zum gedenken an den 17. juni 1953 - sitzung des deutschen bundestages

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bundesminister a. d. dr. dr. h. c. erhard eppler hielt
zum gedenken an den 17. juni 1953 in der sitzung des
deutschen bundestages am 17. juni 1989 folgende
ansprache:

herr bundespraesident,
verehrte frau praesidentin,
meine damen und herren!

ich bedanke mich fuer die gelegenheit, zum deutschen
bundestag zu sprechen, dem ich 15 jahre anzugehoeren die
ehre hatte, und ich bedanke mich fuer das ungewohnte,
belastende privileg, zu parlamentariern zu sprechen, die mir
nicht sofort antworten koennen. ich will mich bemuehen,
dieses privileg nicht zu missbrauchen. ich stehe, wenn dies
gewuenscht wird, in den naechsten wochen allen fraktionen
dieses hauses zur diskussion zur verfuegung.
ich freue mich, dass ich vor ihnen das thema
wiederaufgreifen darf, das mich vor vier jahrzehnten in die
politik getrieben hat, das ueber nacht wieder draengender,
brisanter geworden ist und uns mehr den je verbindliches reden
abverlangt.
wir haben schrille toene aus laendern gehoert, denen wir uns
freundschaftlich verbunden wissen. verwundert und verwirrt
sehen wir uns mit angsttraeumen konfrontiert, die mit
unseren hoffnungen nichts zu tun haben. ein
gesamtdeutschland, dem westen abgewandt, der europaeischen
bindung muede, im bunde mit der sowjetunion auf dem weg zur
oekonomischen hegemonie in zentral- und osteuropa, ein
viertes reich aus der asche der nato erstehend - solche
befuerchtungen sind offenbar auf einem anderen stern
angesiedelt als unsere hoffnungen. sie haben auch nichts zu
tun mit dem willen derer, die heute vor 36 jahren auf die
strasse gingen.
wie kommen ernsthafte kommentatoren ausgerechnet jetzt
zu solchen visionen? jetzt, am ende der achtziger jahre,
lockern sich ueberall ideologische bindungen, nationale
bindekraefte und antriebskraefte werden wirksamer. der
marxismus-leninismus hat nationale konflikte nicht ueberwinden,
er hat sie nur aufstauen koennen.
polen und ungarn besinnen sich auf ihre nationalen
traditionen. nationale spannungen drohen jugoslawien zu
sprengen. die baltischen voelker pochen auf
eigenstaendigkeit. nationale konflikte am kaukasus und am
kaspischen meer streifen den rand des buergerkriegs. es brechen
also auch nationale gegensaetze auf, die schon in den
nationalstaaten des letzten jahrhunderts angelegt waren. das
gilt auch fuer westeuropa, fuer flamen und wallonen, schotten
und iren, basken und bretonen.
ich teile die meinung derer, fuer die es in einer welt der
ozonloecher, der sterbenden meere und waelder wichtigeres
gibt als nationale wuensche oder gar vorurteile. aber wir
werden auch das menschenwuerdige ueberleben aller nur
erreichen, wenn wir die ganze wirklichkeit, also auch
nationale realitaeten im blick haben.
roman herzog hat vor einem jahr an dieser stelle martin
walser so interpretiert, dass "eine gewisse identifizierung mit
dem volk, in das man hineingeboren ist, zu den natuerlichen
beduerfnissen und regungen der meisten menschen
gehoere". ich fuege hinzu: wo solche identifikation verwehrt
wird oder misslingt, koennen andere, gefaehrlichere das
emotionale vakuum fuellen, wie wir sie bei jugendsekten oder
auch in fussballstadien beobachten.
die alternative zu nationalen loyalitaeten ist keineswegs die
uneingeschraenkte herrschaft der vernunft.
neu - und fuer mich ermutigend - ist, dass nationale
identifikation sich heute nicht mehr notwendig an nationalstaaten
festmachen, auch nicht auf den nationalstaat zielen muss,
dass sie oft an weit aeltere bindungen anknuepft. es koennte
sogar sein, dass die europaeischen nationalstaaten von zwei
seiten her erodieren: von der europaeischen gemeinschaft
her und, gewissermassen von unten, von den regionalen
traditionen, sprachen, dialekten und kulturen her.
