Zur Verleihung des Deutsch-Polnischen Preises an die Europa-Universität Viadrina - Rede von Bundesminister Dr. Kinkel in Frankfurt an der Oder

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Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, hielt anläßlich
der Verleihung des Deutsch-Polnischen Preises an die
Europa-Universität Viadrina und das Collegium Polonicum in Slubice
am 22. November 1995 in Frankfurt an der Oder folgende Rede:

Der deutsch-polnische Preis wird heute zum dritten Mal verliehen.
Nach Tadeusz Mazowiecki, Willy Brandt, Stanislaw Stomma und
Marion Gräfin Dönhoff wird heute erstmals eine Institution geehrt:
die Europa-Universität Viadrina und das von ihr und der Universität
Posen gemeinsam betriebene Collegium Polonicum in Slubice.

Ich freue mich sehr über diese Entscheidung des Preiskomitees.
Sie fordert uns auf, den Blick nach vorn zu richten: auf unsere
gemeinsame Zukunft im vereinten Europa. Denn hier in der Viadrina
wird in das Europa von morgen investiert.

Dem Gründungssenat und seinem Vorsitzenden, Prof. Knut Ipsen,
und Ihnen, Magnifizenzen, als Rektoren möchte ich herzlich für ihre
großartige Aufbauarbeit danken. Mein Dank richtet sich auch an die
Städte Frankfurt und Slubice und auch an das Land Brandenburg
für ihren engagierten Einsatz für die Viadrina und ihre Studenten.

Die Europa-Universität Viadrina stärkt das Band zwischen
Deutschland und Polen. Sie tut dies in europäischer Perspektive.
Diese Verklammerung mit dem europäischen Gedanken ist auch
der Kern der deutschen Politik gegenüber Polen.

Polen, Deutschland und Europa gehören untrennbar zusammen.
Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze und die Ausreise
der Botschaftsflüchtlinge aus Prag führten 1989 zum Fall der Berliner
Mauer. Aber ein entscheidendes Signal für den Umbruch in Mittel- und
Osteuropa und damit auch für die deutsche Einheit war die polnische
Auflehnung gegen das kommunistische System. Dies werden wir
Deutsche den Polen nicht vergessen. Deutsche und Polen wissen,
daß es zu Europa keine Alternative gibt. "Polens Weg nach Europa
führt über Deutschland", sagte der erste Außenminister nach der
polnischen Wende, Krzysztof Skubiszewski.

Nach nur drei Jahren Lehrbetrieb hat die Viadrina bereits über
1800 Studenten; mehr als ein Drittel von ihnen kommen aus Polen -
ein klarer Beweis für die Anziehungskraft dieser europäischen
Begegnungsuniversität hier an der deutsch-polnischen Grenze.

Schon die alte Viadrina, 1506 als erste brandenburgische
Universität gegründet, war ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost
und West. Die Hälfte ihrer Studenten kam von ostwärts der Oder,
vor allem aus Polen, aber auch aus Litauen, Ungarn, Böhmen und
Mähren, dem Baltikum und aus Rußland.

Die neue Viadrina knüpft an diese Tradition an und stellt sich damit
ihrer europäischen Verpflichtung. Sie unterhält enge Kontakte zu ihren
Partneruniversitäten in Posen, Stettin, Breslau und Krakau.
Mit der Gemeinschaftsgründung des "Collegium Polonicum" in Slubice
haben die Viadrina und die Universität Posen eine enge Zusammenarbeit
begonnen, die auch in ihren grenzüberschreitenden Inhalten ohne Beispiel
ist. Ich wünsche mir, daß diese Öffnung für Europa bei den Hochschulen
in Deutschland viele Nachahmer findet.

Nirgendwo in der Welt leben die Völker so eng zusammen wie in Europa.
Wir sind untrennbar in Nachbarschaft verbunden: geographisch, kulturell,
wirtschaftlich und politisch. Das europäische Drama war, daß wir diese
Nachbarschaft lange Zeit falsch gelebt haben. Wir haben uns in
Erbfeindschaft, Haß, Krieg und Gewalt geflüchtet. Wir haben getrennt,
was nicht zu trennen ist. Aber wir haben daraus gelernt.

Wir Deutsche haben zwei Nachbarn, denen wir im Guten wie Bösen ganz
besonders verbunden waren: Frankreich und Polen. Mit Frankreich haben
wir nach dem Zweiten Weltkrieg endlich zu einer besonderen Freundschaft
und Partnerschaft gefunden. Was über den Rhein hinweg gelang,
muß auch über die Oder und Neisse hinweg gelingen! Ich bin überzeugt,
daß wir dies schaffen werden. Es ist erklärtes Ziel der deutschen Politik.

Doch ganz soweit ist es noch nicht. Zuviel ist geschehen. Wir Deutsche
vergessen nicht, daß Polen das erste Opfer des von Hitler begonnenen
Angriffskrieges war, und wir vergessen nicht die damit verbundenen unsäglichen
Leiden des polnischen Volkes. Umso dankbarer sind wir für den Weg, den
wir gemeinsam in den vergangenen Jahren zurückgelegt haben. Bundespräsident
Herzog hat in Warschau vor über einem Jahr von Versöhnung und Verständigung,
von Vertrauen und guter Nachbarschaft gesprochen. All das wächst. Ich freue
mich sehr darüber, daß gerade wir, Deutsche und Polen, unsere nachbarschaftliche
Zusammenarbeit so eng entwickelt haben.

