Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!

Seit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan werden wir Zeugen davon, wie die Taliban in kürzester Zeit Provinzen und Städte wiedererobert haben und dabei sind, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Wir werden Zeugen davon, mit welcher Verzweiflung unzählige Menschen versuchen, auf den internationalen Flughafen in Kabul zu gelangen, um einen Platz in einem rettenden Flugzeug aus dem Land heraus und in die Sicherheit und die Freiheit zu bekommen. Und wir werden Zeugen furchtbarer menschlicher Dramen, wenn zum Beispiel Eltern ihre Babys und Kleinkinder irgendwie über die Mauern des Flughafens in die rettenden Hände verbündeter Soldaten zu bringen versuchen oder wenn Menschen im Gedränge vor dem Flughafen in Panik zu Tode getreten werden.

Die Entwicklungen der letzten Tage sind furchtbar; sie sind bitter. Für viele Menschen in Afghanistan sind sie eine einzige Tragödie, ganz besonders für diejenigen, die sich für eine freie Gesellschaft, für Demokratie und Bildung eingesetzt haben und die nun um ihre Sicherheit fürchten müssen. Die Entwicklungen sind aber auch bitter für alle Verbündeten, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gegen den Terrorismus und für freiheitliche Strukturen gekämpft und gearbeitet haben.

Meine Gedanken sind bei den Soldatinnen und Soldaten, die ihren Einsatz mit ihrem Leben bezahlt haben, unter ihnen auch 59 Deutsche. Meine Gedanken sind auch bei all denen, die von ihrem Einsatz in Afghanistan bleibende Verletzungen an Leib und Seele davongetragen haben.

Gestatten Sie mir in dieser Minute auch ganz persönlich, gleichsam stellvertretend an einen Beamten des Bundeskriminalamtes zu erinnern, der im Sommer 2007 zusammen mit Kameraden bei einem Terroranschlag in Afghanistan ums Leben kam. Ich kannte ihn gut, weil er zuvor in meinem Personenschutzkommando gearbeitet hat. Er war, wie damals so viele seiner Kollegen und Kameraden, mit großem Idealismus nach Afghanistan in den Einsatz gegangen. Nur wenige Wochen später, zum Ende des Jahres 2007, wäre sein Afghanistan-Einsatz beendet gewesen, und er wäre in mein Personenschutzkommando zurückgekehrt.

Nach seinem Tod habe ich den Kontakt zu seinen Eltern nicht verloren; aber ich kann gleichwohl nur ahnen, wie groß ihr Schmerz und der Schmerz aller Angehörigen von in Afghanistan Gefallenen und ums Leben gekommenen zivilen Helfern gerade jetzt wieder sein muss, da nach der Machtübernahme der Taliban alles so vergeblich, so umsonst erscheint, auch der Tod ihrer Liebsten.

Dass der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan die afghanische Regierung und die afghanischen Sicherheitskräfte unter erheblichen politischen und militärischen Druck setzen würde, war natürlich allen bewusst. Sonst hätte die internationale Gemeinschaft sich in den letzten Jahren mit der Entscheidung, aus Afghanistan abzuziehen, nicht so schwergetan. Und dass der gesamte Einsatz mit der Haltung des militärisch Stärksten im Bündnis, der USA, buchstäblich steht und fällt, war uns immer klar. Auch dass es Kämpfe mit den erstarkten Taliban geben könnte, nachdem die internationalen Truppen abgezogen sein würden, haben wir, hat die internationale Gemeinschaft erwartet.

Unterschätzt aber haben wir, wie umfassend und damit im Ergebnis wie atemberaubend schnell die afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Truppenabzug ihren Widerstand gegen die Taliban aufgeben beziehungsweise, dass sie einen solchen Widerstand gar nicht erst aufnehmen würden. Das wurde noch einmal beschleunigt in dem Moment, als die politische Führung Afghanistans aus dem Land geflohen war.

Wir alle zusammen, die wir in Afghanistan engagiert waren, also die gesamte internationale Koalition, wir alle haben die Geschwindigkeit dieser Entwicklung ganz offensichtlich unterschätzt. Das gilt auch für Deutschland.

