- Bulletin 80-89
- 24. August 1989
bundeskanzler dr. helmut kohl gab am 22. august
1989 vor der bundespressekonferenz in bonn folgende
erklaerung zur deutschlandpolitik und zum problem der
wachsenden zahl von fluechtlingen aus der ddr in die
bundesrepublik ab:
1.
wir alle sind in diesen wochen durch die berichte und bilder
aus budapest und ost-berlin aufgewuehlt, die uns vor augen
fuehren, wie maenner, frauen und kinder - unsere deutschen
landsleute - einen weg in die freiheit suchen.
niemanden in unserem land darf das schicksal dieser
menschen gleichgueltig lassen. das muss auch die
bereitschaft einschliessen, diejenigen, die zu uns kommen,
mit offenem herzen aufzunehmen. die bundesregierung tut
alles, was in ihren kraeften steht, um den betroffenen
menschen zu helfen.
ich fuege jedoch hinzu: niemand sollte versuchen, aus dieser
schwierigen lage parteipolitisches kapital zu schlagen.
wenn wir im interesse der menschen zu einer loesung
kommen wollen, erfordert dies verantwortungsbewusstsein
auf allen seiten. darin moechte ich ausdruecklich auch die
medien einschliessen.
2.
fuer die jetzt entstandene lage traegt ausschliesslich die
ddrfuehrung die verantwortung. wir werden sie daraus nicht
entlassen. alle muessen wissen - auch die
zufluchtsuchenden -, dass nicht die bundesregierung ueber
ihre ausreise entscheiden kann, sondern nur die ddr.
ohne die ddr wird sich eine loesung auch in budapest nicht
finden lassen. dabei moechte ich an dieser stelle
ausdruecklich die konstruktive haltung der ungarischen
regierung hervorheben.
die bundesregierung steht mit der fuehrung der ddr in
kontakt. ich habe mich - wie sie wissen - persoenlich an
generalsekretaer honecker gewandt. kanzleramtsminister
seiters hat am freitag gespraeche in ost-berlin gefuehrt.
wir werden auch weiterhin alle zur verfuegung stehenden
moeglichkeiten ausschoepfen, um die sed-fuehrung zu einer
raschen und fuer die betroffenen menschen akzeptablen
loesung zu bewegen. nicht rechthaberei, sondern
menschlichkeit ist jetzt gefragt.
3.
ich selbst bin sofort zu einer begegnung mit
generalsekretaer honecker bereit, wenn damit weitreichende
und dauerhafte erleichterungen fuer die menschen erreicht
werden koennen.
4.
die bundesregierung ist entschlossen, an ihrer bisherigen
politik der verstaendigung und zusammenarbeit mit der ddr
im interesse der menschen in beiden deutschen staaten
festzuhalten. wir wuenschen keine konfrontation.
die ddr-fuehrung muss jedoch wissen, dass eine fortdauer
des jetzigen zustandes die beiderseitigen beziehungen
erheblich belasten kann. daran koennen beide seiten nicht
interessiert sein.
zugleich erinnern wir die ddr-fuehrung mit allem nachdruck
an die strikte einhaltung ihrer verpflichtungen aus dem
ksze-prozess. dazu gehoert auch die umfassende
gewaehrung von freizuegigkeit. je mehr menschen reisen
duerfen, desto besser fuer die gesamtsituation.
der gesamteuropaeische prozess ist ein ganzes. die ddr
kann nicht einerseits die engere zusammenarbeit
beispielsweise mit der europaeischen gemeinschaft suchen
und andererseits in humanitaeren fragen eine haltung
praktizieren, die dem geist und buchstaben der ksze-
verpflichtungen zuwiderlaeuft. von deutschem boden duerfen
auch keine fluechtlingsstroeme mehr ausgehen.
