Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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"Über-Kanzler", "Ikone", "Jahrhundertpolitiker" – wer heute über Helmut Schmidt spricht, der kommt an Superlativen kaum vorbei. Und es sind längst nicht nur die Biographen, die Zeithistoriker und Edelfedern, die so schreiben. "Charaktervoll und mit klarer Kante – Chapeau." – "Er fehlt noch immer." – "Einer der besten Politiker, die Deutschland jemals hatte." – "Präzise und weise." – "Ein vertrauenswürdiger Navigator durch eine unsichere Zeit." – "Ich vermisse ihn sehr." Das ist nur eine kleine Auswahl der überwältigenden Rückmeldungen, die ich auf meiner Facebook-Seite auf einen Post zum 100. Geburtstag von Helmut Schmidt erhalten habe.

Helmut Schmidt ist für viele zum Prototyp des idealen Politikers geworden. Gebildet und lebenserfahren, keine Scheu vor schwierigen Entscheidungen, pragmatisch und prinzipienfest, ohne Pomp und Pose, tatkräftig und hanseatisch nüchtern – so hat er eine ganze Nation für sich gewonnen. Wir alle haben Bilder von ihm im Kopf. Bilder, die zum imaginären Fotoalbum der Bundesrepublik gehören.

Da sehen wir Helmut Schmidt als Organisator der Hilfsmaßnahmen bei der Flutkatastrophe 1962 hier in Hamburg, wie er im Schein von Windlaternen eine Pressekonferenz gibt.

Auf einem anderen Bild steht er mit Willy Brandt und Herbert Wehner als Teil der berühmten Troika. Jeder schaut geradeaus, seinen eigenen Gedanken nachhängend. Gemeinsam und spannungsreich haben sie die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geführt und damit während 13 Jahren sozialliberaler Koalition auch die Geschicke unseres Landes.

Da sehen wir ihn am Rednerpult des Deutschen Bundestages, erinnern uns an seine Stimme und auch an manche scharfe Intervention des glänzenden Redners. Ein noch früheres Bild übrigens zeigt den Abgeordneten Schmidt am Pult und von der Regierungsbank aus hören ihm Bundeskanzler Adenauer und Wirtschaftsminister Erhard aufmerksam zu. Was damals keiner ahnte: zwei seiner Vorgänger im Amt des Kanzlers.

Da sieht man ihn in der Kellerbar seines bescheidenen Privathauses mit seinem Freund, dem französischen Staatspräsidenten Valery Giscard d'Estaing, beim intensiven Gespräch. Vielleicht über die Zukunft Europas?

Viele erinnern sich auch an das Bild, wie er 1975 auf seinem Staatsbesuch in China Deng Xiaoping Feuer gibt. Oder an Bilder mit Henry Kissinger, der ihm ein lebenslanger Freund geworden ist. Die internationalen Beziehungen, auch die Wirtschaftsbeziehungen, zu verstehen – gerade durch den persönlichen Austausch –, sie zu ordnen und sie vor allem auch uns, seinen Landsleuten, zu erklären: Das war dem Ökonomen und wahrhaftig weltläufigen Helmut Schmidt bis zuletzt ein großes Anliegen.

Und ein ganz anderes, aber wohl allen bekanntes Bild: Wir sehen ihn in seiner vielleicht schwersten Stunde, beim Trauerakt für den ermordeten Hanns Martin Schleyer zwischen der Witwe und einem der Söhne, den Kopf gebeugt.

Uns fallen Bilder mit Erich Honecker ein, bei der Schlusskonferenz der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki oder beim Abschied auf dem Bahnhof nach seinem DDR-Besuch als Kanzler, wo ihm der Staatsratsvorsitzende ins Zugfenster noch ein Bonbon reicht. Keine leichte Begegnung, aber die Pflege der deutsch-deutschen Beziehungen war ihm wesentliche und wichtige Pflicht als bundesdeutscher Regierungschef.

Und auch das wird eine schwere Stunde gewesen sein: Wie er nach dem Misstrauensvotum seinem Nachfolger Helmut Kohl gratuliert, ernst, gefasst und in staatsmännischer Haltung.

