Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Wir alle hatten uns diesen dreißigsten Tag der Deutschen Einheit anders vorgestellt! Mit vollen Sälen und einem großen Bürgerfest, mit tausenden Menschen aus allen Teilen Deutschlands und aus unseren europäischen Nachbarstaaten, hier in Potsdam. Ein Fest, das die Vielfalt unseres Landes widerspiegelt.

Hätte, wollte, wäre – durch Corona haben wir uns beinah daran gewöhnt. Die Pandemie steht vielem im Wege, auch dem großen Fest der Einheit. Aber auch wenn das große Fest entfällt: Die Bedeutung des Tages bleibt. Der Tag der Einheit ist ein wichtiger Moment der Freude, der Erinnerung und der Ermutigung. Wir erinnern uns an die Friedliche Revolution, wir freuen uns über das Ende von Mauer und Todesschüssen, von Bespitzelung und staatlicher Bevormundung, wir stärken uns an dem Mut der Menschen im Herbst 1989. Wir blicken dankbar auf das Ende des Kalten Krieges und den Anbruch einer neuen Zeit.

Wir können zurückschauen auf den gemeinsamen Weg, den unser Land seitdem zurückgelegt hat, hin zu einem wiedervereinten, freiheitlichen, demokratischen Land in der Mitte Europas. Was für ein Glück! Was für eine Leistung! Darauf sind wir an diesem Tag zu Recht stolz – und: Keine Pandemie kann uns daran hindern, darauf stolz zu sein!

Jubiläen großer historischer Wendepunkte stehen für sich allein – meistens. In diesem Jahr hat das Gedenken an die nationale Einheit ein doppeltes Gesicht. Es ist ein denkwürdiger Zufall, dass sich fast genau zum 30. Geburtstag der Wiedervereinigung auch die Gründung des ersten deutschen Nationalstaates vor 150 Jahren jährt. Dieser Zufall schärft unseren Blick. Denn wie gegensätzlich waren beide Ereignisse, wie verschieden die Idee, die ihnen zugrunde lag.

Die nationale Einheit 1871 wurde erzwungen, mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn, gestützt auf preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus. Ich selbst war erst vor wenigen Tagen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden – ein große, eine gute Ausstellung – und von der Decke, in einer Ecke des Saales, hingen an langen Fäden zahllose Kinderbücher aus jener Zeit. In ihnen, kleine Jungen, die kaum über die Tischkante gucken konnten, aber bereits stolz die Soldatenuniform tragen und begeistert die Kriegstrommel schlagen. Diese Glorifizierung des militanten Nationalismus, diese Verherrlichung des Krieges, des Heldentodes, selbst von Kindesbeinen an, das war der unselige Geist der damaligen Epoche. Es war ein kurzer Weg von der Gründung des Kaiserreiches bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges.

Wie anders dagegen die Bilder, die wir alle von der Zeitenwende vor dreißig Jahren in uns tragen. Feiernde Menschen auf der Mauer, Freudentränen, Umarmungen. Soldaten und Volkspolizisten, die ihre Waffen fallen ließen. Die Angst hatte die Seiten gewechselt. Eine Staatsmacht war ohnmächtig, weil die Menschen ihr nicht mehr folgten.

Und noch etwas war anders: Die Wiedervereinigung von 1990 wurde gerade nicht begleitet von Säbelrasseln und Eroberungskriegen. Sie wurde international verhandelt, in ein Abkommen gegossen, und eingebettet in eine europäische und internationale Friedensordnung. Generationen von Politikerinnen und Politikern hatten diese Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut, allen Rückschlägen in den langen Jahren des Kalten Krieges zum Trotz.

Wir müssen uns auch heute immer und immer wieder klar machen: Ohne die Friedensabkommen mit Polen und der damaligen Sowjetunion, ohne die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, ohne Helsinki-Prozess, ohne NATO, ohne Europäische Union hätte die Wiedervereinigung nicht stattgefunden. Und auch nicht ohne den Mut von Michail Gorbatschow, der bald seinen 90. Geburtstag feiern wird. Das vergessen wir nicht, und dafür sagen wir herzlich danke!