Auch wenn man in der aktuellen Diskussion manchmal einen etwas anderen Eindruck bekommen kann: Deutschland ist ja keinen Sonderweg gegangen, für den es sich jetzt, wie zum Beispiel bei der Enthaltung im Fall Libyens im UN-Sicherheitsrat im Jahre 2011, kritisieren lassen müsste. Nein, wir haben seit 2001 gemeinsam mit unseren Verbündeten gehandelt und tun es auch jetzt in der Evakuierungsoperation. Mit der sich rasant verschlechternden Sicherheitslage haben wir unsere Botschaft in Kabul gemeinsam mit anderen evakuiert. Wie andere Verbündete auch haben wir die Bundeswehr beauftragt, eine Luftbrücke nach Kabul einzurichten, um deutsche Staatsbürger, unsere afghanischen Ortskräfte und besonders gefährdete Afghanen auszufliegen. Deutschland war unter den ersten Alliierten, die mit militärischen Kräften vor Ort eingetroffen sind. In dieser Phase hat die Bundesregierung die Obleute und die Fraktionsvorsitzenden des Bundestages fortlaufend unterrichtet.

Seit Montag letzter Woche steht die Luftbrücke. Sie ist bereits jetzt die größte Evakuierungsoperation in der Geschichte der Bundeswehr. Über 4.600 Menschen wurden bislang von deutschen Kräften aus Afghanistan ausgeflogen und in Sicherheit gebracht – deutsche Staatsbürger, Afghanen, insgesamt Staatsangehörige aus etwa 45 Nationen. Fast die Hälfte der Ausgeflogenen sind Frauen. Viele andere Staaten beteiligen sich an der Luftbrücke. Dies ist ein internationaler Einsatz.

Die Bundeswehr ist mit fast 500 Soldatinnen und Soldaten und robusten Fähigkeiten am Flughafen Kabul und in Taschkent im Einsatz. Sie bringen nicht nur deutsche Landsleute und weitere Schutzbedürftige in Sicherheit, sondern unterstützen auch unsere amerikanischen Partner dabei, Menschen einen Zugang zu den Flugzeugen zu ermöglichen. Auch Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul unterstützen dabei.

Ich habe am Sonntag mit Brigadegeneral Arlt telefoniert, der den Einsatz der Bundeswehr vor Ort leitet und mir die Bedingungen dieses Einsatzes schilderte. Ich denke, ich darf ihm und allen Soldaten, natürlich auch den Bundespolizisten in Ihrer aller Namen von dieser Stelle aus unsere Anerkennung und unseren größten Dank für die Professionalität und die Ausdauer aussprechen, mit denen die Bundeswehr und die verbündeten Truppen diese so überaus fordernde Lage bewältigen.

Mein Dank gilt auch unseren Kräften in Taschkent in Usbekistan genauso wie der usbekischen Regierung, die uns die Versorgung der ankommenden Menschen ermöglicht. Und wirklich nicht zuletzt danke ich den Mitarbeitern unserer Botschaft in Kabul und im Krisenstab der Bundesregierung, die rund um die Uhr arbeiten.

Wir bemühen uns weiterhin mit allen Kräften, vor allem den Afghanen zum Verlassen des Landes zu verhelfen, die Deutschland als Ortskräfte der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungszusammenarbeit zur Seite gestanden und sich für ein sicheres, freies Land mit Zukunftsperspektiven eingesetzt haben.

Viele haben gefragt, warum wir die Ortskräfte nicht früher evakuiert haben. Ich kann diese Frage verstehen und möchte ausführlich auf sie eingehen. Das Bild ist differenziert. Seit 2013 haben wir gefährdete Ortskräfte der Bundeswehr und der Polizei und ihre Familienangehörigen über das Ortskräfteverfahren kontinuierlich nach Deutschland geholt, wenn sie von den Taliban bedroht wurden. Zwischen 2013 und August dieses Jahres sind im regulären Verfahren über 1.000 Ortskräfte mit ihren Familienangehörigen eingereist, insgesamt über 4.800 Menschen. Nach der Abzugsentscheidung der verbündeten Truppen haben in einem beschleunigten Verfahren 2.500 Ortskräfte und Familienangehörige Visa erhalten, und mit der Zuspitzung der Lage im Land wurde ein Visum nicht mehr erforderlich. – Das war die eine Seite.