Und schließlich sehen wir ihn noch einmal als Helmut Schmidt privat, beim Segeln in kurzer Hose oder beim Klavierspiel in seiner Wohnung. Es gibt Bilder, wie er seinem anderen Hobby, der Malerei nachgeht. Und natürlich, wie er sich seinerseits für die Kanzlergalerie malen lässt, zum Erstaunen vieler ausgerechnet von Bernhard Heisig, einem Künstler aus der damaligen DDR.

Und durch alle Lebensalter tauchen Bilder in uns auf, die ihn mit seiner Frau Hannelore, Loki, zeigen: vom Kinderfoto mit den beiden über das Hochzeitsbild aus Kriegszeiten bis zum gemeinsam alt gewordenen Paar auf der Bank hier im Botanischen Garten.

Immer wieder mit seinen Markenzeichen: Wir Nicht-Hamburger sagen Prinz-Heinrich-Mütze und meinen die Elbsegler- oder Elblotsen-Mütze; der Zigarette oder dem breiten Lächeln. Er hatte Charme und konnte Menschen gewinnen, nicht nur durch Argumente.

Wenn ich versuche, die Empfindungen zu beschreiben, die mich bei diesen Bildern bewegen, dann fallen mir die Worte ein, die Helmut Schmidt einst selber formuliert hat, als er Herbert Wehner für sein politisches Wirken dankte: "Es ist nicht nur Respekt und Solidarität, was wir empfinden, sondern auch Zuneigung und – ja – Liebe ist es auch."

Wenn wir heute auf dieses lange, facettenreiche Leben zurückschauen, dann nicht nur mit leichter Wehmut. Wir fragen uns ganz unwillkürlich auch, was sein Wirken uns heute bedeutet, was es uns sagen kann.

Am Sonntag, dem 16. Oktober 1977, notiert der Schriftsteller Max Frisch in seinen kleinen Spiralblock: "16.10.77, Paulskirche / Kleines Mittagessen / Abruf nach Bonn – 16.00 Kanzleramt. / (Bungalow.) / Bundeskanzler, / (Loki) / Minister Matthöfer / Minister Ehrenberg / H. Böll / S. Lenz / M. F. / S. Unseld." Ein unbefangener Leser dieser Notiz mag denken, dass sich da also der Regierungschef zu einem sonntäglichen Kaffeetrinken mit Kulturschaffenden treffen wollte. Kritischer, aber letztlich unverbindlicher Meinungsaustausch inklusive.

Ja, das hätte in der Tat so sein können. Aber ein Leser, der sich in der Geschichte der Bundesrepublik etwas auskennt, würde über das Datum stolpern: 16. Oktober 1977. Das war kein gewöhnlicher Sonntag, sondern ein Tag, an dem sich die dramatischen Ereignisse seit der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Ermordung seiner Begleiter noch einmal zugespitzt hatten.

Das ganze Land stand unter einer ungeheuren Anspannung, seit einige Tage zuvor auch noch die Lufthansa-Maschine "Landshut" mit fast hundert Menschen an Bord entführt worden war. Zudem war eine Befreiungsaktion vorbereitet und die GSG 9 war auf dem Weg. Davon allerdings wusste die Öffentlichkeit nichts.

Für diesen Tag ausgerechnet hatte sich Bundeskanzler Helmut Schmidt, der selbstverständlich unter höchster Anspannung stand, mit vier Literaten verabredet – und dachte nicht daran, das Treffen abzusagen. Der Verleger Siegfried Unseld notierte später: "Aber der Bundeskanzler bestand auf der Einladung, man dürfe sich von Terroristen nicht allzusehr das Konzept diktieren lassen. Er sagte, dass wir seit den Wochen nach der Entführung Schleyers die einzigen 'normalen' Menschen seien, mit denen er spräche."

Helmut Schmidt wollte sich wirklich beraten. Er suchte Rat! Und er suchte bei den Schriftstellern und dem Verleger Aufklärung über das, was junge Leute nicht nur ganz nach links, vor allem was sie in den Terrorismus treibt. Es muss ein sehr offenes Gespräch gewesen sein, von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt.

