäischen Wirtschafts- und Wachstumsraums von Dublin bis Vladiwostok
gehört auch eine gesamteuropäische Infrastruktur. Die Bahn-Magistrale Paris-
Warschau-Moskau ist nur der Anfang für die Vernetzung ganz Europas durch
gemeinsame Verkehrswege, durch Telekommunikation und Energieversorgung.

Stabilitätsexport muß die Europäische Union auch nach Süden leisten. Von
Algerien über den Nahen Osten bis Afghanistan ist sie von einem Krisenbogen
umgeben. Was dort passiert, betrifft uns unmittelbar. Im Mittelmeerraum lebten
1950 zwei Drittel der Bevölkerung entlang des Nordufers - in 25 Jahren wird
das Verhältnis umgekehrt sein. Deshalb strebt die Europäische Union eine
euro-mediterrane Partnerschaft mit unseren Nachbarn rund um das Mittelmeer an,
einschließlich einer Freihandelszone bis zum Jahre 2010. Deshalb ist die
Europäische Union größter Geber im nahöstlichen Friedensprozeß. Und darum ist
es für uns so wichtig, daß wir die Türkei als strategisches Scharnier in der
Region auf Europa-Kurs halten.

Vor wenigen Wochen haben Deutsche und Amerikaner beim Staatsbesuch von
Präsident Clinton hier in Berlin bekräftigt: Europa braucht Amerika - Amerika
braucht aber auch Europa! Auch im Zeitalter der Globalisierung haben Europäer
und Amerikaner mehr gemeinsame Interessen als mit jedem anderen Partner. Ich
weiß, wir sind bei manchen Fragen nicht immer einer Meinung. Aber wir teilen
eine gemeinsame Sicht der Welt, wie sie sein sollte: gegründet auf
Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft.

Deshalb müssen Europäer und Amerikaner gemeinsam handeln: nicht nur in der
NATO, sondern auch bei den "global issues". Wir brauchen deshalb mehr
transatlantische politische Zusammenarbeit. Wir brauchen eine transatlantische
Wirtschaftspartnerschaft, in der Zölle und andere Handelshemmnisse immer
weiter abgebaut werden. Deshalb hatte
ich schon 1995 die Schaffung einer Transatlantischen Freihandelszone (TAFTA)
vorgeschlagen. Die Fusion Daimler/
Chrysler läßt erahnen, was auf dem transatlantischen Marktplatz möglich ist.
Ich bin sicher, der Euro wird der transatlantischen Partnerschaft gut
bekommen. Amerika will ein starkes, prosperierendes Europa - und dafür ist der
Euro die beste Voraussetzung.

Die Globalisierung kam nicht über uns wie ein Naturereignis. Die Politik hat
nationalstaatliche Grenzen und Märkte geöffnet, um neue Freiheitsräume zu
eröffnen - für die Menschen und für die Wirtschaft. Aber auch im Zeitalter der
Globalisierung lösen sich die Probleme nicht von allein - die Politik ist
weiter gefordert. Verläßliche Rahmenbedingungen für die Globalisierung zu
schaffen - das ist eine der großen Herausforderungen für die
Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert. Eine internationale Ordnungspolitik
mitzugestalten, ist eine Zukunftsaufgabe für die deutsche Außenpolitik. Kein
Zweifel, nichts können wir weniger gebrauchen als globalen Dirigismus, wie das
einige fordern. Aber die Asienkrise hat gezeigt: Globalisierung braucht
Spielregeln - sonst droht Chaos.

Das verlangt handlungsfähige Institutionen, vor allem VN, G8, IWF, WTO und
Weltbank. Die großen VN-Konferenzen der vergangenen Jahre über die "global
issues" haben gezeigt: Wir brauchen globale Lösungsansätze. Als Beitragszahler
Nummer drei in der VN leistet Deutschland dazu einen maßgeblichen Beitrag. Die
VN braucht schlankere Strukturen, sie muß durch regionale Organisationen - wie
etwa die OSZE - entlastet werden. Der Weltsicherheitsrat muß reformiert
werden. Seine Zusammensetzung ist anachronistisch, sie gibt die
Machtverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkrieges wider. Deshalb sieht die
überwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft in Deutschland und Japan ebenso
wie in den großen Weltregionen natürliche Anwärter auf einen ständigen
Sicherheitsratssitz. Auch die G8 sollten darüber nachdenken, wie die neuen
Schwergewichte in der Weltpolitik in die Abstimmung unter den großen
Industriestaaten einbezogen werden können.