daher tun wir gut daran, uns wie roman herzog an ernest
renans pragmatischen begriff von nation zu halten. nation
als "plebiscite de tous les jours", das sagt laengst nicht
alles, was zum thema nation zu sagen waere. aber es verweist
auf das politisch entscheidende: zu einer nation gehoert, wer
sich dazu bekennt, solange er sich dazu bekennt.
nation ist nichts unzerstoerbares, nationen werden und
vergehen, aber eben nicht durch beschluesse von
gipfelkonferenzen oder gar parteitagen. bezogen auf uns deutsche:
zu unserer nation gehoert, wer sich dazugehoerig fuehlt. und
dieses gefuehl, zusammenzugehoeren, ist nach wie vor
lebendig, in der ddr sogar staerker als in dieser republik.
es gibt einen unterschied zwischen dem, was heute etwa im
baltikum oder in jugoslawien brodelt, und dem, was in
deutschland geschehen koennte. ob slowenen, serben und
kroaten in einem staate leben wollen, ist allein ihre sache.
die waende, die sie allenfalls zwischen sich aufrichten
koennen, beruehren nicht die statik des europaeischen hauses.
die haessliche wand aus eisen und beton, die durch
deutschland gezogen wurde, hat mehr mit der statik dieses
europaeischen hauses zu tun, als uns lieb ist. wer sie abreissen
will, muss die statik des ganzen hauses neu durchrechnen,
moeglicherweise das ganze haus umbauen. was aus
deutschland wird, interessiert alle europaeer.
so wie wir unsere nachbarn bitten muessen, zur kenntnis zu
nehmen, dass die deutschen noch immer tagtaeglich
fuereinander votieren, so duerfen wir deutschen keinen
augenblick vergessen: es gibt wesentlich mehr europaeer, die
an der teilung deutschlands festhalten wollen, als solche, die
mit dem politischen system der ddr sympathisieren. natuerlich
hat die existenz der ddr etwas mit den
sicherheitsinteressen der sowjetunion zu tun, unabhaengig davon,
wer sie regiert. die abneigung der polen gegen eine gemeinsame
grenze mit einem gesamtdeutschen staat wird nicht in dem
masse abnehmen, wie der katholische einfluss auf die
polnische politik zunimmt. was wir aus frankreich, italien oder
grossbritannien hoeren, deutet nicht darauf hin, dass man die
ohnehin labile balance in westeuropa gestoert sehen will.
auch in den vereinigten staaten ziehen einflussreiche
gruppen jede form der deutschen teilung jeder form der einheit
vor.
trotzdem scheint sich in der fuehrung der ddr so etwas wie
existenzangst breitzumachen. auch das ist nur allzu
verstaendlich. polen oder ungarn sind tausend jahre aelter als
die dort herrschenden staatsparteien. die ddr ist nicht
aelter als die sed, sondern juenger. die existenz der ddr
wurde und wird begruendet in der sprache der staatspartei,
in sozialen, ideologischen, nicht nationalen kategorien.
perestroika in einer ddr, die immer dem natuerlichen sog
des groesseren, reicheren, freieren deutschen staates
ausgesetzt sein wird, ist in der tat schwieriger und gefaehrlicher
als anderswo. sie ist riskanter, aber eben nicht weniger
noetig.
wir duerfen uns nicht wundern, wenn jetzt, wo nationale
wellen ueber europa hinwegziehen, unsere nachbarn wieder
darueber raetseln, was wir deutschen wollen. wir haben
bisher nicht praezise und detailliert genug sagen koennen,
was in deutschland geschehen soll, wenn der eiserne vorhang
rascher als erwartet durchrostet. vielleicht werden wir es
nie so genau sagen koennen, dass dies alle beruhigt.
aber eines koennen wir heute schon sagen: es gibt zwischen
allen politischen kraeften dieses hauses in der
deutschlandpolitik mehr konsens als kontroverse, auch wenn dieser
konsens notwendig stiller und unauffaelliger ist als der streit.
jedenfalls erscheint mir, was ich jetzt aufliste, als konsens
einer ueberwaeltigenden mehrheit der demokratischen kraefte:
erstens: die deutschen haben, wie alle voelker, ein recht
auf selbstbestimmung. es ist nicht verwirkt, auch nicht
durch das, was deutsche europa angetan haben.
zweitens: dieses recht ordnen wir den erfordernissen
des friedens unter. diese haben immer prioritaet. was die
deutschen wieder naeher zusammenbringen soll, muss dem
frieden in europa dienen, ihn foerdern, es darf ihn nicht
gefaehrden.