Und auch ohne die Vereinigten Staaten von Amerika, ohne ihren unverzichtbaren Einsatz für eine starke und respektierte Nachkriegsordnung, ohne ihre unbedingte Unterstützung für die europäische Integration wären wir heute nicht wiedervereint. Diesem Amerika sagen wir an diesem Tag ausdrücklich danke! Unseren europäischen Freunden in der Nachbarschaft auch!

Ja, der Tag der Einheit macht uns bewusst, was wir an einer internationalen Ordnung haben, die heute so stark angefochten ist, leider auch in westlichen Gesellschaften. Wir Deutschen stehen zur internationalen Zusammenarbeit, auch wenn sie schwieriger geworden ist – gerade wenn sie schwieriger geworden ist: Wir wollen streiten für eine starke und faire internationale Ordnung, gemeinsam mit unseren Partnern in Europa. Auch das ist Lehre und Auftrag aus unserer Geschichte.

Wie grundsätzlich verschieden war 1871 von 1990. Mit eiserner Hand wurde im Kaiserreich auch nach innen durchregiert. Katholiken, Sozialisten, Juden galten als „Reichsfeinde", wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt; Frauen von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.

Heute leben wir in einem wiedervereinten Land, ohne zu erwarten, dass alle gleich sein müssen. „Wir sind das Volk", das heißt doch: „Wir alle sind das Volk": Bayern, Küstenbewohner, Ostdeutsche haben ihr eigenes Selbstbewusstsein. Landbewohner ticken anders als Städter. Christen, Muslime, Juden und Atheisten sind Teil unseres Landes. Ossis und Wessis gibt es weiterhin, aber diese Unterscheidung ist für viele längst nicht mehr die entscheidende. Durch das Zusammenwachsen von Ost und West, durch Zuwanderung und Integration ist unser Land in den letzten dreißig Jahren vielfältiger und unterschiedlicher geworden. Das friedliche Miteinander der vielen verschiedenen Menschen in unserem Land, dieses immer wieder zu organisieren, das ist die Aufgabe, vor der wir heute stehen. Eine Aufgabe, die, wie wir alle wissen, nicht immer einfach ist. Aber es ist eben Ausdruck der Freiheit, die dieses Land auszeichnet, für die so viele vor uns gekämpft haben, und ohne die wir nicht leben wollen.

Unsere Einheit ist eine Einheit in Freiheit und Vielfalt, eine Einheit, die Deutschland immer auch europäisch definieren muss! Wir haben uns entschieden gegen nationale Nabelschau, für ein europäisches Deutschland. Das genau ist der Weg, den wir weitergehen wollen.

Es gibt die, die Antworten auf Fragen der Zukunft immer nur in der Vergangenheit suchen. Aber: Wie geschichtslos müssen jene sein, die heute vor dem demokratisch gewählten Bundestag die schwarz-weiß-rote Flagge des Deutschen Reiches oder gar die Reichskriegsflagge schwenken! Die wollen einen anderen Staat, einen autoritären und aggressiv-ausgrenzenden Staat. Sie stellen sich in eine Tradition, die nicht für diese Republik steht, nicht für unsere Demokratie.

Nein: Wir stehen heute fest auf dem Fundament der Freiheitsbewegung und der Demokratiegeschichte! Wir berufen uns auf die Ideen des Hambacher Festes, der Paulskirche, der Weimarer Demokratie, des Grundgesetzes und der Friedlichen Revolution. Wir sind stolz auf diese Traditionen von Freiheit und Demokratie, stolz auf die historischen Wurzeln, ohne dabei den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen. Und die Farben dieser demokratischen Geschichte sind die Farben Schwarz-Rot-Gold, die Farben von Einigkeit, Recht und Freiheit.

Das sind die Farben unseres Landes und sie wehen vor den Gebäuden unserer Demokratie! Wir werden nicht zulassen, dass sie verdrängt, missbraucht oder vereinnahmt werden. Schwarz-Rot-Gold, das sind unsere Farben und die lassen wir uns nicht nehmen!