Die Globalisierung eröffnet vielen Staaten erstmals die Chance, zu den
Industrienationen aufzuschließen. Krisen wie jetzt in Asien zeigen aber: Wir
brauchen ein internationales Finanzsystem mit effizienter Krisenvorsorge und
Krisenmanagement. Der IWF darf nicht länger auf Kosten des internationalen
Steuerzahlers den Lückenbüßer für mangelnde Krisenvorsorge spielen.

Die Globalisierung zu einem Erfolg für alle zu machen - das ist nicht nur die
Aufgabe der Regierungen. Auch die neuen "global players" tragen Verantwortung:
transnationale Unternehmen und auch Nichtregierungsorganisationen. Wir müssen
deshalb über neue Partnerschaften zwischen Regierungen, Wirtschaft und
Nichtregierungsorganisationen im Zeitalter
der Globalisierung nachdenken. Die Entwicklung eines modernen globalen
Finanzsystems ist eines von vielen möglichen Feldern für eine neue
"public-private partnership".

Freihandel ist der Motor der Weltwirtschaft und die Quelle von Wohlstand. Das
muß auch in Zukunft so bleiben. Protektionismus und Dirigismus sind
Auslaufmodelle aus der wirtschaftspolitischen Mottenkiste. Aber wir brauchen
allgemein anerkannte Spielregeln für die Weltwirtschaft: für Investitionen,
Dienstleistungen, Wettbewerb und den Schutz des geistigen Eigentums. Die WTO
ist dafür unverzichtbar. Auch Umwelt und soziale Standards gehören dazu. Auch
in der internationalen Umweltpolitik muß die Europäische Union Vorreiter sein.
Die Weltklimakonferenz von Kioto hat gezeigt, was die Europäische Union
erreichen kann, wenn sie mit einer Stimme spricht.

Globalisierung eröffnet für die Staaten und Regionen auch die Chance, sich
über gemeinsame Werte zu verständigen. Die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte und die VN-Menschenrechtspakte müssen Richtschnur für Staaten
und Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung sein. Umfassender
Menschenrechtsschutz ist die beste Krisenvorsorge. Deshalb setzen wir uns bei
der gerade in Rom laufenden Staatenkonferenz für die Schaffung eines
Internationalen Strafgerichtshofes ein. Für Verbrecher gegen die
Menschlichkeit darf es keine Straffreiheit geben!

Ich weiß, in den großen Weltkulturen gibt es unterschiedliche Sichtweisen der
Menschenrechte. Gerade deshalb brauchen wir den "Dialog der Kulturen", nicht
den "Kampf der Kulturen". Mit neuen Feindbildern ist niemandem geholfen! Ich
bin überzeugt, wenn wir den Kulturdialog ernst nehmen, werden wir mehr
Gemeinsamkeiten entdecken, als das heute viele für möglich halten. Die goldene
Regel - "Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem andern zu"
- gibt es in jeder Sprache. Deshalb müssen und können wir auch mit schwierigen
Partnern den Dialog über die Menschenrechte führen.

Zur Globalisierung gehören nicht nur die glitzernden Metropolen und
Boomtowns. Über 1,5 Milliarden Menschen leben in Armut - oft ohne Aussicht auf
ein menschenwürdiges Dasein. Ruanda, Burundi, Somalia und Zaire zeigen: Neben
der Globalisierung gibt es auch Fragmentarisierung. Staaten brechen
auseinander - mit furchtbaren Folgen für die Menschen.

