Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Große Messehallen, tausende unbequeme Hocker aus Karton – vollbesetzt mit herzlichen, engagierten und zukunftsfrohen Menschen. Eine hektische Großstadt im Zeichen bunter Besucherströme, mit singenden Menschen in den Straßenbahnen und hilfsbereiten Pfadfindergruppen an jeder Ecke. Die alten Hasen kennen es gut, die Jüngsten lernen es seit gestern: Es ist wieder Kirchentag! Willkommen in Dortmund, liebe Gäste!

Ich bin immer wieder gerne dabei und mit Euch, liebe Schwestern und Brüder. Jedes Mal, wenn ich einen Kirchentag besuche, egal ob als Frank-Walter Steinmeier, als Christ oder als Bundespräsident: Ich komme in eine solche Halle, sehe Euch alle und erinnere mich sofort daran, warum ich – allen Umbrüchen zum Trotz – mit viel Zuversicht in die Zukunft schaue! Vielen Dank für den herzlichen Empfang!

Was für ein Vertrauen, liebe Schwestern und Brüder! Was für ein Vertrauen – so steht es im Zweiten Buch der Könige. Es ist unsere Losung für diesen Kirchentag.

Was für ein Vertrauen – da kommen Zehntausende friedlich zusammen, singen, beten, feiern und diskutieren sich die Köpfe heiß über unser Zusammenleben.

Was für ein Vertrauen – das prägt aber nicht nur Kirchentage, sondern den Alltag unseres Landes.

Was für ein Vertrauen – das mag auch der junge Syrer empfinden, dem Bürgerkrieg entflohen, wenn er ruhig und sicher durch Deutschlands Straßen geht, wenn er Polizistinnen und Polizisten begegnet, deren Willkür er nicht fürchten muss.

Was für ein Vertrauen – das mag die Notärztin auf dem Weg zum nächsten Einsatz denken. Denn wer auch immer auf sie warten mag, ob reich oder arm, mit Job oder ohne – dieser Mensch in Not kann sicher sein, dass Hilfe kommt.

Was für ein Vertrauen – das haben Millionen Eltern, die ihre Kinder Tag für Tag in die Kita bringen, sie jeden Morgen in die Schule schicken und nachmittags in die Vereine und Kirchgemeinden.

Als Bundespräsident weiß ich: Unser Land ist auf Vertrauen gebaut. Es ist kostbar, dieses Vertrauen ineinander und zu uns selbst. Es erlaubt uns, gemeinsam friedlich zusammenzuleben, Begegnung und Austausch zu suchen, Verantwortung zu übernehmen, anstatt uns zurückzuziehen in stille Kämmerlein oder Echokämmerlein.

Es ist kostbar, und es ist nicht selbstverständlich. Anderswo sehnen sich Millionen Menschen nach solchem Vertrauen. Sie mühen sich, oft unter größten persönlichen Risiken, es aufzubauen, wo es fehlt – und sie leiden, wo es zerstört wird, wo Hass, Brutalität und Willkür ganze Gesellschaften vergiften.

Wir in Deutschland aber, wir dürfen vertrauen: in das Recht und den Rechtsstaat, der uns schützt, in die Demokratie und ihre Verfassung, deren Geburtstag wir gerade gefeiert haben und die uns seit 70 Jahren trägt. Seien wir froh um das Vertrauen – und gehen wir sorgsam damit um!

Dieses Vertrauen brauchen wir auch in Zukunft. Und wir brauchen auch das andere: Vertrauen in die Zukunft. Vor wenigen Wochen habe ich in einer anderen Halle gesprochen, ebenfalls vor tausenden, überwiegend jungen und sehr engagierten Menschen. Das war bei der re:publica, der großen Digitalkonferenz in Berlin. Eine große Zeitung schrieb am Tag danach: "Dies ist das Hochamt der digitalen Welt. […] Es hat fast etwas von Kirchentag!" Nun ja, Papphocker gab es auch, grüne Schals eher nicht.