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung – wo stehen wir heute? Ich glaube, wir leben in einem Paradox. Wir sind noch längst nicht so weit, wie wir sein sollten. Aber zugleich sind wir viel weiter, als wir denken.

Keine Frage: Der Umbruch traf die Menschen im Osten unseres Landes ungleich härter als im Westen und er hinterlässt bis heute Spuren, trotz aller Fortschritte, nicht nur in den Lebensläufen, sondern auch und gerade in den Herzen der Menschen. Es gibt noch immer zu viele Geschichten von zerstörten Biographien und betrogenen Hoffnungen, von entwerteten Qualifikationen, von Orten, in denen ganze Generationen fehlen, weil die Jungen dort keine Zukunft sahen und – schlicht und einfach – weggingen.

Noch immer existiert ein deutliches Lohngefälle zwischen Ost und West. Noch immer haben sich östlich der Elbe zu wenige Unternehmen angesiedelt, und noch immer muss man in den Führungsetagen von Unternehmen, Universitäten, Ministerien, in der Justiz, den Medien und auch der Bundeswehr Ostdeutsche mit der Lupe suchen. Wir haben vielleicht alle miteinander unterschätzt, wie langlebig manche Benachteiligungen sein können, die dann oft auch noch über Generationen weitergegeben worden sind. Wir dürfen nicht ruhen, bis diese Benachteiligungen beseitigt sind, bis Zukunftschancen nicht mehr vom Leben in Ost oder West abhängen.

Noch etwas haben wir lernen müssen: Das Zusammenwachsen erschöpft sich nicht in Arbeitsmarktstatistiken und Wirtschaftsdaten. Das Gefühl, dazuzugehören, auf Augenhöhe wahr- und ernstgenommen zu werden, entscheidet sich nicht allein am Gehaltsstreifen. Es bleibt unsere Aufgabe – das haben wir eben auch in der kleinen Diskussionsrunde gehört –, uns auch menschlich näher zu kommen, neugierig zu bleiben, Lebenswelten und Sichtweisen der jeweils anderen mindestens zu kennen und auch zu respektieren.

Der Umbruch traf in Ostdeutschland jede Familie, im Westen hingegen erlebten ihn die meisten Menschen aus der Distanz – und oft mit Distanz. Seit der Wiedervereinigung – darüber gibt es tatsächlich Untersuchungen und Statistiken – waren so gut wie alle Ostdeutschen bereits im Westen unterwegs; jeder fünfte Westdeutsche aber – nach wie vor – noch nie im Osten. Wenn Ostdeutsche von sich erzählen, denken sie den Westen immer mit, in ihrem Leben hat der Westen immer einen dominanten Platz. Umgekehrt aber kommen viele westdeutsche Erzählungen ohne ein Wort über den Osten aus. Die westdeutsche Perspektive nimmt zu oft voller Selbstbewusstsein in Anspruch, die gesamtdeutsche zu sein. Aber: Leben im Osten war eben nicht Abweichen von der Norm, es war ein anderes Leben, wie Sabine Rennefanz schreibt. Wahr ist auch: Ostdeutsche Geschichten sind noch nicht ebenso selbstverständlicher Teil unserer gemeinsamen Geschichte, unseres gemeinsamen Wir geworden.

Die Geschichte von Teilung und Einheit, auch der schweren Zeit der Transformation – diese Geschichte tatsächlich miteinander zu teilen, diese Aufgabe bleibt bestehen, auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung!

Dazu gehört auch, dass wir offen über Fehler und Ungerechtigkeiten sprechen, auch falschen Mythen, egal auf welcher Seite sie bestehen, entgegenwirken. Ich finde es gut und darüber hinaus ist es wichtig, dass die Akten der Treuhand endlich offen sind.

Über das „richtig" oder „falsch", „alternativlos" oder „vertretbar" der Entscheidungen wird mit Sicherheit mit dreißig Jahren Abstand neu geurteilt und gestritten werden. Nicht streiten müssen wir über die Frage, welche traumatischen Folgen die Abwicklung ganzer Betriebe hatte. Was die Auflösung der an diesen Betrieben hängenden sozialen und kulturellen Strukturen für die Ostdeutschen bedeutete.