Es beeindruckt die Autoren nicht nur, dass Helmut Schmidt sich volle fünf Stunden Zeit nimmt für das Gespräch, auch wie offen der Kanzler fragt und wie er gleichzeitig souverän zu seinen bisherigen Entscheidungen steht. Max Frisch notiert anschließend und lässt dabei am Ende auch die Dramatik der Stunden ganz kurz aufscheinen: "Unfanatische, grosse Präsenz. / Ohne Pose. / Verantwortung durch das Mandat. / Präsenz bis zur Gelassenheit. Er kann allen zuhören, Fragen aus Verständnis, er kommt auf Angedeutetes zurück. Dazwischen in den Krisenstab und zurück."

Die Autoren bestärken übrigens Helmut Schmidt in seiner Haltung, sich auf keinen Handel einzulassen: "Terrorismus nur bekämpfbar, wenn auf Menschenhandel nicht eingegangen wird", so skizziert Max Frisch seine eigene Position. Und nach dem Ende der Geiselnahme telegraphiert Siegried Unseld an den Bundeskanzler: "Ich wünsche Ihnen weiterhin die Ihnen eigene Kraft zum dynamischen Zugriff und zu der wesentlichen Gelassenheit nach außen."

Aus mancherlei Gründen halte ich diese fünf Stunden aus dem Leben Helmut Schmidts für außerordentlich bezeichnend für sein Wesen, für seine Art zu handeln und sein Amt auszuführen – und für die Wirkung, die er so auf andere Menschen hatte.

Zunächst: Es sind die Wochen der wohl größten politischen und moralischen Herausforderung des Politikers Helmut Schmidt. Die Terroristen der RAF, die schon vor der Schleyer-Entführung gewissenlos gemordet hatten und die bis dahin größte Bedrohung für die Ordnung und Sicherheit der ja immer noch jungen Republik darstellten, hielten die Regierung und die politisch Verantwortlichen unausgesetzt in Atem. Wie er diese Herausforderung annahm und die notwendigen Entscheidungen traf und auch verantwortete – das sichert ihm bis heute und zu Recht den Ruf, das Staatsschiff sicher durch schwere Wetter geführt zu haben – wie er das auch schon beim Handeln in der Flutkatastrophe bewiesen hatte.

Diese souveräne und konsequente Übernahme von Führungsverantwortung trug ihm allerdings auch den, wie ich gleich begründen möchte, falschen Ruf eines autoritären Führungsstils ein. Ein Ruf, der ihm bis heute bei manchem Skepsis und Ablehnung entgegenbringt und bei manchen anderen höchste Verehrung.

Ein autoritärer Führer hätte sich nicht auf dem Höhepunkt der größten Staatskrise von vier Schriftstellern, Kulturschaffenden – politischen Laien – beraten lassen. Er hätte sich vermutlich nicht mit Intellektuellen getroffen, die in vielen politischen Fragen anderer Meinung waren. Nein, er war eben kein autoritärer "Boss". Über diesen Typus heißt es in der oft zitierten, aber wenig gelesenen Schrift Max Webers "Politik als Beruf": "Der Boß hat keine festen politischen 'Prinzipien', er ist vollkommen gesinnungslos und fragt nur: Was fängt Stimmen? Er ist nicht selten ein ziemlich schlecht erzogener Mann."

Nein, so war Helmut Schmidt sicher nicht. Er war ein höchst nachdenklicher Verantwortungsträger. Er war selber ein Intellektueller, auch wenn viele das – jedenfalls damals – nicht erkannten oder erkennen wollten. Er wollte sich mit denkenden Menschen besprechen. Er war in hohem Maße reflektiert, ließ Zweifel, Skepsis und Fragen zu, um am Ende sich und anderen gegenüber gewissenhaft Rechenschaft geben zu können über sein Tun und Lassen. Er schätzte intellektuelle Gesprächspartner, wenn sie nicht, mit Max Weber zu sprechen, "eine ins Leere verlaufende 'Romantik des intellektuell Interessanten' (verfolgten), ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl".