Auch dort in Berlin habe ich über Vertrauen gesprochen – und über die Rolle der sozialen Medien. Denn Vertrauen erodiert, wenn die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen immer mehr verschwimmt, wenn über Nichtigkeiten der Shitstorm losbricht und sich Häme über das Unglück anderer ergießt, wenn die Hater so laut und die Vernünftigen zu leise sind, wenn das Gebrüll der Wenigen den Anstand der Vielen übertönt. Auf all das darf es nur eine einzige Antwort geben: Ziehen wir uns niemals zurück! Überlassen wir den politischen Diskurs im Netz nicht den wütenden und tobenden Scheinriesen! Sie mögen die lautesten sein, aber ich bin ganz sicher: Sie stehen nicht für die Mehrheit der Menschen in unserem Land.

Trotzdem: Große Umbrüche sind im Gange. Demokratie verändert sich – auch mit den Möglichkeiten der Kommunikation. Und es ist gut, wenn mehr Menschen teilhaben können. Aber ist es nicht eine völlig verquere Sicht der Dinge, wenn eine technikfixierte Wahrnehmung von Gesellschaft und Demokratie daraus wird? Jahrelang haben uns die digitalen Pioniere verkündet, die Technologie sei der verstaubten Politik weit voraus, und die Digitalisierung müsse der Demokratie auf die Sprünge helfen. Ich fürchte, das ist eine Umkehrung des eigentlichen Problems. Ich glaube: Nicht um die Digitalisierung der Demokratie müssen wir uns zuallererst kümmern, sondern um die Demokratisierung des Digitalen! Die Rückgewinnung des politischen Raumes – gegen die Verrohung und Verkürzung der Sprache, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei den "Big Five", bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley – das ist die drängendste Aufgabe!

Denn seien wir ehrlich: Das Zukunftsvertrauen ist heute selbst bei chronischen Optimisten – und ich zähle mich dazu – massiv auf die Probe gestellt. Und das meint viel mehr als den Umgangston in sozialen Medien. Es geht um eine fundamentale Verunsicherung – um die Frage nämlich, ob wir unser liberales und demokratisches Selbstverständnis, ob wir unseren Maßstab aus den Jahrhunderten der Aufklärung in der digitalen Moderne überhaupt noch durchsetzen können.

Ende letzten Jahres war ich erneut in China, zu Besuch in Kanton, einer Megametropole im Süden des Landes, am Perlfluss aufwärts von Hong Kong gelegen. Hochhäuser aus Glas und Stahl, so weit das Auge reicht, siebzig, achtzig Stockwerke, und auf jeder Etage hochtechnologisierte Firmen und digitale Start-ups. Eine solche Firma produziert Roboter in einer möglichst fehlerfreien, vom "Störfaktor Mensch" unabhängigen Fabrik. Der junge Chef hat mir, fast nebenbei, einen Satz gesagt, der hängen geblieben ist: "Und wenn das alles funktioniert“, hat er gesagt, "dann brauchen wir hier den Menschen nicht mehr."

"Dann brauchen wir den Menschen nicht mehr." Dieser Satz lässt mich auch lange nach der Reise noch nicht los. Er hat mir eines ganz deutlich gezeigt: Wenn wir über Digitalisierung und technischen Fortschritt nachdenken, dann denken wir vor allen Dingen über uns selbst nach. Über unser Selbstverständnis als Menschen: Wer sind wir? Und wohin führt unser Weg?

Seit Tausenden von Jahren stellen wir Menschen uns diese Fragen. Für uns evangelische Christen, aber längst nicht nur für uns, standen sie im Kern allen Menschseins – und unsere Antwort in der Vergangenheit war: die Freiheit. Wir sind weder Götter noch Marionetten, sondern Gottes Geschöpfe, mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten und der Endlichkeit unseres Daseins. Gerade als Christen sind wir frei für ein selbstbestimmtes Leben. Ein Leben, in dem wir Entscheidungen treffen und Verantwortung für uns und andere übernehmen.

Die Freiheit im Kern des Menschseins – diese Überzeugung liegt auch den Verfassungen unserer modernen Demokratien und unserem Völkerrecht zugrunde und reicht weit über das Christentum hinaus. Vor mehr als 70 Jahren, erschüttert und geprägt von der Erfahrung der schrecklichen Verbrechen, die von unserem Land ausgegangen waren, haben sich die Völker der Welt ein gemeinsames Fundament gegeben: die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die Menschenrechte schützen die Freiheit und die Würde jedes Menschen, egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft und welchen Glaubens. Unser Grundgesetz hat dafür die wunderbare Formulierung der "Unantastbarkeit" gefunden.