5.
diese ksze-verknuepfung gilt analog auch fuer den
bilateralen bereich. gerade diese bundesregierung hat die
zusammenarbeit mit der ddr auf breiter grundlage fortentwickelt -
ich nenne nur den verkehr, den umweltschutz, aber auch
die wirtschaftlich-industrielle kooperation.
wir sind - ich sage dies ausdruecklich auch an dieser stelle
und zu dieser zeit - bereit, diese zusammenarbeit
konsequent fortzusetzen, denn sie kommt letztlich den menschen
in der ddr zugute. diese zusammenarbeit war und ist aber
eng verknuepft mit den humanitaeren fragen, die fuer uns im
geteilten deutschland eine elementare rolle spielen. diese
balance darf nicht in frage gestellt werden.
6.
die bundesregierung hat stets deutlich gemacht, dass
niemand an einer krisenhaften entwicklung in der ddr mit
moeglicherweise verhaengnisvollen folgen fuer ganz europa
ein interesse haben kann. die ddr-fuehrung muss sich aber
fragen lassen, was sie selbst tut, um einer solchen
entwicklung entgegenzuwirken.
aus den zeugnissen der menschen, die in diesen tagen in
den westen gelangt sind, wissen wir, dass es vor allem die
erstarrung des dortigen systems und das fehlen jeder
hoffnung auf veraenderung sind, die die menschen dazu
bringen, der ddr den ruecken zu kehren.
wer - wie immer mehr menschen in der ddr - fuer sich
keine zukunft sieht, wird auch zukuenftig jedes schlupfloch
zum entkommen als einzigen ausweg sehen.
es kann die ddr-fuehrung nicht verwundern, dass diese
stimmung in dem masse zugenommen hat und noch
zunimmt, als sich ringsum in osteuropa tiefgreifende
veraenderungen in richtung auf demokratisierung, oeffnung
und reformen durchsetzen, die den menschen neue freiheiten
bringen.
die ddr darf sich solchen entwicklungen nicht laenger
verschliessen. es reicht jetzt nicht mehr, an den symptomen
herumzukurieren.
europa - und ich meine das ganze europa - befindet sich in
einem hoffnungsvollen aufbruch. es kann nicht im interesse
der ddr sein, sich hiervon zu isolieren oder gar diesen
prozess aufhalten zu wollen. sie muss diese historische
chance nutzen und ihren beitrag fuer eine
gesamteuropaeische friedensordnung leisten.
wir - und ich meine nicht nur die bundesrepublik
deutschland, sondern die laender des westens insgesamt -
sind zu einer konstruktiven zusammenarbeit ueber die
systemgrenzen hinweg bereit. wir haben dies durch vielfache
initiativen, nicht nur zur wirtschaftlich-finanziellen
kooperation, sondern vor allem auch auf dem feld von
abruestung und ruestungskontrolle, unter beweis gestellt.
auch die sed-fuehrung sollte die zeichen der zeit erkennen.
ein kuenftiges "europaeisches haus" kann nicht auf
repression gebaut, sondern muss auf dem fundament von
freiheits- und buergerrechten errichtet werden.
7.
die entwicklung der letzten wochen hat deutlich gemacht,
dass die deutsche frage - entgegen dem, was hier und da
auch bei uns gesagt wird - nach wie vor auf der
tagesordnung der internationalen politik steht. der wille der
deutschen zur einheit in freiheit ist ungebrochen. was die
loesung der deutschen frage betrifft, hier sind nicht nur die
deutschen allein gefordert. hierbei vertrauen wir vor allem
auch auf die besondere verantwortung der drei
westmaechte.
das verhaeltnis der beiden deutschen staaten zueinander ist
aber zugleich ein wesentliches element der stabilitaet in
europa, das alle europaeischen staaten beruehrt.
in der gemeinsamen erklaerung, die generalsekretaer
gorbatschow und ich am 13. juni in bonn unterzeichnet haben,
sprachen wir von der "vorrangigen aufgabe" unserer politik,
"zur ueberwindung der trennung europas beizutragen". die
jetzige lage beweist die dringlichkeit dieser aufgabe.