Auf der anderen Seite waren wir immer von der Überzeugung geleitet, auch nach dem Abzug der internationalen Truppen für die Menschen in Afghanistan unsere deutsche Entwicklungszusammenarbeit fortsetzen zu wollen. Wir wollten ihnen auch unter schwieriger werdenden Bedingungen zur Seite stehen. Dafür sind wir auf Menschen vor Ort, also auf unsere Ortskräfte, angewiesen. Auch von ihnen waren sehr viele zur weiteren Arbeit in Afghanistan entschlossen. Und wenn ich das sage, dann will ich in keiner Weise die Verantwortung für getroffene Entscheidungen auf diese Menschen mit ihrer Haltung zu helfen abschieben. Aber ich möchte auf ein Dilemma bei Entscheidungen dieser Art hinweisen. Stellen wir uns für einen Moment vor, Deutschland hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundeswehr begonnen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitarbeitern und Ortskräften deutscher Hilfsorganisationen. Manche hätten dies sicher als vorausschauende Vorsicht gewürdigt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen werden. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung.

Aber bitte gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine etwas zugespitzte persönliche Anmerkung: Hinterher, im Nachhinein präzise Analysen und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert. Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos. Wir, die internationale Staatengemeinschaft, konnten aber nicht hinterher, im Nachhinein entscheiden, sondern mussten es in der damaligen Situation tun, in der es sehr gute Gründe dafür gab, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zur Seite zu stehen, ganz konkrete Basishilfe, von Geburtsstationen bis zur Wasser- und Stromversorgung, zu leisten.

Jetzt aber, da die Lage so ist, wie sie ist, konzentrieren wir uns mit ganzer Kraft auf die Evakuierungsflüge am Flughafen Kabul. Wir setzen uns für den Zugang für unsere Staatsangehörigen, Ortskräfte und schutzbedürftige Afghanen zum Flughafen ein. Darüber sprechen wir auch mit den Taliban.

Das Ende der Luftbrücke in einigen Tagen, zu dem der amerikanische Präsident Joe Biden gestern auch in den G7-Beratungen kein neues Datum genannt hat – ich habe darüber gestern berichtet –, darf nicht das Ende der Bemühungen bedeuten, afghanische Ortskräfte zu schützen und den Afghanen zu helfen, die durch den Vormarsch der Taliban in noch größere Not gestürzt worden sind.

Deshalb wird in diesen Tagen intensiv auf allen Ebenen daran gearbeitet, wie wir auch dann Wege schaffen können, weiter diejenigen, die uns geholfen haben, zu schützen, unter anderem durch einen zivilen Betrieb des Flughafens in Kabul.

Außerdem geht es darum, humanitäre Hilfe für diejenigen zu leisten, die jetzt diese Hilfe mehr denn je brauchen. Die Vereinten Nationen und insbesondere ihre Hilfsorganisationen beabsichtigen, ihre Arbeit in Afghanistan fortzusetzen, solange die Lage es zulässt. Dafür bin ich sehr dankbar. Tausende Menschen sind seit dem Vormarsch der Taliban auf der Flucht im eigenen Land oder versuchen, in Nachbarländer zu fliehen. Daher gilt es nun, zum einen in Afghanistan selbst den Menschen zu helfen, die es brauchen, und zum anderen dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge in der unmittelbaren Nachbarschaft, in den Nachbarstaaten Afghanistans, in der Region Sicherheit, Schutz und Perspektiven finden.

Dazu benötigen vor allem das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die Welthungerhilfe, Unicef, die Weltgesundheitsorganisation, das Welternährungsprogramm und die Nachbarn Afghanistans unsere Unterstützung. Die Bundesregierung beabsichtigt daher, neben den 100 Millionen Euro Soforthilfe weitere 500 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in Afghanistan und als Hilfe für die Nachbarstaaten, die Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen, bereitzustellen. Ich habe dazu mit dem Hohen Flüchtlingskommissar, Filippo Grandi, gesprochen, ebenso mit dem Premierminister Pakistans, Imran Khan, und dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan.

Trotz der rasanten Machtübernahme durch die Taliban bin ich überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft in den letzten 20 Jahren in Afghanistan auch Gutes bewirkt hat. Deutschland hat hierzu substanziell beigetragen und seinen Teil der Verantwortung übernommen, nicht zuletzt durch den parlamentarisch kontinuierlich breit unterstützten Einsatz der Bundeswehr. Wir haben das Ziel erreicht, das 2001 am Anfang des Einsatzes stand: Von Afghanistan sind seither keine internationalen Terroranschläge mehr ausgegangen. – Das war ein konkreter Beitrag zur Sicherheit unseres Landes und ist ein bleibendes Verdienst unserer Soldatinnen und Soldaten. Dafür gebühren ihnen der Dank und die Anerkennung unseres Landes.