Heute fragen wir uns: Was bleibt in der digitalen Moderne von diesem Selbstverständnis übrig? Was bleibt vom Menschen, wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen? Und wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn jede Faser von Individualität – längst nicht mehr nur jede Abweichung von der Norm – als Datenpunkt erfasst und in neuen Zusammenhängen verarbeitet wird – bei den einen vom Staat, bei den anderen von privaten Datenriesen?

Über diese Fragen will ich heute mit Euch sprechen. Ja, es wird zwar diskutiert, geforscht und geschrieben über die tiefgreifenden Folgen der Digitalisierung – aber ich finde: Es diskutieren längst noch nicht alle mit, die davon betroffen sind. Diese Debatte trifft den Kern unseres Menschseins – und deshalb gehört sie in den Kern der Gesellschaft und in den Kern der Debatte!

Natürlich darf man es sich nicht zu einfach machen. Es geht nicht um Euphorie oder Dystopie, Verherrlichung oder Verdammung, um ein schlichtes "Ja" oder "Nein" zur Digitalisierung. Sie findet statt. Neun von zehn Deutschen sind online, und ebenso viele halten den technischen Wandel für unaufhaltsam. Wirtschaft und Wohlstand mag er beflügeln. Aber auf seine gesellschaftlichen Folgen blicken viele – ich bin sicher, auch viele hier im Saal – mit Sorgen.

Und das hat Anlass: Von Cambridge Analytica und den immer neuen Enthüllungen bei Facebook über die fast unbegrenzte Überwachung durch staatliche Stellen in anderen Teilen der Welt, ob in Amerika und Europa oder ganz besonders in China, bis hin zur alltäglichen Manipulation durch vermeintlich kostenlose, bunt blinkende und attraktive Dienstleistungen, die uns hinterrücks ausleuchten und unsere Daten absaugen – in der kurzen Geschichte der Digitalisierung wurde viel Hoffnung enttäuscht und manches Vertrauen erschüttert!

Ob neues Vertrauen wachsen kann, ist auch unsere Entscheidung. Ziehen wir uns zurück ins digitale Lummerland, legen die Beine hoch und schalten Netflix an? Oder beginnen wir darüber zu sprechen, welche Digitalisierung wir eigentlich wollen und wie es uns gelingen kann, unsere Freiheit, unsere Ideen, unsere Regeln, kurz: den Kern des Menschseins in die digitale Zukunft einzuschreiben?

Ich habe in meinem politischen Leben eines immer wieder erfahren: Resignation ist keine, und wenn, dann immer die schlechteste Option. Die Zukunft ist ungeduldig. Sie will gestaltet werden, denn kommen wird sie so oder so. Und wenn wir die Zukunft nicht selbst mitgestalten, dann gefährden wir nicht nur die Grundlage unseres Wohlstands, sondern werden auch weiterhin nach den Regeln anderer spielen. Das kann nicht unser Sinn und Zweck sein!

Vielleicht kann ein Blick zurück uns Mut machen: Unser Land war immer dann am stärksten, wenn wir die Zukunft nicht einfach erduldet haben, wenn wir Krisen nicht nur beklagt, sondern angepackt haben – Strukturwandel und industrielle Revolutionen, den scharfen Wind des globalen Wettbewerbs und natürlich die große Herausforderung der deutschen Wiedervereinigung!

Kurzum: Zukunft hat bei uns Geschichte. Und wo immer uns Zukunft gelungen ist, da hatten viele ihren Anteil: Wissenschaftlerinnen und Ingenieure, Facharbeiter und Unternehmerinnen. Aber es waren nie nur Einzelne, sondern es braucht diese ganze, lebendige und vernetzte Gesellschaft. Die Deutschen sind nicht technikfeindlich, im Gegenteil: Diese Gesellschaft glaubt an den Fortschritt, weil sie ihn gestalten kann – weil sie ihm einen ethischen und gesellschaftlichen Rahmen setzt und eben nicht alles blind umsetzt, was technisch möglich wäre. Für diese Art von Fortschritt brauchen wir die Zivilgesellschaft, brauchen wir die Kirchen und Gewerkschaften, Wirtschafts- und Wohlfahrtsverbände, die unzähligen ehrenamtlichen Vereine und, ja, auch die Parteien. Sie alle haben in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass wir ein friedliches, ein wohlhabendes und – im internationalen Vergleich – ein Land mit hoher sozialer Sicherung geworden und geblieben sind.