drittens: wir treiben deutschlandpolitik als europaeer, in
europaeischer verantwortung. wir wollen mit unseren
nachbarn ein europa bauen, in dem die deutschen wieder
zusammenruecken koennen.
viertens: dies schliesst einen deutschen sonderweg aus.
buendnisfreiheit, neutralitaet war ein thema der fruehen
fuenfziger jahre. es hat sich erledigt durch die normative
kraft des faktischen.
fuenftens: wo wir in potentialen denken, in
oekonomischen, politischen oder gar militaerischen, denken wir
europaeisch. die zeiten nationaler machtpolitik in europa sind
fuer uns unwiderruflich zu ende.
sechstens: freiheit geht vor einheit. das hat fuer alle
fraktionen dieses hauses immer bedeutet, dass einheit in
unfreiheit nicht in frage kommt. aber es heisst heute auch:
mehr freie entfaltung und mitsprache fuer die menschen in
der ddr begruessen wir auch dann, wenn sie deren loyalitaet
zum andern deutschen staat staerken und damit diesen
staat stabilisieren. auch die bauarbeiter in der stalinallee
wollten zuerst einmal mehr freiheit und menschlichere
arbeits- und lebensbedingungen.
siebtens: wir sind ein durch und durch westliches land
geworden. unsere politische kultur ist und bleibt westlich
gepraegt. auch wer unter uns ueberzeugt ist, dass unsere
demokratie noch laengst nicht am ende ihrer moeglichkeiten
ist, pocht auf den westlichen wertekatalog. wo neue
bewegungen gegen naturzerstoerung oder ruestungswahn
demonstrieren, tun sie dies in den formen westlicher
buergerrechtsbewegungen.
achtens: die geschichte hat uns deutschen keine
besondere mission verliehen, aber die geographie stellt uns
vor besondere aufgaben. wir wandern nicht zwischen beiden
welten, aber die beiden bloecke, moegen sie fuer die
supermaechte den reiz ueberschaubarer einflusszonen haben, sind
fuer uns als mitteleuropaeer nur ein zeitweise notwendiges
uebel.
neuntens: die nato ist gegruendet worden, damit vor
allem die westeuropaeer so leben koennen, wie sie leben
wollen. eine ueberwindung der bloecke, die eben dies
sicherstellt und moeglicherweise den uebrigen europaeern endlich
die chance eben dazu gibt, ist fuer uns kein schreckbild,
sondern die rueckkehr zur europaeischen normalitaet.
zehntens: wenn die beiden teile europas
zusammenwachsen, muessen auch die beiden teile deutschlands
zusammenwachsen, aber eben so, dass das
zusammenwachsen europas dadurch nicht gestoert oder gar
blockiert wird.
wenn all dies - bei unterschieden in der interpretation -
politischer konsens ist, aus dem natuerlich die
rechtsradikalen herausfallen, dann fragt sich, was wir falsch
gemacht haben, wenn jetzt das gespenst eines hegemoniesuechtigen
deutschen nationalstaats neu belebt werden kann.
vielleicht hat dies zu tun mit dem abstand zwischen
grundsatzerklaerungen und fernzielen auf der einen, der
praktischen politik auf der anderen seite. diese kluft hat es
immer gegeben, aber sie ist heute gefaehrlicher als frueher. es
gab zeiten, da liess man die deutschen deklamieren, weil
man sicher war, dass daraus keine politische realitaet wuerde.
es lohnte sich nicht, zu widersprechen: zustimmung, wenn
ablehnung gesichert. diese zeiten sind vorbei. das
gespenst der gesamtdeutschen grossmacht geht um, und
nicht nur in europa.
niemand kann die deutsche zukunft so auf dem reissbrett
entwerfen, dass kein raum fuer zweifel und argwohn bliebe.
wie soll unser verhaeltnis zur ddr in einem gesamteuropaeischen
sicherheitssystem beschaffen sein? wie koennte
eine deutsche foederation innerhalb einer europaeischen
aussehen?
von daher verstehe und respektiere ich die mitglieder
dieses hauses, die reinen tisch machen, das thema der
deutschen einheit endgueltig von der politischen
tagesordnung streichen wollen. ihre haltung gruendet gewiss in
europaeischer friedensverantwortung. aber ich kann sie nicht
teilen. dabei will ich nicht verfassungsrechtlich, sondern
pragmatisch argumentieren.