Gleichwohl dürfen wir nicht die Augen vor der Gefahr verschließen, dass Afghanistan mit dem Abzug der Verbündeten wieder ein Hort internationaler Terrorgefahr werden kann. Das muss verhindert werden. Der internationale Einsatz in Afghanistan war für die Menschen in Afghanistan aber nicht vergebens, jedenfalls für viele individuelle Schicksale nicht. Das sehen wir allein schon, wenn wir auf ganz elementare Dinge schauen. So hat sich die Kindersterblichkeit in den letzten 20 Jahren halbiert. Fast 70 Prozent der Afghanen haben Zugang zu Trinkwasser; noch vor zehn Jahren waren es nur 20 Prozent. Über 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu Strom; 2011 waren es nicht einmal 20 Prozent.

Aber klar ist: Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan. Und viele Menschen in Afghanistan haben große Angst; davon zeugen nicht zuletzt die dramatischen Szenen am Flughafen. Diese neue Realität ist bitter; aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen. Unser Ziel muss sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir den letzten 20 Jahren an Veränderungen in Afghanistan erreicht haben, bewahrt wird. Darüber muss die internationale Gemeinschaft auch mit den Taliban sprechen; unkonditionierte Verabredungen allerdings kann und darf es nicht geben. Uns allen ist klar: Das wird schwer. Aber wir müssen es versuchen.

Wie wir dabei vorgehen, werden wir mit unseren europäischen und internationalen Partnern sehr eng abstimmen. In der EU, der Nato und den G7 haben die Beratungen hierzu schon begonnen; auch mit Russlands Präsident Putin habe ich darüber gesprochen. Dieser Dialog muss fortgesetzt werden. Gleichwohl haben wir die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan erst einmal gestoppt. Das war unerlässlich. Auch die EU, die Weltbank und der IWF haben beschlossen, Zahlungen an Afghanistan zunächst einzustellen. Auch das war unerlässlich.

Lassen Sie mich in drei Punkten zusammenfassen, was wir jetzt in und für Afghanistan tun.

Erstens. Wir setzen die Evakuierungsoperation so lange wie möglich fort, um auch Afghaninnen und Afghanen, die sich mit uns für Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung eingesetzt haben, das Verlassen des Landes zu ermöglichen.

Zweitens. Wir unterstützen die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen bei der Notversorgung der Menschen in Afghanistan, insbesondere das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen bei der Versorgung geflüchteter Afghanen in den Ländern der unmittelbaren Nachbarschaft. Hierfür werden wir uns auch innerhalb der Europäischen Union einsetzen.

Drittens. Wir scheuen nicht davor zurück, Gespräche mit den Taliban zu führen, um etwas von dem, was den Menschen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren zugutegekommen ist, bewahren zu können und um nach der Evakuierung weiterhin Menschen zu schützen.

In wenigen Wochen werden wir der verheerenden Terroranschläge des 11. September 2001 auf die Vereinigten Staaten von Amerika gedenken. Die Angriffe wurden damals von Afghanistan aus geplant. Die Taliban hatten Ende der 90er Jahre die Terrororganisation Al-Qaida beherbergt und sie so in die Lage versetzt, Dschihadisten auszubilden und Anschläge zu planen. Es war die Bekämpfung des von Afghanistan ausgehenden Terrors, die uns, nachdem die USA nach Artikel 5 des Nato-Vertrages die Nato um Beistand gebeten hatten, dazu bewogen hatte, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu beginnen – aus Solidarität mit unseren amerikanischen Verbündeten, aber auch zu unserer eigenen Sicherheit.

Der Satz des früheren Bundesverteidigungsministers Peter Struck, wonach unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde, brachte dieses Ziel wie kein anderer auf den Punkt. Und diesen Auftrag hatte die Bundeswehr in der Nato erfüllt.

