Rede des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil,

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Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir stehen an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts. In wenigen Monaten enden die 2010er Jahre, die 2020er Jahre beginnen. Bevor wir darüber reden, wie wir in die nächsten zehn Jahre gehen, möchte ich vermessen, wo wir heute am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik stehen. Tatsache ist, dass sich der Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren sehr, sehr gut entwickelt hat. Die Arbeitslosigkeit ist um ein Drittel reduziert worden. Heute sind über 5,5 Millionen Menschen mehr in Lohn und Brot als vor zehn Jahren; ich rede von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. In manchen Branchen und einigen Regionen herrscht faktisch Vollbeschäftigung. In der Grundsicherung sind heute über eine Million Menschen weniger als vor zehn Jahren als Langzeitarbeitslose zu vermelden. Die Bruttolöhne in Deutschland sind im Durchschnitt um mehr als ein Viertel gestiegen, ebenso übrigens die Renten.

Ich erwähne das nicht, um kleinzureden, vor welchen Herausforderungen wir jetzt stehen. Ich sage auch nicht, dass das die gesamte Lebenswirklichkeit in Deutschland erfasst. Aber wenn wir jetzt in die 20er Jahre gehen, dann bieten die letzten zehn Jahre, dann bietet das, was die Menschen in diesem Land geleistet haben, allen Grund zu realistischer Zuversicht, dass wir die Aufgaben, die wir vor uns haben, auch bewältigen können. Dieses Land kann stolz darauf sein, was in den letzten zehn Jahren geleistet wurde.

Aber es geht nicht allein um gute Bilanzen und Statistiken. Es geht um mehr, nämlich um die Frage, ob wir das Kernversprechen der Sozialen Marktwirtschaft erneuern wollen. Dieses Kernversprechen lautet, dass wir in diesem Land nicht wirtschaftliche Stärke und Reichtum für wenige wollen, sondern Wohlstand und Sicherheit für viele. Wir sagen: Wir müssen dieses Kernversprechen erneuern, weil das heute in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen nicht mehr Realität ist. Wenn wir Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft dieses Landes haben wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass der Fortschritt, der sich jetzt durch technologischen Wandel abzeichnet, nicht Fortschritt für wenige im Sinne von Wohlstand für wenige ist, sondern sozialer Fortschritt für das ganze Land. Denn richtig ist, dass trotz aller Erfolge der Aufschwung im letzten Jahrzehnt nicht bei allen Menschen angekommen ist.

Wir reden hier nicht über statistische Kollateralschäden. Wir reden über ganz konkrete Lebensschicksale von Menschen, Menschen wie beispielsweise Herrn Schmidt aus Heidelberg, den ich kennengelernt habe. Herr Schmidt ist heute um die 40 Jahre alt. Vor vielen Jahren hat er einen ziemlich großen Schicksalsschlag erlitten. Seine Eltern sind relativ früh gestorben; das hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat seine Arbeit verloren, irgendwann auch seine Wohnung. Er war über 20 Jahre langzeitarbeitslos und eine Zeit lang, wie gesagt, auch wohnungslos. Solche Biografien, solche Lebensschicksale von Menschen haben wir im Blick. Ich war froh, dass mir Herr Schmidt, als wir miteinander geredet haben, mitteilen konnte, dass er jetzt Arbeit gefunden hat. Damit ist er einer von 30.000 Menschen, die durch den sozialen Arbeitsmarkt, den wir im letzten Jahr auf den Weg gebracht haben, Arbeit gefunden haben. Herr Schmidt arbeitet jetzt als Hausmeister in einer Schule, und zwar – das klingt fast wie ein Märchen – in einer Waldorfschule.

Es geht um Menschen, und Arbeit macht eben einen Unterschied. Für Herrn Schmidt bedeutet Arbeit nicht nur Broterwerb, sondern auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das heißt, Kolleginnen und Kollegen zu haben, etwas zu leisten, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Das dürfen wir nicht vergessen.

Arbeit macht den Unterschied, und Arbeit muss den Unterschied machen, wenn es beispielsweise darum geht, die Löhne in der Pflege zu verbessern. Wir haben im Sommer das Gesetz für bessere Löhne in der Pflege beschlossen als Ergebnis der Konzertierten Aktion Pflege – zusammen mit dem Kollegen Spahn, der Kollegin Giffey haben wir das auf den Weg gebracht –, weil es nicht nur darum geht, Menschen in Arbeit zu bringen, sondern auch darum, den Wert der Arbeit in diesem Land zu stärken, und das gilt vor allen Dingen für die Pflege.

Wir müssen dafür sorgen, dass im Wandel der Arbeitsgesellschaft, im Zeitalter der Digitalisierung die Digitalisierung nicht mit Ausbeutung verwechselt wird. Wir werden deshalb in der nächsten Woche im Bundeskabinett dafür sorgen, dass wir in der Paketbranche endlich eine Nachunternehmerhaftung bekommen, die dafür sorgt, dass die Menschen die Pakete, die beispielsweise über Amazon bestellt werden, tatsächlich unter fairen, anständigen Arbeitsbedingungen und dem notwendigen sozialen Schutz in Deutschland ausliefern.