Das haben die Menschen gespürt. Und das fasziniert viele – zu Recht – bis heute. Sie sind fasziniert davon, dass hier einer nicht nur ein schneller und effizienter Macher war, wie ein ihm gerne angeklebtes Attribut behauptete, sondern dass hier einer mit klaren und verständlichen Worten über Dinge sprach, die vorher gründlich zu Ende gedacht waren. Und dass hier einer vor seinem Wissen und vor seinem Gewissen verantworten wollte, was er tat, was er getan hatte und was er zu tun gefordert war. Er gewann so jenes Augenmaß, das – noch einmal Max Weber – den guten Politiker ausmacht. Weber meint damit die "Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also der Distanz zu den Dingen und Menschen. Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele."

Damit aber Politik mit dem Kopf auch verantwortlich zum Wohl des Ganzen gemacht werden kann, muss man sich mit anderen Köpfen auseinandersetzen; Köpfen, die anders denken, die andere biographische Prägungen erlebt und andere Lebenserfahrungen haben oder die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen leben.

Helmut Schmidt war in viel stärkerem Maß ein Mann des Dialogs als ein bestimmtes Bild von ihm wahrhaben will. Entscheidungsfreude und Entscheidungsfähigkeit, Selbstbewusstsein und innere Stärke machen für ihn den Dialog nicht überflüssig, sondern setzen ihn voraus. Führungsverantwortung und Gesprächsfähigkeit: Nur beides zusammen macht einen guten Politiker aus – und nur beides zusammen ergibt seine Größe.

Deswegen berufen sich diejenigen zu Unrecht auf ihn, die heute einer neuen Sehnsucht nach dem Autoritären das Wort reden und ausgerechnet ihn dafür als politisches Beispiel anführen zu können glauben. Schmidt hat immer gewusst, wo seine Gegner, genauer: die Gegner der Demokratie waren. Er hätte es auch heute gewusst – und ich hoffe, wir wissen es auch.

Ein Mann des Gesprächs und des Dialogs. Das zeigt auch ein auf den ersten Blick seltsamer, aus heutiger Sicht nachgerade naiver Vorschlag Helmut Schmidts, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Im Mai 1978 veröffentlichte der Bundeskanzler einen langen Grundsatzartikel in der ZEIT, nicht als Regierungsverlautbarung, sondern als persönlichen Aufruf. Darin plädierte er nachdrücklich für einen fernsehfreien Tag in der Woche. Er meinte damit nicht, dass die Sendeanstalten kein Programm senden sollten. Vielmehr sollten sich Familien, Nachbarschaften oder andere Kreise freiwillig auf einen Tag einigen, an dem sie, statt sich dem Medienkonsum hinzugeben, neu oder wieder miteinander ins Gespräch kommen.

Ich erinnere mich noch gut: Der Artikel hat ihm seinerzeit zwar durchaus Zustimmung, aber vor allem eine Menge Spott eingebracht. Aber er benennt hier ein Problem, das sich in unseren Tagen, mehr als 40 Jahre später, noch einmal in verschärfter Form zeigt. Es ging ihm nämlich nicht allein um das Fernsehen als solches, sondern, wie der Untertitel seines Aufsatzes sagt, um einen Anstoß für mehr Miteinander in unserer Gesellschaft.

"In der letzten Zeit", so schreibt er, "habe ich über die Distanz nachgedacht, mit der sich heute Einzelne und Gruppen in der Bundesrepublik gegenüberstehen. Bei mir wie bei vielen anderen verstärkt sich der Eindruck, die Menschen in unserem Land reden heute nicht genug miteinander, sie tun nicht oft genug etwas miteinander."

In diesem Tatbestand sieht er enorme Gefahren für die Gesellschaft, ja auch für die Demokratie. Wenn jeder nur sein eigenes Programm schaut, also sich allein in seiner Welt aufhält, dann verschwindet etwas, das spürte er wohl, das für die Gesellschaft doch eine grundsätzliche Notwendigkeit ist: der Austausch über die Grenzen in sich geschlossener Welten oder Weltbilder hinweg, gerade auch mit denen, mit denen man nicht ohnehin einer Meinung ist.