die wir in west und ost damit beruhigen wollten, wuerden
uns gerade dies nicht glauben. sie wuerden sich eher an die
schroffen repliken halten, die ein solcher versuch ausloesen
muesste. wer uns misstraut, wuerde uns auch einen solchen
verzicht nicht abnehmen. und wer uns glauben wuerde, den
brauchen wir so nicht zu beruhigen.
es liegt nicht in unserer hand, ob wir europa das thema
deutschland zumuten wollen oder nicht. wir tun es, weil und
insofern es uns gibt, es kommt darauf an, wie wir es tun.
sicher sollten wir die sprache ueberpruefen, in der wir
unseren konsens verstaendlich machen wollen, die formeln, die
bei unseren nachbarn ganz anders wirken, als wir sie
meinen.
wenn wir von wiedervereinigung sprechen, dann hoeren
unsere nachbarn vor allem das "wieder". alles, so hoeren
viele, soll wieder so werden wie in den 74 jahren, in denen
es einen deutschen nationalstaat gab.
"es war mir nie zweifelhaft", schreibt bismarck in seinen
"gedanken und erinnerungen", "dass der herstellung des
deutschen reichs der sieg ueber frankreich vorhergehen
musste." bismarck wusste: ein deutsches reich setzte nicht
nur die niederwerfung der habsburgermonarchie, sondern
den militaerischen sieg ueber frankreich voraus. bismarck hat
europa den deutschen nationalstaat durch eine geniale
diplomatie und drei siegreiche kriege abgetrotzt.
geniale diplomatie ist in deutschland nicht die regel. und
die kriege koennen wir nicht mehr feiern, seit der so ertrotzte
nationalstaat im inferno des von ihm ausgeloesten zweiten
weltkriegs in sich zusammenbrach.
nun sitzt in diesem hause wahrscheinlich niemand, der den
nationalstaat der schimmernden wehr und der
auftrumpfenden grossmannssucht wiederhaben wollte. aber eben
diese erinnerungen schwingen mit, wenn unsere nachbarn das
wort "wiedervereinigung" hoeren.
wir muessen deutlich machen, dass wir nicht vergangenes
restaurieren, sondern neues schaffen wollen, und zwar
gemeinsam mit unseren nachbarn.
auch das reden von der "deutschen frage" hat
seine tuecken. ich weiss, dass dieser begriff schon im
19. jahrhundert seinen guten sinn hatte. er meint - zu
recht -, in und fuer deutschland sei eben nicht alles so
einfach wie fuer frankreich oder italien. es gibt keine
franzoesische oder britische oder spanische, wohl aber
eine deutsche frage.
problematisch an dieser redeweise ist das, was ich das
mathematische denken in der politischen sprache nennen
moechte. in aller welt und in allen systemen streiten sich
politiker darueber, wie man fragen, probleme loest. hier das
problem, dort die loesung, wie in der mathematik. das mag
im einzelfall sinnvoll sein. aber gerade bei den grossen
themen der politik erweist sich dieses denken als
unangemessen. denn so mathematisch sauber geht es im
menschlichen leben und damit auch in der geschichte der
menschen nicht zu.
probleme werden meist nicht, schon gar nicht ohne rest,
geloest, meist werden sie entschaerft, relativiert, auf eine
andere ebene gehoben, neu definiert oder auch nur
ueberlebt.
ich bin nicht sicher, ob es auf die "deutsche frage" nur eine
antwort, die endgueltige antwort gibt, die loesung fuer das
problem, und eben dies schwingt im begriff der "deutschen
frage" mit.
die loesung hat es bisher in tausend jahren nicht gegeben.
was bismarck europa abgetrotzt hat, war offenbar nicht
die antwort auf die "deutsche frage". aber eben auch
nicht, was heute wirklichkeit ist. und diese wirklichkeit ist
schon nicht mehr dieselbe wie vor zwanzig jahren.
was immer wir - oder unsere kinder - erreichen koennen,
wird wohl auch nur eine vorlaeufige antwort, eine
zwischenantwort sein. denn in dem masse, wie europa enger
zusammenwaechst und die nationalstaaten in europa aufgehoben
werden, veraendern sich die antworten auf das, was wir
"deutsche frage" nennen.
in der geschichte - anders als in der mathematik - ist auch
das gegenteil des falschen noch lange nicht das richtige.