Ich muss dabei an einen Moment denken, der auf den ersten Blick so wenig mit unserem heutigen Thema der Digitalisierung zu tun hat und auf den zweiten Blick doch so viel. Vor genau einem halben Jahr haben die Bergleute auf Prosper-Haniel in Bottrop, gar nicht weit von hier, die letzte Schicht verfahren und mir das letzte Stück deutscher Steinkohle in die Hände gegeben.

An diesem Abend kurz vor Weihnachten ging eine Epoche zu Ende. Da waren Trauer und Wehmut, aber da war auch Zuversicht und ein riesengroßer Stolz: Wir lassen uns nicht unterkriegen, weil wir beisammen bleiben! Das war für mich der Kern dieses bewegenden Abends: Wir packen diesen Wandel, weil wir es zusammen tun – mit der Solidarität einer ganzen Gesellschaft.

Diese Bergleute, die unter härtesten Bedingungen unter Tage gelernt haben, was Solidarität wirklich bedeutet, die standen mir an diesem Abend mit Tränen in den Augen gegenüber und sagten: Wir haben hier zweihundert Jahre lang buchstäblich Berge versetzt. Warum sollte das nicht auch in Zukunft gelingen? Denn wir sind und bleiben Kumpel!

Jenes letzte Stück Steinkohle liegt heute in täglicher Sichtweite gegenüber meinem Schreibtisch im Schloss Bellevue und erinnert mich an das Motto, das über jenem Abschiedsabend stand und das man nur hier im Ruhrgebiet so sagen kann: "Glückauf Zukunft!" Diesen historischen Moment und die Menschen, die ihn geprägt haben, werde ich mein Lebtag nicht vergessen.

Dieses "Glückauf Zukunft" im Angesicht scheinbarer Ohnmacht gegenüber dem übermächtigen Wandel ist für mich ein tief beeindruckendes Dokument von Zukunftshoffnung, von Vertrauen in die Gestaltbarkeit von Zukunft!

Und damit bin ich zurück bei der Digitalisierung. Natürlich gelingt Zukunft nicht ohne Wandel, ohne Wagnis, ohne Risiko. Aber wir dürfen den technologischen Fortschritt niemals als monströses Naturereignis ansehen, dem wir machtlos ausgeliefert sind! Wir müssen verstehen wollen, was unser Menschsein und unseren Zusammenhalt gefährdet. Unsere in Teilen selbstverschuldete digitale Naivität muss Aufklärung und Mündigkeit weichen. Die digitale Welt ist bislang in erster Linie um uns herum und ohne unser Zutun gestaltet worden. Die digitale Welt von heute dient jetzt noch den Interessen derer, die unsere Geräte voreinstellen, unsere Anwendungen programmieren, unser Verhalten lenken wollen.

Deshalb brauchen wir den Mut, das Spiel zu unterbrechen und die Spielregeln zu überprüfen. Was einmal gestaltet worden ist, kann auch neu gestaltet werden! Was programmiert wurde, kann neu programmiert werden! Also: Trauen wir uns, und ändern wir das Programm!

Reden wir über die Änderung des Programms: Unser neues Programm kann ein gutes Programm sein.

Sehen Sie: Ein junges Mädchen, das heute zur Schule geht, wird in 20 oder 30 Jahren, 2040 oder 2050, seine eigenen Kinder großziehen. Und diese Kinder, unsere Enkel und Urenkel, könnten in einer Welt groß werden, die uns heute so wenig vorstellbar sein mag wie unser jetziges Leben den Generationen vor uns.