Der vor fünf Jahren unterzeichnete Vertrag über die Bestätigung der zwischen
Deutschland und Polen bestehenden Grenze war der große Befreiungsschlag:
mehr als alles andere schuf er die Grundlage für das wachsende Vertrauen,
das Deutsche und Polen heute verbindet. In diesem Herbst häufen sich die
Jubiläen: 30 Jahre Briefwechsel deutscher und polnischer Bischöfe, 25 Jahre
Unterzeichnung des Warschauer Vertrags, 6 Jahre Gemeinsame Erklärung von
Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki - Zeit also für eine
Standortbestimmung.

Sie, Herr Bartoszewski, haben in Ihrer großen und mutigen Rede vor dem
deutschen Bundestag gesagt: "es gibt heute keinerlei grundlegende
Streitfragen mehr in den polnisch-deutschen Beziehungen." Und in Ihrer
Regierungserklärung werteten Sie die Veränderungen in den deutsch-polnischen
Beziehungen sogar als "eine der wichtigsten Umwälzungen der gesamten
europäischen Geschichte". Ja, so ist es! Wer hätte dies noch vor wenigen
Jahren vorherzusagen gewagt?

Die Bundesrepublik Deutschland will die Politik der Versöhnung, der
Integration und der wirtschaftlichen Verflechtung, die sie in den letzten
40 Jahren so erfolgreich nach Westen betrieben haben, nach Osten ausdehnen.

Wir tun dies auf vielfältige Weise: Im deutsch-polnischen Jugendaustausch
nutzen wir die positiven Erfahrungen, die wir mit Frankreich gemacht haben.
Die trilaterale Zusammenarbeit im "Weimarer Dreieck" zwischen Polen,
Frankreich und Deutschland hat sich als neuartiger Rahmen politischer
Zusammenarbeit bewährt und wird auf immer neue Bereiche ausgedehnt.
Deutschland ist Polens wichtigster Handelspartner. Unser Handelsaustausch
mit Polen wächst schneller als mit den meisten anderen Partnern in Mittel- und
Osteuropa. Polen weist derzeit die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten
in ganz Europa auf. Polen ist sozusagen ein europäischer "Tiger"! Hiervon
profitieren in erster Linie die neuen Bundesländer, für die der Austausch mit
Polen eine besondere Bedeutung hat. Um diesen fruchtbaren Austausch
weiter zu fördern, muß die Lage an den Grenzübergängen weiter verbessert
werden. Hier bleibt noch viel zu tun.

Sie, Herr Szczypiorski, haben 1994 am Tag der Deutschen Einheit in Bremen
gesagt: "Es gibt kein Europa ohne die Gotik von Krakau und Prag, ohne die
Brücken von Budapest". Wie wahr! Nach vielen Jahrzehnten sowjetischer
Unterdrückung ist Polen jetzt wieder Subjekt der europäischen Geschichte.
Dies muß durch eine möglichst rasche Integration Polens in die
euroatlantischen Organisationen besiegelt werden. Seien Sie versichert:
Deutschland bleibt verläßlicher Partner und Anwalt Polens bei seiner
"Rückkehr nach Europa". In seinem Wunsch, Mitglied der Europäischen
Gemeinschaft und der NATO zu werden, kann Polen sich auf Deutschland
und auf Klaus Kinkel verlassen!

Der Zug rollt in Richtung Beitritt. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen,
daß er nicht an Tempo verliert. Die Regierungskonferenz 1996 muß die
praktischen Voraussetzungen für die Erweiterung schaffen. Wir wollen
in allen wichtigen Fragen eine enge Abstimmung auch mit Polen.
Denn die Fragen, die auf der Regierungskonferenz behandelt werden,
gehen nicht nur die Westeuropäer, sondern alle Europäer an.

Zusammen mit meinem französischen Kollegen und Ihnen,
Herr Bartoszewski, habe ich mich beim kürzlichen Treffen des
Weimarer Dreiecks für eine rasche Aufnahme von Verhandlungen über
den Beitritt der assoziierten Staaten Mittel- und Osteuropas nach der
Regierungskonferenz ausgesprochen. Mit den ersten von ihnen - und
dazu wird Polen gehören - sollten die Verhandlungen über die Erweiterung
um die Jahrhundertwende unter Dach und Fach sein.

Mit einem Zitat von Ihnen, lieber Herr Bartoszewski, möchte ich schließen.
In Ihren "Erinnerungen" äußern Sie die Hoffnung, daß Polen und Deutsche
zukünftig nur noch "ganz normale Menschen" füreinander sein sollen, "anerkannt
als Mensch und nicht beurteilt aufgrund der nationalen Herkunft".
Dieser Vision bringt uns die Viadrina ein Stück näher.