wenn wir an der spaltung, an stacheldraht und
wachtuermen leiden, dann heisst dies noch nicht, dass die
deutschen um so gluecklicher sein muessen, je einheitlicher der
staat ist, in dem sie leben.
muessen wir die einheit, von der das grundgesetz spricht,
notwendig deuten als einen irgendwann erreichten
endzustand? sind wir den erfahrungen unserer geschichte
nicht naeher, wenn wir sie verstehen als geschehen, als
prozess, als wachsende gemeinsamkeit im tun, im
verantworten? dann waeren wir aufgefordert, auf die richtung
dieses prozesses einzuwirken, und das bedeutet heute
konkret: dafuer zu sorgen, dass, wenn die beiden teile
europas sich naeherkommen, auch die beiden teile deutschlands
zusammenruecken, dass der eiserne vorhang nicht anderswo
durchrostet, aber in deutschland mit rostschutzmitteln
konserviert wird.
dabei koennte sich herausstellen, dass die deutschen um
so rascher zusammenfinden, je weniger sie sich selbst
zum thema machen und je mehr sie gemeinsam impulse
fuer den frieden geben, an der bewahrung der schoepfung
arbeiten und sich um die lebenschancen der armen
voelker kuemmern.
wenn wir also sagen, die deutsche frage sei offen, dann
moechte ich hinzufuegen: sie ist so offen wie alle geschichte,
und sie wird nach menschlichem ermessen, wie alle
geschichte, nie geschlossen sein. diese frage ist auch
insofern offen, als es nicht nur eine, wohl auch keine
endgueltige antwort gibt. aber wir wollen, dass alle
teilantworten sich an dem orientieren, was wir uns als konsens
erarbeitet haben. wenn wir mehr geschichtlich und weniger
mathematisch denken, wird die kluft zwischen feierlichem reden
und alltaeglichem handeln kleiner, die kluft, aus der das
misstrauen kommt.
dies mag komplizierter, differenzierter klingen als manches,
was in deutschland als patriotisch gilt. aber wir wissen aus
unserer geschichte: es ist leichter, die nation mit simplen
parolen in katastrophen zu fuehren, als umsichtig und mit
augenmass ihren nutzen zu mehren, schaden von ihr zu
wenden und ihrer einheit zu dienen.
gerade wenn wir in prozessen, nicht in endzustaenden
denken, bleibt vieles unberechenbar. dazu gehoert die zukunft
der deutschen demokratischen republik. es gibt bei vielen
menschen dort so etwas wie ein ddr-bewusstsein, ein
manchmal fast trotziges gefuehl der zugehoerigkeit zu diesem
kleineren, aermeren deutschen staat, aus dem sie gerne
etwas machen wollen.
wenn ich mich nicht taeusche, war dieses gefuehl vor
zwei jahren staerker als heute. aber noch duerfte es in
der ddr eine mehrheit geben, deren hoffnung sich
nicht auf das ende, sondern auf die reform ihres staates
richtet.
wenn sich die fuehrung der sed allerdings weiterhin in jener
realitaetsblinden selbstgefaelligkeit uebt, die wir aus den
letzten monaten kennen, dann koennte in weiteren zwei jahren
aus dieser mehrheit eine minderheit geworden sein. wie
angstvoll muss die sed-fuehrung die wirklichkeit verdraengen,
wenn sie meinen sollte, der staat zwischen oder und elbe
koenne sich dem geist des wandels widersetzen, der ueber
moskwa, bug und weichsel schon das ostufer der oder
erreicht hat!
es mag mit dem bewusstsein gemeinsamer verantwortung
zusammenhaengen, dass die eiskalte rechtfertigung der
pekinger massaker durch die sed bei vielen menschen hier
wie dort weniger laute empoerung als stille scham ausgeloest
hat.
viele buerger der ddr empfinden, was vor jahren routine
war, heute als provokation. nicht nur fuer uns im westen
hatten die kommunalwahlen in der ddr etwas seltsam
irreales an sich. da gab es alles, was zu einer wahl gehoert,
wahlkampf, plakate, kandidaten, eine diskussion, die oft
auch kritischer, offener war als frueher, aber das alles war
doch eher ein schwimmkurs auf dem trockenen. was
fehlte, war der kopfsturz in das schwimmbecken der
volksmeinung, der nun einmal zu einer wahl gehoert.