Wie sehr das den Blick vieler auf dreißig Jahre Einheit auch heute noch prägt, wie sehr auch nach 1990 Geborene diese Wahrnehmung teilen, das ist mir über lange Jahre als Abgeordneter in und für Ostdeutschland klar geworden, es begegnet mir heute auch an vielen runden und eckigen Tischen im Osten, in Gesprächen, zu denen ich immer wieder einlade. Das anzuerkennen und – auf Basis der geöffneten Akten – zu einer gemeinsamen kritischen, auch selbstkritischen Lesart zu kommen, auch das gehört dazu, wenn wir gemeinsam unsere Geschichte schreiben und nicht Mythen und Verdächtigungen unsere gemeinsame Zukunft begleiten sollen.

Dabei geht es, ich sage es in aller Ernsthaftigkeit, um mehr als um eine Stilfrage. Es geht nicht um Höflichkeit oder Anstand. Es geht um Demokratie! Denn wenn Menschen sich dauerhaft zurückgesetzt fühlen, wenn ihre Sichtweise nicht vorkommt in der politischen Debatte, wenn sie den Glauben an die eigene Gestaltungsmacht verlieren, dann darf uns das eben nicht kalt lassen. Dann bröckelt der Zusammenhalt, dann steigt das Misstrauen in Politik, dann wächst der Nährboden für Populismus und extremistische Parteien.

Deshalb dürfen wir Ungerechtigkeiten nicht einfach hinnehmen, deshalb darf Ignoranz keine Haltung sein. Arbeiten wir weiter für Verbesserungen, beseitigen wir Missstände, wo sie noch bestehen, hören wir uns gegenseitig zu, lernen wir voneinander – egal ob im Osten oder Westen, im Norden oder Süden unseres Landes! Das ist die Aufgabe heute.

Das ist aber nur die eine Seite, wahr ist auch: Wir sind gleichzeitig viel weiter, als wir denken. Neben allem, was an Aufgaben bleibt, gibt es so vieles, das gelungen ist.

Leipzig oder Rostock sind wirtschaftlich stärker als manche Städte des Ruhrgebiets. Es ziehen inzwischen mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt, und viele ostdeutsche Universitäten und Forschungsinstitute sind längst zum Magneten für Studierende und Wissenschaftler nicht nur aus Deutschland, nicht nur aus Europa, sondern aus der ganzen Welt geworden. Immer wieder treffe ich beeindruckende Menschen, die erfolgreiche Unternehmen gegründet haben, die mit neuen Ideen entleerte Städte wieder attraktiv machen, die mit Tatkraft und Pragmatismus jede Herausforderung anpacken. Die über sich hinausgewachsen sind, die im Kleinen wie im Großen vor Ort die schwere Transformationsarbeit geleistet haben und leisten. Auf meinen Reisen sehe ich ein lebendiges, ganz überwiegend dynamisches Land, ich sehe mehr Aufbruch als Abbruch, und statt „Nachbau West" heißt die Parole mancherorts inzwischen längst „Vorsprung Ost". In Zwickau in Sachsen ist gerade die größte Fabrik für Elektroautos in Europa entstanden.

Hier in Brandenburg, in Grünheide vor den Toren Berlins, wird gerade Tesla-City gebaut – eine Fabrik für die Mobilität der Zukunft. Drumherum nistet sich eine kreative Schar von Start-ups und Innovationswerkstätten ein. Hier ist die Arbeitslosenquote inzwischen niedriger als im Partnerland Brandenburgs, in Nordrhein-Westfalen. „Es kann so einfach sein", sagt man in Brandenburg – wissend, dass es nicht immer so ist!

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es nicht nur immer mehr ostdeutsche Erfolgsgeschichten. Vor allem gibt es viel, was wir gemeinsam geschafft haben – gerade weil wir vereint, mit all den unterschiedlichen Erfahrungen und Stärken, daran gearbeitet haben!

