verantwortung des geeinten deutschland fuer ein einiges europa - rede des bundesministers des auswaertigen

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der bundesminister des auswaertigen, hans-dietrich
genscher, hielt anlaesslich der verleihung der goldenen
europa-medaille der europa-union am 14. oktober 1990
in wuppertal folgende rede:

seit dem 3. oktober lebt das deutsche volk wieder in einem
demokratischen staat - zum ersten mal nach 57 jahren.
wir empfinden dankbar und ermutigend, dass uns die
voelkergemeinschaft mit ihrem vertrauen auf dem wege in die
staatliche einheit begleitet.
der aufbau einer freiheitlichen staats- und gesellschaftsordnung
in der bundesrepublik deutschland, die politik des
friedens und der verantwortung unseres staates hat uns
das vertrauen der voelker wieder erworben.
die friedliche freiheitsrevolution in der ddr hat die voelker
der welt ueberzeugt, dass die deutschen die chance der
freiheit fuer freiheit und frieden nutzen.
die welt hat erkannt, wir deutschen setzen auf die
friedensstiftende kraft von menschenrecht und menschenwuerde,
von freiheit und demokratie. es ist ein weiter weg, der uns
aus den truemmern des zweiten weltkriegs hierher gefuehrt
hat. es entstand die freiheitlichste und die sozialste staats-
und gesellschaftsordnung unserer geschichte.
aussenpolitische meilensteine dieses weges sind die
mitgliedschaften im europarat, im westlichen buendnis und in der
europaeischen gemeinschaft und der deutsch-franzoesische vertrag
von 1963.
mit diesen schritten kehrten wir zurueck in die gemeinschaft
der demokratien. diese deutsche vertragspolitik machte
den ksze-prozess und die schlussakte von helsinki moeglich,
die zur kursbestimmung fuer ein besseres europa werden
sollte.
mit den vertraegen von moskau und warschau, mit dem
vertrag mit der csfr und mit dem grundlagenvertrag mit
der ddr wurde die grundlage fuer ein neues verhaeltnis mit
unseren oestlichen nachbarn gelegt und das verhaeltnis der
beiden deutschen staaten fuer die zeit der staatlichen
trennung geregelt.
das vertrauen der voelker ist fuer uns deutsche ein
besonders kostbares gut. besinnung auf geschichte und verant
wortung bestimmen unsere gefuehle in diesen historischen
tagen, nicht nationalistischer ueberschwang. wir wissen um
unsere europaeische berufung.
das souveraene, demokratische und freiheitliche
deutschland in der europaeischen gemeinschaft wird der einheit,
der stabilitaet und dem fortschritt gesamteuropas verpflichtet
sein.
mit unserem gewachsenen oekonomischen und politischen
gewicht streben wir nicht nach mehr macht, sondern unsere
lage im herzen europas weist uns mehr verantwortung zu.
wir stellen uns dieser verantwortung, wir sind uns ihrer
bewusst.
wir zaehlen zu dieser verantwortung auch die bereitschaft
zur uebertragung wiedergewonnener souveraenitaet auf
gemeinsame institutionen, auf europaeische, aber auch auf
andere zwischenstaatliche. das bedeutet eine politik

- fuer den weg der europaeischen gemeinschaft hin zur
wirtschafts-, waehrungs- und politischen union,

- fuer die unterstuetzung der reformen in ganz mittel-ost-
europa, einschliesslich der sowjetunion,

- fuer die entwicklung der ksze hin zu konfoederativen
strukturen in ganz europa,

- fuer die entwicklung eines neuen, zukunftsgerechten
euro-amerikanischen verhaeltnisses.