um beim wasser zu bleiben: wir sehen ja ein, dass sich die
sed auf duennem eis bewegt. aber hier handelt es sich nicht
nur um duennes, sondern um tauendes eis, um das
schmelzende eis des kalten krieges. und wer sich da nicht
bewegt, aus furcht, er koenne einbrechen, duerfte dem kalten
wasser nicht entkommen. es wird viel kaelter sein als das im
schwimmbad.
wenn das eis des kalten krieges unter unser aller fuessen
schmilzt, kann die ddr auf dauer nur ueberleben, wenn sie
eine funktion erfuellt, die ihren eigenen buergerinnen und
buergern einleuchtet und den uebrigen europaeern zumindest
als interessant erscheint.
vielleicht waere es das experiment, in einer industriell
entwickelten gesellschaft gemeineigentum an den grossen
produktionsmitteln nicht nur mit sozialer sicherheit, sondern
auch mit freier diskussion zu verbinden, den fuer jede
moderne gesellschaft notwendigen dialog ueber die zukunft
anders, aber eben doch ebenso wirksam und erfolgreich zu
organisieren wie im westen, oekologische erneuerung ohne
den widerstand privatwirtschaftlicher interessen
exemplarisch zuwege zu bringen.
da ist der phantasie keine grenze gesetzt, nicht der
unseren, sondern der phantasie der betroffenen innerhalb und
ausserhalb der sed, die dies alles wollen und noch manches
dazu.
aber all dies ist unvereinbar mit dem monopol einer partei
auf macht und auf wahrheit. es reicht am ende des
20. jahrhunderts nicht aus, jene toleranz zu gewaehren, auf
die sich mancher fuerst des 18. oder 19. jahrhunderts
einiges zugute hielt, wenn er neben der privilegierten,
staatlich gestuetzten und den staat stuetzenden wahrheit
andere konfessionen zu dulden beliebte.
dialog ist nur moeglich unter gleichberechtigten. daher
bedeutet er verzicht auf jede privilegierte staatsdoktrin.
genau dies meinten die delegierten aus allen kirchen der
ddr, die kuerzlich in dresden feststellten:
der grundsaetzliche anspruch der staats- und parteifuehrung,
in politik und wirtschaft zu wissen, was fuer den
einzelnen und die gesellschaft als ganzes notwendig und
gut ist, fuehrt dazu, dass der buerger sich als objekt von
massnahmen, als "umsorgt" erfaehrt, aber viel zu wenig
eigenstaendige, kritische und schoepferische mitarbeit
entfalten kann . . . die dadurch gegebene spannung
zwischen regierenden und regierten verhindert den
inneren frieden, beeintraechtigt aber auch den
hausfrieden im gemeinsamen europaeischen haus.
wer mit der grundwertekommission der spd einen dialog
unter gleichberechtigten fuehren kann, bei dem keine seite
auf die idee kaeme, nur die wahrheit aus der tasche zu
ziehen, um sie stolz der andern unter die nase zu halten,
der muss auch in der lage sein, in einen solchen freien,
tabufreien, kritischen dialog mit buergerinnen und buergern
des eigenen staates einzutreten.
in dem gemeinsamen papier, das die
grundwertekommission der spd mit der akademie fuer
gesellschaftswissenschaften der sed ausgearbeitet hat, ist davon
die rede, dass beide seiten sich gegenseitig existenzberechtigung,
reformfaehigkeit und friedensfaehigkeit zugestehen.
gemeint waren die gesellschaftssysteme, nicht die einzelnen
staaten. ich bin aber bereit, dies auch auf die beiden
deutschen staaten zu beziehen.
was die existenzberechtigung angeht, moechte ich heute
hinzufuegen: keine seite kann die andere daran hindern, sich
selbst zugrunde zu richten.
was die friedensfaehigkeit betrifft: wer moechte michail
gorbatschow oder auch erich honecker die
friedensfaehigkeit abstreiten? sie sind nicht nur friedensfaehig,
sondern offenbar auch friedenswillig.
und was die reformfaehigkeit angeht, so geschehen im
osten inzwischen dinge, die auch in der
grundwertekommission noch niemand ahnen konnte, als sie sich
1986 an die ausarbeitung des papiers machte.
in diesem papier sagen beide parteien, jedes der
gesellschaftssysteme muesse auf die reformfaehigkeit des
andern setzen, nicht auf seine abschaffung. auch dies moechte
ich - ueber das papier hinaus - auf die beiden deutschen
staaten beziehen. aber ich tue es ohne zuversicht, was die
gegenwaertige fuehrung der sed betrifft.