Diese Kinder könnten mit guten Lehrern, aber auch mit Unterstützung durch digitale Werkzeuge selbständiger und stärker an den eigenen Interessen orientiert lernen, als das bisher im Schulalltag möglich ist. Ihre Mutter könnte sicher sein, bei der Wohnungssuche oder bei der Vergabe von Krediten nicht wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft schlechter behandelt zu werden. Und die junge Familie könnte fürchterliche Leiden wie Hautkrebs oder seltene Erbkrankheiten bewältigen, weil sie dank Technologie früher und präziser erkannt und behandelt werden.

All das mag utopisch klingen, aber eine solche Welt ist möglich, und wir können schon heute die Weichen dafür stellen, dass sie gelingt.

Seien wir doch anspruchsvoller in unseren Erwartungen: Wir können schon heute Algorithmen nachvollziehbarer machen, ihre Arbeitsweise und Ergebnisfindung regelmäßig auf den Prüfstand stellen. Wir können schon heute lernende Computer so programmieren, dass sie ohne Diskriminierung oder Bevormundung funktionieren. Wir können schon heute Unternehmen verpflichten, Voreinstellungen datenschutzfreundlich vorzunehmen. Wir können schon heute Einrichtungen schaffen, die unsere Privatsphäre gegenüber großen Unternehmen durchsetzen, wo wir dies allein nicht leisten können. Wir können Polizei und Staatsanwaltschaften schon heute so ausstatten, dass sie Hass und Hetze im Netz der vermeintlichen Anonymität entreißen und konsequent verfolgen können. Wir können den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme schon heute so gestalten und erneuern, dass das Versprechen der sozialen Sicherheit auch für neue Arbeitsformen und Berufswege, für Menschen in der Klick- und Plattformwirtschaft gilt. Und wir können uns schon heute darauf einigen, dass wichtige Entscheidungen über Leben und Tod, über Familie und Liebe, über Schmerz und Verantwortung, kurzum: Entscheidungen über den Kernbereich unseres Menschseins, bei aller technischen Hilfe, am Ende immer von Menschen getroffen werden müssen.

Lasst uns anspruchsvoller sein! All das können, und ich finde, das müssen wir heute schon tun! Ich habe mich hier zu Wort gemeldet, weil ich finde, wir müssen so etwas etablieren wie eine Ethik der Digitalisierung: Grundregeln für die digitale Zukunft, deren Einhaltung wir auch in einer Zeit gewaltiger Umbrüche einfordern. Ich glaube, wir brauchen dafür keine neuen Philosophien oder Dogmen, sondern wir brauchen eine Übersetzung dessen, was uns bisher schon stark gemacht hat.

Die Ethik der Digitalisierung ist und bleibt für mich zuallererst eine Ethik der Freiheit. Sie beginnt mit der Frage: Wie kann Technologie uns Menschen dienen? Wie führt sie zu mehr Selbstbestimmung – und nicht in neue Fremdbestimmung? Wie nutzen wir technologische Möglichkeiten, um Unterdrückung und Armut zu überwinden, um Bildung und Aufklärung zu verbreiten, um Umwelt und Ressourcen zu schützen?

Frei nach Kant würde ich sagen: Der technologische Fortschritt soll den Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit erleichtern und nicht der freiwillige Einstieg in neue Unmündigkeit werden! Ich finde, eine Ethik der Freiheit passt zum Evangelischen Kirchentag!

Luthers "Freiheit eines Christenmenschen", sein Zweiklang "Ein Christ ist niemandem untertan – ein Christ ist jedermann untertan" war noch niemals leicht in Politik zu übersetzen. Aber die Doppelbotschaft bleibt hochaktuell: Keine Freiheit ohne Verantwortung. Keine Freiheit ohne Regeln. Dieses Spannungsverhältnis gilt es in der digitalen Moderne neu zu verhandeln.

Jedes Freiheitsversprechen, auch das digitale, blickt voraus auf eine neue Ordnung: Freiheit braucht Regeln, und neue Freiheiten brauchen neue Regeln! In einer Demokratie – wer macht die Regeln? Am Ende wir selbst! Wolfgang Huber nennt das die kommunikative Freiheit, die Freiheit, sich einzubringen, mitzumischen, zu gestalten.