die europaeische union muss nach den prinzipien der
subsidiaritaet und des foederalismus verfasst sein. ziel ist ein
lebendiger foederalismus, von dem buergernaehe nach innen und
solidaritaet nach aussen ausstrahlt und der damit die union
handlungsfaehig macht und den menschen naeherbringt.
der gemeinsame binnenmarkt, der am 1. januar 1993
wirklichkeit werden wird, kann sich nur dann voll entfalten,
wenn wir auch eine europaeische wirtschafts-, finanz- und
waehrungspolitik und eine europaeische waehrung haben.
wer sich gegen die wirtschafts- und waehrungsunion stellt,
verhindert, dass wir die fruechte des gemeinsamen
binnenmarkts zum 1. januar 1993 voll nutzen koennen. die
bereitschaft zur wirtschafts- und waehrungsunion ist der
lakmustest fuer den willen zur europaeischen union. sie verlangt,
nationalstaatliches denken auch in der wirtschafts- und
waehrungsunion durch europaeische gesinnung zu
ueberwinden. vor der staerke der d-mark muss niemand sorge haben,
der mit uns eine nicht minder starke europaeische waehrung
schafft.
ueber wichtige eckpunkte des ziels der wirtschafts- und
waehrungsunion besteht bereits weitgehend einigkeit. es
geht um die schaffung eines unabhaengigen und der
preisstabilitaet verpflichteten europaeischen zentralbanksystems
und einer europaeischen waehrung. erforderlich ist dafuer auch
eine effektive haushaltsdisziplin aller mitgliedstaaten.
wir muessen in der waehrungspolitischen praxis der zwoelf
regierungen den berechtigten erwartungen europaeisch
denkender unternehmen und gesellschaftlicher kraefte
entsprechen, die sich schon intensiv auf die vervollkommnung
des gemeinsamen marktes vorbereiten. deshalb muss die
zweite stufe der wirtschafts- und waehrungsunion zum
1. januar 1993 in kraft treten.
der britische beitritt zum wechselkursmechanismus des
ews, den ich ausdruecklich begruesse, war ein wichtiger
schritt in richtung auf die europaeische waehrungsintegration.
die europaeische gemeinschaft unterstreicht ihre
gestaltende rolle bei der schaffung des einen europa.
wir wollen uns dieser verantwortung gemeinsam mit den
partnern in der europaeischen gemeinschaft und im
westlichen buendnis stellen: bei der entwicklung einer
gesamteuropaeischen politik, bei der gestaltung enger und
vertrauensvoller beziehungen mit unseren mittel- und
suedosteuropaeischen nachbarn, ganz besonders mit polen.
das eine europa umfasst auch die sowjetunion. mit dem
deutsch-sowjetischen "vertrag ueber gute nachbarschaft,
partnerschaft und zusammenarbeit" wollen wir auch
gegenueber der sowjetunion unserer europaeischen verantwortung
gerecht werden.
die europaeische gemeinschaft ist ein kernelement und
nukleus der neuen gesamteuropaeischen entwicklung. je
schneller wir die europaeische union vollenden, desto mehr
foerdern wir die einheit gesamteuropas.
ich danke deshalb auch an dieser stelle den institutionen
der europaeischen gemeinschaft, an der spitze dem
praesidenten der kommission, jacques delors, aber auch dem
europaeischen parlament, fuer die grossen und erfolgreichen
anstrengungen, die eine rasche und geordnete
einbeziehung unserer neuen bundeslaender in die europaeische
gemeinschaft ermoeglichen. die gemeinschaft hat ihre
handlungsfaehigkeit und ihre solidaritaet eindrucksvoll unter
beweis gestellt.
die europaeische wirtschaft insgesamt - wie auch diejenige
der uebrigen oecd-staaten - muss nun ihre verantwortung
und ihre chance beim wirtschaftlichen aufbau des ganzen
europa erkennen.
nach lage und dank der bestehenden guten kontakte und
expertise ist das ehemalige ddr-gebiet fuer viele investoren
interessant als wirtschaftliches sprungbrett in den ganzen
mittel- und osteuropaeischen markt. mit den neuen
"europaabkommen" wird die europaeische gemeinschaft die
einfuehrung moderner strukturen in diesem grossen raum
wesentlich unterstuetzen. wir muessen den reformstaaten helfen,
nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich zu offenen
gesellschaften zu werden.
meine damen und herren, am 13. und 14. dezember
werden in rom die regierungskonferenzen ueber die
wirtschafts- und waehrungsunion und ueber die politische union
eroeffnet. ihr rascher abschluss bleibt unser festes ziel. diese
zukunftsweisenden reformen sollten von den mitgliedstaaten
so rechtzeitig ratifiziert werden, dass sie - zeitgleich
mit der vollendung des binnenmarktes zum 1. januar
1993 - in kraft treten koennen.
europa vermag seiner verantwortung nach aussen nur gerecht
zu werden, wenn es im innern stark ist. es gibt keine sinnvolle
alternative zu einer hochintegrierten europaeischen
gemeinschaft, im gegenteil: die letzten wochen und monate haben
immer wieder deutlich gemacht, wie wenig der nationale
rahmen geeignet ist, die wichtigsten uebergreifenden
aufgaben, wie in der wirtschaft und oekologie, der energie, der
verkehrswege und der telekommunikation zu loesen.
der vorschlag des niederlaendischen ministerpraesidenten
auf dem dubliner gipfel zur erarbeitung einer "charta fuer
eine europaeische energie-zusammenarbeit" erhaelt durch
die gegenwaertigen ereignisse am golf zusaetzliche
bedeutung. die internationale energieagentur (iea) mit ihrer
besonderen expertise und handlungsmoeglichkeit sollte
offen sein fuer die oestlichen reformstaaten, einschliesslich der
sowjetunion.
bundespraesident von weizsaecker hat kuerzlich in bruegge die
fuer die buerger oftmals verwirrenden und undurchschaubaren
entscheidungsprozesse in der gemeinschaft kritisiert.
wenn wir das "europa der buerger" schaffen wollen, dann
braucht die regierungskonferenz zur politischen union eine
klare und eindeutige politische zielvorstellung. die
menschen in europa muessen wissen, wohin der weg fuehrt.
es entspricht dem grundverstaendnis unserer gemeinschaft
demokratisch verfasster staaten, dass das europaeische
parlament endlich auch alle rechte eines parlaments erhaelt.
die union muss insbesondere auch eine gemeinsame
aussen- und sicherheitspolitik fuehren.
die europaeische gemeinschaft ist schon jetzt dabei, ihre
fuehrende rolle bei der schaffung des einen europa zu
unterstreichen:

- beim gemeinsam mit den efta-staaten angestrebten
grossen europaeischen wirtschaftsraum.

- bei der erneuerung ihrer von frankreich und deutschland
unterstuetzten gemeinschaftlichen mittelmeerpolitik.

- als motor der westlichen unterstuetzung fuer die
reformstaaten mittel- und osteuropas.

- als aktiver mitgestalter des ksze-gipfeltreffens in paris.

durch dieses engagement der gemeinschaft, mit ihren
zukuenftigen europa-abkommen, treten umriss und struktur
des neuen, einen europa jetzt deutlicher hervor.
in diesem europa darf die sowjetunion mit ihren voelkern
nicht fehlen. die sowjetunion kann die sich stellenden
probleme allein nicht bewaeltigen. aber sie kann die
entscheidenden rahmenbedingungen hierfuer schaffen: durch eine
effektive wirtschaftsreform und eine staatliche ordnung, die
den wuenschen ihrer voelker entspricht. dann vor allem kann
sich westliche kooperationsbereitschaft mit sowjetischen
eigenanstrengungen erfolgreich verkoppeln.
ich hoffe, dass das grundsaetzliche einvernehmen, das
hierueber beim europaeischen rat in dublin und beim
wirtschaftsgipfel in houston erzielt wurde, im zusammenwirken
mit der sowjetunion rasch zu greifbaren ergebnissen fuehrt.
zu dem neuen europa gehoert auch die enge freundschaft und
zusammenarbeit zwischen der europaeischen gemeinschaft
und den nordamerikanischen demokratien.
vor wenigen tagen hat das erste ksze-treffen der
aussenminister auf amerikanischem boden die untrennbare
verbindung der usa und kanadas mit dem europaeischen
schicksal eindrucksvoll unterstrichen. nordamerika ist durch
die ksze mit dem ganzen, unteilbaren europa verbunden.
die ueberwindung des ost-west-konflikts hat den blick
staerker geoeffnet fuer die notwendigkeit kooperativer
gestaltung im geiste der ksze auch in anderen nachbarregionen.
die bevorstehende ksze-gipfelkonferenz in paris wird den
ksze-prozess auf eine neue stufe heben. die ersten
gemeinsamen institutionen des neuen, des einen europa
werden geschaffen.
mit regelmaessigen tagungen der staats- und
regierungschefs und der aussenminister, mit einem
konfliktverhuetungszentrum und einem sekretariat werden erste
solide fundamente fuer eine dauerhafte kooperative friedensordnung
in europa entstehen, fuer eine europaeische konfoederation, in
der alle staaten unseres kontinents gleichberechtigt
zusammenarbeiten.
in dem neuen europa, das vor unseren augen gestalt
annimmt, kommen auf alle staaten und institutionen neue
aufgaben und moeglichkeiten zu. dies gilt nicht nur fuer die
europaeische gemeinschaft, die mit der herstellung der
deutschen einheit zum unmittelbaren nachbarn der
demokratien mittel- und osteuropas geworden ist.
dies gilt auch fuer institutionen wie den europarat, dessen
wirken fuer die menschenrechte und den rechtsstaat sowie
fuer die kulturelle vielfalt gerade in den schweren zeiten des
ost-west-konflikts fuer den anderen teil europas von
mahnender bedeutung war.
der europarat kann wesentlich beitragen zur schaffung des
einen europa. seine parlamentarische versammlung
koennte sich schritt fuer schritt zum kern einer neuartigen
parlamentarierversammlung im rahmen der ksze-
teilnehmerstaaten entwickeln.
fuer alle institutionen und zusammenschluesse gilt: europa
wird sich am besten aus der abgestimmten
zusammenarbeit bestehender institutionen, nicht aus ihrer
konkurrenz entwickeln.
das ende der ost-west-konfrontation und ein neues
verhaeltnis zwischen den mitgliedstaaten der beiden sich
wandelnden buendnissysteme machen den weg frei fuer neue
kooperative sicherheitsstrukturen in europa.
mit den ergebnissen der wiener verhandlungen ueber
konventionelle abruestung und vertrauensbildung wird ein neues
fundament gelegt fuer kooperative sicherheitsstrukturen im
rahmen der ksze. sie werden unsere gemeinsame sicherheit
ergaenzen und zusaetzlich staerken, die wir im rahmen der
westlichen allianz in den letzten jahrzehnten so erfolgreich
gewaehrleistet haben. sie sollen zugleich die neuen
demokratien im osten kooperativ in europa einbinden und auch
ihnen zusaetzliche sicherheit bieten.
ein modernes sicherheitssystem fuer ganz europa muss
eingebettet sein in die schaffung tragfaehiger politischer,
oekonomischer, sozialer und oekologischer rahmenbedingungen fuer
die grossen veraenderungsprozesse im westen und im osten
europas.
die zukunft gehoert einer umfassenden stabilitaetspolitik, in
der militaerische faktoren eine immer geringere rolle
spielen. sie wird weitere mittel frei machen fuer die konversion
militaerischer macht in friedliches wachstum, fuer ein
gemeinsames wohlergehen aller europaeer.
auf dieser grundlage werden auch ueber europa hinaus
materielle, geistige und politische kraefte frei fuer die
bewaeltigung der globalen herausforderungen, vor die wir alle
gestellt sind: die beseitigung der unterentwicklung in der
dritten welt, die bewaeltigung der verschuldung, die
bewahrung unserer umwelt. hier muss europa durch eine politik
des guten beispiels vorangehen.
der europaeische weg hat uns zu unserer deutschen einheit
gefuehrt, europa bleibt unser ziel und unsere berufung. wir
bitten die voelker europas, die deutsche verpflichtung, die in
dieser berufung liegt, anzunehmen.
deutschland und seine partner, ganz besonders frankreich,
muessen sich drei grossen herausforderungen unserer zeit
stellen:

erstens: wir wollen die europaeische gemeinschaft
vollenden zur europaeischen union. zielstrebigkeit und
entschlossenheit, europaeische gesinnung und europaeische
verantwortung muessen sich bei der gestaltung dieses
werkes erweisen.
zweitens: wir wollen das ganze europa, das eine
europa schaffen. das europa, das alle europaeischen
staaten einbezieht, und keinen ausschliesst. das europa, das
sich auf sich selbst besinnt, auf seine grosse gemeinsame
kultur, die das ergebnis der vielfalt der beitraege aller
voelker ist. das europa, dem sich die sowjetunion unter der
fuehrung gorbatschows wieder zugewandt hat, was jeden daran
erinnern sollte, dass an der ostgrenze polens ost-europa
beginnt und nicht west-asien. das ganze europa, mit dem
die nordamerikanischen demokratien untrennbar
verbunden sind durch die gemeinschaft der werte, durch das
westliche buendnis, durch den ksze-prozess und, wie ich
hoffe, auch bald durch eine transatlantische erklaerung der
werdenden europaeischen union mit diesen beiden fuer uns
so wichtigen freunden.

drittens: wir wollen zu einer neuen ordnung fuer die welt
beitragen. einer ordnung, in der die vereinten nationen die
rolle erfuellen koennen, die ihre gruender ihr zugedacht haben.
eine weltordnung, in der die erfahrungen regionaler
zusammenschluesse in europa und europaeischer
friedenspolitik genutzt werden. eine weltordnung, in der europa
seine verantwortung erfuellen muss bei der bewaeltigung der
globalen herausforderungen, bei der bewahrung des
friedens, bei der ueberwindung von hunger, not und armut in
der dritten welt und bei dem weltweiten schutz der
natuerlichen lebensgrundlagen.
wir deutschen - wieder in einem staat vereint - sind dazu
bereit, und ich bin gewiss, unsere partner sind es auch.