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat in diesen Tagen geschrieben, die dreißig Jahre seit der Wiedervereinigung seien die besten dreißig Jahre gewesen, die Deutschland je erlebt habe. Das mag sich nicht mit der Erfahrung jedes Einzelnen decken. Aber wahr ist: Ohne den Mut und die Impulse der Friedlichen Revolutionäre, ohne das Zusammendenken und Zusammenwachsen von Ideen aus Ost und West, wären wir nicht zu diesem modernen und erfolgreichen Land in der Mitte Europas geworden.

Umweltbibliotheken, runde Tische, Bürgerbeteiligung, medizinische Versorgung in der Fläche, Kinderbetreuung, und nicht zu vergessen – ganz wichtig: der besondere Blick auf Ostmitteleuropa. Die Liste der ostdeutschen Initiativen, die das vereinte Land besser gemacht haben, ist lang und divers. Auch jenseits einzelner Impulse habe ich – ganz grundsätzlich – viel Neues als bereichernd und wohltuend erlebt. Etwa eine Art von gesundem Pragmatismus, der heilsam war für manch ideologische Debatte, die ich aus dem Westen kenne. Oder auch den Veränderungsdruck, der mit einiger Verzögerung auch im etwas träge gewordenen Westen ankam.

Weil wir es gemeinsam wollten, ist unser Land moderner und offener geworden – und sind wir weiter, als wir denken. Weil wir die Erfahrungen aus Ost und West vereinen, können wir heute unserer besonderen Rolle als starkes Land in der Mitte Europas gerecht werden, gerade jetzt, wenn die Fliehkräfte in Europa sichtbar wieder größer werden.

Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat. Lassen Sie uns allen denen danken, die daran mitgewirkt haben, mitgearbeitet haben!

Freuen wir uns gemeinsam daran! Vor allem: Bauen wir darauf, für eine gute Zukunft!

Darauf die Zukunft bauen, das müssen wir. Denn so viel steht fest: Unsere Zukunft erschöpft sich nicht allein in der Fortschreibung einer gelungenen Gegenwart. Corona hat uns Demut gelehrt. Der Klimawandel fordert unsere Lebensweise grundsätzlich heraus. Alte Allianzen werden schwächer, die Welt ist unsicherer geworden. Viele Selbstverständlichkeiten, mit denen wir Jahre und Jahrzehnte gelebt haben, sind keine mehr.

Worauf es mir ankommt: Demut heißt eben nicht Resignation oder Mutlosigkeit. Im Gegenteil. Mut brauchen wir jetzt und wir dürfen ihn haben – genau wie vor dreißig Jahren und in den letzten dreißig Jahren. Warum sollten gerade wir Glückskinder in der Mitte Europas mutlos sein? Das ist die Frage. Unser Land zeigt in diesen Corona-Zeiten, dass wir zusammenstehen, dass wir stark sind, dass wir verantwortungsvoll handeln. Wir haben wirklich allen Grund, zuversichtlich zu sein. Die Pandemie jedenfalls wird uns die Zukunft nicht nehmen.

Deshalb: Vorsicht, ja. Konzentration auf die Bekämpfung des Virus, ja. Aber wir sollten nicht in Sorge erstarren. Wir sollten unseren Blick auf das richten, was dringend zu tun ist. Die Zukunft nach Corona wird jetzt verhandelt – weltweit: Klima, Digitalisierung, Zusammenhalt. Wir müssen mit dabei sein, wir müssen gut sein und schnell und bereit zum Umdenken – in manchen Fällen zum radikalen Umdenken. Die schmelzenden Pole, die Feuersbrunst in Kalifornien, sie mahnen uns, dass die Zukunft keinen Aufschub duldet. Die Erosion der internationalen Ordnung, die Kräfte, die am vereinten Europa zerren, die neuen Spaltungen in unseren Gesellschaften, überall da sind wir gefordert.

Wir können dabei natürlich bauen auf unsere wirtschaftliche Stärke, den Fleiß der Menschen, ihren Sinn fürs Notwendige, ihre Bereitschaft anzupacken. Und wir können bauen auf die Erfahrungen der Friedlichen Revolution, als die Mauer nicht einfach fiel, sondern zum Einsturz gebracht wurde von Hunderttausenden, die gemeinsam aufgestanden sind für ein besseres Leben. Wir können bauen auf die gewaltige Leistung von 16 Millionen Menschen, deren Leben völlig auf den Kopf gestellt war, die neu anfangen mussten, die neu gelernt, sich neu erfunden haben, die den Umbruch organisiert, den Aufbau geschultert haben. Diesen Mut, diese Tatkraft - das brauchen wir auch heute!