Was als Einsatz gegen internationale Terroristen begann, wurde bald zu einem größeren Bemühen. So wandte sich der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer zur Eröffnung der Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen auf dem Petersberg bei Bonn am 27. November 2001 unter anderem mit folgenden Worten an die afghanischen Gäste:

„Ich appelliere an Sie: Schließen Sie einen wahrhaft historischen Kompromiss, der das Schicksal Ihres geschundenen Landes und seiner Menschen dauerhaft und nachhaltig zum Besseren wendet. (…) Das Engagement der internationalen Gemeinschaft wird nicht mit dem kommenden Frühjahr enden. Die Menschen in Afghanistan sollen wissen, dass sie auch nach dem Kampf gegen die Terroristen der Al-Qaida und gegen das Taliban-Regime nicht allein gelassen werden.“

In diesem Sinne machte es sich die internationale Gemeinschaft zum Ziel, freiheitliche Strukturen aufzubauen, Sicherheitskräfte auszubilden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu stärken, Menschenrechte, allen voran die Rechte von Mädchen und Frauen, zu verteidigen, Journalisten, Künstler und Unternehmer zu fördern, um bürgerliche Freiheiten zu stärken. Das war aller Ehren wert.

Und doch müssen wir uns heute angesichts der Lage kritische Fragen stellen. Warum ist es zu dem von Joschka Fischer vor bald 20 Jahren so richtigerweise beschworenen historischen Kompromiss der Afghanen untereinander nie so gekommen, dass daraus langfristige Stabilität entstehen konnte? Waren unsere Ziele zu ehrgeizig? Kamen diese Ziele und die mit ihnen verbundenen Werte bei aller Unterstützung aus der afghanischen Zivilgesellschaft wirklich bei der Mehrheit der Menschen in Afghanistan an?

Hätten die großen kulturellen Unterschiede ernster genommen, historische Erfahrungen stärker gewichtet werden müssen?

Haben wir das Maß der Korruption beziehungsweise ihre Wirkung bei den Verantwortlichen in Afghanistan unterschätzt?

Hat sich die internationale Gemeinschaft ausreichend für eine politische Befriedung und einen tatsächlich inklusiven politischen Prozess eingesetzt?

War es nicht mindestens extrem riskant, wenn nicht sogar falsch, in dem Abkommen der USA mit den Taliban zum Truppenabzug, das 2020 in Doha verhandelt wurde, feste Abzugsdaten zu verfügen? Wurde auch in diesem Zusammenhang die Kampfbereitschaft der afghanischen Streitkräfte überschätzt?

Ich stelle diese Fragen in dem Wissen, dass es vermessen wäre, schon heute fundierte oder gar abschließende Antworten zu geben.

Dafür werden wir Zeit brauchen, und diese Zeit sollten wir uns nehmen. Denn von den Antworten wird abhängen, welche politischen Ziele wir uns realistischerweise für zukünftige und für aktuelle weitere Einsätze im Ausland setzen dürfen. Dabei ist klar, dass jedes Engagement anders und daher einzeln zu bewerten ist. Ebenso klar ist, dass eine solche Analyse gemeinsam mit unseren Verbündeten in der Nato und im Kreis der Europäischen Union erfolgen muss.

Unsere unmittelbare Aufmerksamkeit liegt jetzt auf der Evakuierungsoperation. Angesichts der Gefahr im Verzug hat die Bundesregierung den Einsatz vor Zustimmung des Bundestages begonnen. Das vorliegende Mandat enthält alle erforderlichen militärischen Fähigkeiten und rechtlichen Möglichkeiten, um den Evakuierungsauftrag unter den schwierigen Bedingungen bestmöglich zu erfüllen.

Seit der ersten Entsendung von Bundeswehrangehörigen 2001 nach Afghanistan haben alle Mandatsanpassungen und Mandatsverlängerungen eine breite Unterstützung in diesem Parlament erhalten. Ich bitte Sie auch um Zustimmung zum vorliegenden Mandat für die Evakuierungsmission, wissend, wie bitter es ist, ein solches Mandat als Bundesregierung überhaupt einbringen zu müssen, aber auch in dem Bewusstsein, dass vieles in der Geschichte einen sehr langen Atem braucht. Deshalb dürfen und werden wir Afghanistan nicht vergessen. Auch wenn es in dieser bitteren Stunde nicht danach aussieht, so bin und bleibe ich der festen Überzeugung, dass keine Gewalt und keine Ideologie den Drang der Menschen nach Freiheit, nach Gerechtigkeit und nach Frieden dauerhaft aufhalten können.

Herzlichen Dank.