"Diesem Mangel an Kommunikation unter den Menschen", so schrieb er schon damals, "steht ein ungemein gewachsenes Angebot an Kommunikationsmöglichkeiten gegenüber." Er konnte – lange vor der Erfindung von Internet und Smartphone – nicht wissen, dass er damit das Kernproblem der Demokratie im digitalen Zeitalter aufgerufen hat. Aber die Ahnung, dass in der Aufrechterhaltung des Gesprächs der Gesellschaft mit sich selbst die Voraussetzung von Demokratie liegt, mutet geradezu visionär an, auch wenn er dieses Wort, wie wir wissen, gar nicht mochte.

Damals gab es noch keine "neuen" oder "sozialen" Medien. Und das Fernsehen, so würden wir aus heutiger Perspektive sagen, verbreitete doch ein ziemlich facettenreiches Bild von der Welt und ließ die gegensätzlichsten Stimmen zu Wort kommen. Und doch ahnte Helmut Schmidt schon damals eine fundamentale Gefährdung der Gesellschaft, die gerade mit den Kommunikationsmitteln und einer veränderten Kommunikationspraxis zusammenhängt. Wir wissen alle, wie sehr sich in den letzten Jahren dieses Problem immer deutlicher zeigt, ohne dass ich das Themenspektrum von Filterblasen über Fake News und gefühlten Wahrheiten weiter ausführen will. Und ich weise nur auf das inzwischen immer erschreckender werdende Phänomen hin, dass ganze Teile von Gesellschaften, nicht nur in den USA, durch selektiven Mediengebrauch in vollkommen unterschiedlichen Welten leben. Schmidt schrieb: "Gerade eine Demokratie ist darauf angewiesen, dass ihre Bürger nicht nebeneinander her leben, sondern ihr Leben gemeinsam, miteinander, gestalten."

Da mir selber dieses Thema in der letzten Zeit immer wichtiger geworden ist, weise ich auf diese frühe Mahnung von Helmut Schmidt hin. Der Text zeigt übrigens, wie sehr den angeblichen Macher Helmut Schmidt immer die Sorge umgetrieben hat um die geistige Situation der Gegenwart, um die Demokratie, um die Zukunft einer demokratischen, freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft.

Man erkennt hier einen Politiker, der weiter dachte als bis zum nächsten Wahltermin; einen Politiker, der über das sogenannte politische Geschäft hinausdachte. Einen Politiker schließlich, den die Erfahrung mit der Ideologie des Nationalsozialismus und – ganz anders – mit dem Terrorismus der 1970er Jahre höchst sensibel gemacht hatte für gesellschaftliche Verwerfungen, selbst wenn sie sich ganz leise ankündigten. Vor Gefahren, die er kommen sah, hat er bis in seine späten Jahre eindringlich und wirkungsvoll gewarnt. Die soziale und freiheitliche Demokratie zu bewahren und zu entwickeln, hat er als seine Lebensaufgabe angesehen. Das ist sein bleibendes Vermächtnis.

Wie sehr er mit seinem entschiedenen und verantwortlichen Eintreten für diese Gesellschaft und diesen Staat auch kritische Geister bewegen konnte, davon zeugt – und damit will ich schließen – ein Brief, den Siegfried Unseld zwei Monate nach dem Treffen im Kanzleramt an Heinrich Böll zu dessen 60. Geburtstag geschrieben hat. Diese Worte haben von ihrer Aktualität, wie ich finde, nichts eingebüßt.

Unseld beruft sich ausdrücklich auf die gemeinsamen Stunden mit dem Bundeskanzler in Bonn und schreibt dann an Böll: "Wir haben diesen Staat immer mehr kritisiert als gelobt. Vielleicht sollten wir jetzt die Verfassung, welche uns das Grundgesetz ermöglicht, durch immer wieder ausgedrückte öffentliche Sympathie verstärken. Wenn wir es nicht sagen, dass unser Staat  der freiheitlichste unserer Geschichte ist, dann nehmen unsere Gegner das für sich in Anspruch."

Helmut Schmidt hätten diese Worte sehr gefreut. Sie waren von ihm inspiriert und sie sind aus seinem Geist.

Vielen Dank.