was in der deutschen demokratischen republik zu leisten
ist, wenn sie in einem veraenderten europa die loyalitaet
ihrer buergerinnen und buerger und den respekt ihrer nachbarn
gewinnen soll, duerfte die generation der 75jaehrigen
ueberfordern, die um ihr lebenswerk bangt, auch wohl die der
60jaehrigen, die nicht mehr vom widerstand gegen hitler,
sondern vom begeisterten gehorsam gegenueber stalin
gepraegt wurde.
solcher zweifel und solche kritik kommen nicht aus der
unfaehigkeit, die welt aus der perspektive des andern zu
sehen. sie kommen aus der sorge, das, was sich heute in
der sowjetunion und zwischen den beiden teilen europas
an hoffnungsvollem anbahnt, koenne dadurch gestoert oder
gar zerstoert werden, dass in der ddr genau das geschieht,
was die sed-fuehrung verhindern will, aber durch ihre
aengstlichkeit eher herbeizieht.
sozialismus wird in europa nie uniform, aber - das wissen
wir heute - er wird demokratisch oder er wird nicht sein.
vielleicht wird nun wieder - entgegen dem, was wir ueber
eine kultur des politischen streits vereinbart haben - der
einwurf kommen, ich haette mich in die inneren
angelegenheiten der ddr eingemischt. nein, das will ich nicht.
aber ich will, dass sich die buergerinnen und buerger der ddr in
die inneren angelegenheiten ihres eigenen staates einmischen
koennen, und zwar nicht so, wie die sed dies zutraeglich
findet, auch nicht so, wie uns dies gefiele, sondern so, wie
sie es selbst fuer richtig und noetig halten.
ich habe gesagt, die sed bewege sich - oder bewege sich
eher nicht - auf dem abschmelzenden eis des kalten
krieges. in gewissem sinn gilt das auch fuer uns. nicht, was die
innere stabilitaet dieser republik angeht. sie haelt mehr aus
als die ddr, uebrigens auch, weil ihre parteien allesamt
gluecklicherweise viel weniger aushalten als die sed. aber
im verhaeltnis zu unseren verbuendeten spueren wir schon,
dass das eis des kalten krieges nicht mehr traegt.
natuerlich hatte die eingliederung der bundesrepublik in die
westliche verteidigung so rasch nach einer militaerischen
und moralischen katastrophe damit zu tun, dass jeder den
anderen brauchte. die vereinigten staaten brauchten die
bundesrepublik zum aufbau einer aktionsfaehigen nato,
und die deutschen suchten schutz vor dem stalinismus.
ich weiss, solches brauchen und gebrauchtwerden gehoert
zu jeder aussenpolitik, aber wo es allzu offen dominiert,
kann dauerhaftes vertrauen nur schwer wachsen. jetzt muessen
wir unseren platz in der westlichen gemeinschaft
behaupten, auch wenn das brauchen und gebrauchtwerden
weniger dringlich wird.
die bundesregierungen der neunziger jahre werden es
nicht leicht haben, die wuensche und rechte der deutschen
immer neu in einklang zu bringen mit den widerstreitenden
interessen zweier weltmaechte, aber auch der europaeer in
west und ost, und dies auf dem hintergrund eines
geschichtlichen schocks, der immer noch nachwirkt.
vielleicht koennen wir diesen regierungen die arbeit dadurch
erleichtern, dass wir einiges von dem gift entsorgen, das
immer noch aus den muellhalden deutschlandpolitischer
argumente sickert.
lassen sie mich, wie sich dies gehoert, bei mir selbst
beginnen. wie sie wissen, habe ich meine politische arbeit
begonnen als mitstreiter gustav heinemanns. ich habe
gegen die politik konrad adenauers angekaempft mit der
begruendung, so verspielten wir zumindest fuer dieses
jahrhundert die deutsche einheit.
dazu stehe ich auch heute. das jahrhundert neigt sich
seinem ende zu. aber ich habe heute wesentlich mehr
verstaendnis fuer die motive, das geschichtsbild und die
vision konrad adenauers und damit auch fuer seine
geradlinigkeit, die grandiose einseitigkeit und haerte
seines handelns.