Und deshalb ist eine Ethik der Digitalisierung mehr als ein privater Tugendappell. Kontrolle und Mündigkeit im Netz zurückzugewinnen, das schafft kein Bürger, kein Konsument allein, sondern es gelingt in gemeinsamen Anstrengungen, in zivilgesellschaftlichen Organisationen und solidarischen Bündnissen, mit gesetzlichen Regeln und internationalen Vereinbarungen.

Der Impuls aber, die Initialzündung ist eine zutiefst emanzipatorische, und deshalb gehört sie auch auf einen Kirchentag. Unsere Ethik der Digitalisierung beginnt mit einer politischen Unabhängigkeitserklärung – gegen digitale Fremdbestimmung und für Vernunft, Mündigkeit und Demokratie! Darum geht es, und das soll unsere gemeinsame Botschaft sein!

Die Emanzipation hat viele Ebenen. Sie beginnt bei uns selbst – Wie bewegen wir uns in digitalen Medien? Wieviel geben wir preis? –, sie braucht staatliches Handeln und staatliche Regeln – tastend und auf unsicherem Grund bewegt sich unsere deutsche Gesetzgebung voran –, aber sie führt natürlich über nationale Grenzen hinaus. Ich finde: Unsere Unabhängigkeitserklärung sollte eine europäische sein!

Europa hat etwas zu sagen, und Europa hat etwas anzubieten in dieser Welt. Lasst uns den Weg in die digitale Zukunft nicht als Nullsummenspiel verstehen oder als Abwehrkampf gegen die digitalen Riesen aus den USA oder China. Natürlich, auch wir in Deutschland und Europa müssen wettbewerbsfähig bleiben und in vielen digitalen Bereichen sogar erst noch wettbewerbsfähig werden.

Dann, so bin ich überzeugt, kann "Made in Europe" in der digitalen Welt zu einem Standard werden – Beispiele dafür gibt es schon –, einem Standard, der die Würde und die Freiheit des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Europa kann ein alternatives Angebot an eine Welt sein, die zunehmend glaubt, nur zwischen unbeschränktem Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild einerseits oder orwellianischer Staatsüberwachung in China andererseits entscheiden zu können.

Und trotz aller Unterschiede, die uns von diesen Akteuren in Sachen Freiheit, Privatsphäre oder Sicherheit trennen, sollten wir den Versuch wagen, auch mit den USA, auch mit China so etwas wie ethische Minima zu formulieren und vielleicht sogar zu vereinbaren. Das ist schwer, aber nicht unmöglich. Wir sind erste Schritte in der Medizinethik erfolgreich miteinander gegangen – ethische Standards, die bislang auch noch in China gelten. Deshalb sollten wir in diesen ethischen Fragen auch den Dialog mit schwierigen Partnern suchen, Frau Schavan wird auf dem Podium sicherlich gleich noch davon sprechen.

Und so bin ich am Ende wieder beim Vertrauen. Als Christen wissen wir nur zu gut: Vertrauen ist etwas anderes als Gewissheit. Vertrauen und Glauben gehören zusammen. Weil wir von Gottes Liebe getragen sind, glauben wir an eine gute Zukunft. Unser Glaube ist, in den Worten des Hebräerbriefes, "eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht".

Vertrauen wir also in unsere Fähigkeit, Zukunft zu entwerfen! Und fangen wir am besten hier schon an, auf diesem Kirchentag.

Bringen Sie sich ein, ganz konkret! Formulieren und diskutieren Sie Ihre Wünsche, Fragen und Ideen für die Zukunft. Ich freue mich auf unsere Diskussion gleich im Anschluss – und ich freue mich auch, dass auf dem Kirchentag an einer Resolution zur Digitalisierung gearbeitet wird. Das ist ein wichtiger Impuls, auch über den Kirchentag hinaus. Ich bitte Euch: Tragt die Debatte weiter, in die Gemeinden, Betriebe und Vereine; ins Netz und die sozialen Medien, in Blogbeiträge und Online-Petitionen. Wir sind frei zu entwerfen, zu gestalten, und wir dürfen vertrauen.

Deshalb sage ich Euch, nicht so sehr als Bundespräsident, sondern als Mensch, als Christ, als Frank-Walter Steinmeier: Ich bin 63 Jahre alt. Ich habe weiße Haare. Und ich freue mich unglaublich auf die Zukunft!