Lassen Sie mich deshalb schließen mit einer Anregung: Wenn es so ist, dass uns die Friedliche Revolution auch heute Ermutigung sein kann, dann schaffen wir doch eine Stätte, die an diesen Mut erinnert!

Mitten in Berlin wird es bald das Einheitsdenkmal geben, als zentrales Symbol. Schon heute gibt es viele Orte, die an das SED-Unrechtsregime erinnern, an die Mauer, die Stasi-Gefängnisse, an die Jugendwerkhöfe. Dass wir daran erinnern, ist wichtig – sogar sehr wichtig.

Aber bräuchten wir nicht einen herausgehobenen Ort, mehr als ein Denkmal, der an die wirkmächtigen Freiheits- und Demokratieimpulse der Friedlichen Revolutionäre erinnert? Einen Ort, der erinnert an die erfüllten, aber auch an die unerfüllten Träume von einer besseren und gerechteren Zukunft. Einen Ort, der daran erinnert, dass die Ostdeutschen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und sich selbst befreit haben.

Das wäre auch ein Ort, der an die vielen Unbekannten und Bekannten erinnert, die der Staatsmacht mutig mit Kerzen in den Händen entgegengetreten sind. Ein Ort, der an die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler erinnert, die dem Zorn, der Unzufriedenheit, aber eben auch der Hoffnung der Menschen Gesicht und Stimme gegeben haben. Ein Ort, der die Geschichte der Friedlichen Revolution weitererzählt. Ein Ort des Austausches und des Nachdenkens - darüber, wie wir wurden, was wir sind und was andere daraus lernen können.

Dass uns ein solcher Ort bislang fehlt, hat auch ganz praktische Gründe. In der DDR trafen sich die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler meistens geheim in Privatwohnungen und Kirchengemeinden. Der Zentrale Runde Tisch tagte nach dem Fall der Mauer an unterschiedlichen Stätten. Das Symbol der deutschen Freiheitsbewegung von 1848 ist die Paulskirche, die erste Republik ist mit der Weimarer Nationalversammlung verbunden, das Grundgesetz mit Schloss Herrenchiemsee und dem Museum König.

Einen solchen herausgehobenen Ort gibt es für die Friedliche Revolution nicht. Wäre der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung nicht eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir das ändern können? Die Friedliche Revolution hat eine Diktatur zu Fall gebracht. Das ist eine Sternstunde, die auf ewig Platz haben wird in der deutschen Demokratiegeschichte.

Historisches Erinnern ist niemals Selbstzweck. Die Geschichte kommt zu keinem Ende. Wir müssen heute schmerzlich feststellen: Der Kampf für Freiheit und Demokratie ist nicht gewonnen – nirgendwo auf der Welt. Er geht weiter, fordert uns immer wieder neu. Mein Rat an uns: Nehmen wir diese Herausforderung an! Wir tun es im Wissen um die Erfahrung von 1989, um den Mut und die Entschiedenheit der Bürgerrechtler und der Friedlichen Revolution! Wir tun es im Wissen um die Kraft der Menschen, die den Aufbau gestemmt haben – im Osten wie im Westen. Schöpfen wir die Kraft, für die vielen Aufgaben die vor uns liegen, aus der Rückbesinnung auf das, was gelungen ist!

Im Jahr 2020 ist die Bundesrepublik Deutschland ein Land, das Ostdeutsche und Westdeutsche, Alteingesessene und Zugewanderte gemeinsam geprägt haben. Es ist ein Land, das aus dem Sieg der Ideen von 1989 die Zuversicht schöpft, dass Verantwortung über Gängelei, dass Freiheit über Unfreiheit triumphiert. Wenn wir uns umschauen in dieser Welt, wenn wir uns umschauen in Europa, dann ist dieses Erbe von 1989 niemals wichtiger als heute.