fuer mich ist die grundentscheidung adenauers auch heute
weder die einzig moegliche noch die denkbar beste, wohl
aber eine geschichtlich legitime, vor der deutschen und
europaeischen geschichte verantwortbare. adenauer hat
durchgesetzt, was er im interesse seines landes mit
vertretbaren gruenden fuer die zwingende konsequenz aus der
deutschen geschichte hielt. seine entscheidung ist zur
unbestrittenen grundlage fuer das handeln aller geworden.
sie hat eine epoche unserer geschichte eingeleitet, die sich
- trotz der spaltung - sehen lassen kann.
wenn die linke seite dieses hauses dies so oder aehnlich
sagt, koennte dies vielleicht die rechte seite ermutigen,
einen anderen streit zu entschaerfen oder gar zu beenden.
vielleicht koennte sie sagen: natuerlich hat konrad adenauer
das getan, was in aller regel das leidige geschaeft jedes
handelnden politikers ist: er hat eine prioritaetsentscheidung
getroffen. ihm erschien, ganz gleich, wie ernst das angebot
stalins vom 10. maerz 1952 gemeint sein mochte, die rasche
integration der bundesrepublik in das westliche
verteidigungssystem wichtiger, richtiger und dringlicher als
die auslotung eines angebots, das bestenfalls zu jenem
parlamentarisch-demokratischen, aber buendnisfreien
gesamtdeutschland gefuehrt haette, das er fuer gefaehrlich und
gefaehrdet hielt.
fuer adenauer war schlicht das eine besser als das andere
- aus gruenden, die sich hoeren lassen -, und er hat
durchgesetzt, was er fuer besser hielt. kein politiker bekommt
alles auf einmal, sondern meist nur eines auf kosten des andern.
warum sollte es bei adenauer anders sein?
und vielleicht koennte die union hinzufuegen: im grunde
verhaelt es sich mit brandts ostpolitik ganz aehnlich. sie war
nicht der vollzug eines sachzwangs, ueber den sich nicht
streiten liesse, aber sie war eine legitime form deutscher
friedenspolitik, die form, in der willy brandt glaubte,
im interesse der deutschen konsequenzen aus ihrer
geschichte ziehen zu muessen, und zwar nicht nur aus der
geschichte von 1933 bis 1945, sondern auch aus den
grundentscheidungen, die mit dem namen adenauer
verbunden sind. dies zu sagen muesste am ende dieser woche
leichter sein als frueher.
wenn beide seiten sich so gegenseitig zwar nicht die
richtigkeit, wohl aber die uneingeschraenkte legitimitaet, die
volle verantwortbarkeit ihrer politik bescheinigen, koennten
sie den streit um die ernsthaftigkeit der sowjetischen
absichten getrost den historikern ueberlassen.
auch nach einer solchen entgiftung gaebe es in der
deutschlandpolitik nicht eitel eintracht. aber die sprache
koennte sich aendern. wir koennten zum beispiel endlich ein
wort verbannen, das eher den geistigen buergerkrieg als den
demokratischen streit signalisiert: das wort "verrat".
wir koennten gemeinsam sagen: weder hat adenauer die
deutsche einheit noch brandt die deutschen ostgebiete
verraten. sie taten - bei allem risiko des irrtums -, was
sie fuer noetig hielten, um schaden von unserem volk
abzuwenden.
wenn in den neunziger jahren die jeweilige bundesregierung
bei ihrem komplizierten spiel mit vielen baellen von
einer wachsamen opposition kritisiert wird, dann kann das
hilfreich sein. was wir uns aber nicht mehr leisten koennten,
sind auseinandersetzungen darueber, wer nun schon wieder,
wie 1952 oder 1972, was verraten habe, die deutsche
einheit, europa oder das buendnis.
wir wuerden uns damit nach aussen handlungsunfaehig
machen und nach innen nur denen zuarbeiten, die davon
leben, nach verraetern zu schnueffeln.
frau praesidentin, meine damen und herren, in letzter zeit
werde ich vor allem von juengeren menschen gefragt, ob wir
denn ein souveraener staat seien. ich pflege darauf zu
antworten: das ist nicht nur eine sache der paragraphen.
vielleicht sind wir so souveraen, wie wir uns verhalten.
und ich fuege heute im blick auf beide deutschen staaten,
auf ganz deutschland hinzu: je souveraener deutsche politik
wird, desto weniger bedarf sie des souveraenen
nationalstaats, um die einheit der deutschen darzustellen und
zu festigen.
(die anwesenden erheben sich und singen die nationalhymne)