Die schrecklichen Bilder aus den Gefängnissen in Ruanda werde ich nicht
vergessen. Zu einer glaubwürdigen Weltordnungspolitik gehört die Partnerschaft
zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden. Für uns Deutsche heißt das:
Die Entwicklungspolitik ist und bleibt unverzichtbarer Bestandteil unserer
Verantwortungspolitik.

Wer heute global bestehen will, muß seine Hausaufgaben machen. Die
Globalisierung ist nicht die Ursache unserer Schwierigkeiten. Sie deckt aber
unsere Mängel auf - und bestraft sie. Ein Beispiel: Globalisierung bedeutet
globaler Wettbewerb der Bildungs- und Forschungsstandorte. Deutschland braucht
eine Bildungsoffensive, die die nachwachsende Generation vorbereitet auf die
globale Wissens- und Informationsgesellschaft. Das verlangt mehr Flexibilität,
mehr Wettbewerb und mehr Bekenntnis zu Leistung in Schulen und Hochschulen.
Hier haben wir Reformbedarf. Die Bundeshauptstadt Berlin sollte hier mit gutem
Beispiel vorangehen.

In der globalen Wissensgesellschaft muß Deutschland auch für ausländische
Eliten, für Studenten und Wissenschaftler attraktiv bleiben. Seit Jahren setze
ich mich dafür ein - vereinfachte Visaverfahren, englischsprachige
Studiengänge und die Einführung von Masters- und Bachelor-Studiengängen haben
wir erreicht.

Die Globalisierung verlangt von uns Weltläufigkeit und Weltoffenheit wie nie
zuvor. Wer sich abschottet, gehört zu
den Verlierern der Globalisierung. Deshalb brauchen wir
eine lebendige, offene Auswärtige Kulturpolitik. Deshalb ist ein
funktionsfähiger Auswärtiger Dienst mit einem weltweiten Netz
hochqualifizierter Mitarbeiter kein Luxus, sondern schlichte Notwendigkeit.
Sicher, manches kann delegiert werden. Die Ausführung der Auswärtigen
Kulturpolitik durch die Mittlerorganisationen ist hierfür ein besonders
erfolgreiches Beispiel. Es zeigt auch: Die große Kulturnation Deutschland
bekennt sich zu ihrer Vielfalt, sie verzichtet auf jede Staatskultur.

Dennoch, die Anforderungen an den Auswärtigen Dienst sind gestiegen.
Multilaterale Diplomatie, die Eröffnung von vierzig neuen Vertretungen in
vielen neuen Ländern, Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität und
illegaler Einwanderung - all das fordert mehr, nicht weniger Personal
und Mittel. Ich habe seit meinem Amtsantritt der Außenwirtschaftsförderung
höchste Priorität eingeräumt - über ein Drittel meiner Mitarbeiter arbeitet in
diesem Bereich. Die Reaktionen aus der Wirtschaft sind durchweg positiv. Aber
hierfür müssen auch die notwendigen Mittel bereitgestellt werden. Wenn wir
über die deutsche Außenpolitik im Zeitalter der Globalisierung diskutieren,
muß deshalb auch die Frage beantwortet werden: Wieviel ist dem
wirtschaftsstärksten Land Europas ein funktionsfähiger Auswärtiger Dienst wert?

Dem großen englischen Historiker Arnold Toynbee verdanken wir die Einsicht:
In der Geschichte behaupten sich auf Dauer nur die Kulturen und Völker, die
auf neue Herausforderungen zukunftsfähige Antworten finden. Die
Herausforderung des Kalten Krieges haben wir gemeistert. Deutschland ist
vereint, und das Tor zur friedlichen Einheit Europas ist weit geöffnet. Aber
Urlaub von der Geschichte gibt es nicht. Jetzt geht es für uns Deutsche
darum, in und mit einem friedlich geeinten Europa die Globalisierung zu
gestalten. Zu Angst und Kleinmut haben wir keinen Grund. Die Globalisierung
bedeutet Herausforderung und Chance zugleich. Lassen Sie uns diese Chance
entschlossen ergreifen, auch hier von Berlin aus - als europäische Deutsche!