Arbeit muss einen Unterschied machen, auch für Selbstständige, die wir in das System der Alterssicherung einbeziehen wollen. Wir haben auch im Bereich der Selbstständigen immer mehr Menschen, die ganz fleißig arbeiten, aber am Ende des Tages in die Grundsicherung fallen.

Wir wollen und werden auch Normalverdiener in diesem Land entlasten, zum Beispiel die Angehörigen und Kinder von Pflegebedürftigen, damit Pflege in diesem Land nicht zu einem Thema wird, das Familien sozial spaltet. Das Angehörigen-Entlastungsgesetz bringt eine Entlastung für die arbeitende Mitte in dieser Gesellschaft. Es bringt Frieden in die Gesellschaft, es bringt Frieden in die Familien; auch das bringen wir auf den Weg.

Aber Arbeit muss auch einen Unterschied machen, was die Rente in Deutschland angeht. Ich habe beispielhaft auch Susanne Holtkotte in diesem Jahr kennengelernt, die in Bochum als Reinigungskraft in einem Krankenhaus arbeitet. Das ist ein harter Job. Susanne Holtkotte ist jetzt 48 Jahre alt. Sie putzt die Betten im Krankenhaus. Jeder von uns weiß, dass das eine ganz, ganz wichtige Tätigkeit für unsere Gesellschaft ist; es geht um Hygiene in Krankenhäusern. Sie verdient den Mindestlohn im Gebäudereinigerhandwerk, knapp über elf Euro. Wenn sie in 18 Jahren in Rente geht, war sie 41 Jahre berufstätig – und hätte nach geltender Rechtslage eine Rente von nur 715 Euro. Susanne Holtkotte ist das klassische Beispiel dafür, dass wir endlich die Grundrente in Deutschland durchsetzen müssen. Ich glaube, dass wir als Koalition in der Lage sind, dieses Problem gemeinsam zu lösen.

Ich sage an die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen gerichtet: Mein Vorschlag liegt auf dem Tisch. Wir werden darüber in den nächsten Wochen verhandeln. Ich bin gern bereit, über die Zielgenauigkeit meines Vorschlages zu reden und das miteinander zu klären. Aber eines will ich Susanne Holtkotte nach 41 Jahren Berufstätigkeit ersparen, nämlich dass sie zum Amt muss und erlebt, dass es um Fürsorgeleistungen geht. Die Rente ist keine Fürsorgeleistung. Das ist ein erworbener Verdienst von Menschen. Es sind Anwartschaften, die Menschen erworben haben.

Wir müssen hier unterscheiden. Bei der Grundsicherung geht es um existenzsichernde Leistungen; da gibt es natürlich eine Bedürftigkeitsprüfung. Wenn man nicht über die Runden kommt, muss man nachweisen, dass einem Unterstützung in Form von existenzsichernden Leistungen zusteht. Aber hier geht es ja darum, dass Menschen mehr bekommen als das Existenzminimum. Es geht um den Lohn für die Arbeit ihres Lebens. Wir werden an Lösungen arbeiten, aber ich habe eine Bitte. Ich habe erlebt, wie meine beiden Amtsvorgängerinnen, Ursula von der Leyen und Andrea Nahles, versucht haben, die Grundrente auf den Weg zu bringen. Ich glaube, dass wir es an der Schwelle zum neuen Jahrzehnt als Staat, als Gesellschaft als notwendig ansehen, dieses Problem hinreichend zu lösen. Ich bin zuversichtlich, dass uns das in dieser Koalition gelingt. Wir stehen in der Pflicht. Wir werden uns einigen müssen, wir werden Kompromisse finden müssen. Aber am Ende muss eine Grundrente stehen, die diesen Namen auch verdient.

Es geht nicht nur um Statistiken und nicht nur um Einzelschicksale, sondern es geht um die Frage: Mit welcher Haltung geht diese Gesellschaft in das neue Jahrzehnt, ein Jahrzehnt voller Veränderungen, voller Wandel? Wie man gestern in einer Studie der Bertelsmann Stiftung nachlesen konnte, müssen wir feststellen, dass trotz der guten wirtschaftlichen Lage Sorgen und Ängste bis in die Mitte unserer Gesellschaft gekrochen sind, nämlich Sorgen, wie es weitergeht, Sorgen um die Zukunft in einer Arbeitsgesellschaft, die vom digitalen Wandel geprägt ist. Wir erleben ja auch, dass es inzwischen politische Scharlatane gibt, die Ängste und Sorgen schüren und versuchen, daraus ein Geschäftsmodell zu machen, ohne je ein Problem zu lösen, und die die Gesellschaft nur spalten. Das muss uns als Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause aufrütteln. Dazu gehört, dass wir den Menschen nicht versprechen, sie vor dem Wandel beschützen zu können; das kann Politik nicht. Aber dass wir Chancen und Schutz in Zeiten des Wandels organisieren, das ist die Aufgabe eines modernen Sozialstaates. Deshalb müssen wir vor allen Dingen den Arbeitsmarkt in den Blick nehmen.

Das heißt, ganz konkret dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen machen können. Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir einen wichtigen Baustein gelegt, um in Weiterbildung zu investieren und die Fachkräftesicherung von Unternehmen zu unterstützen. Aber wir müssen mehr tun. Angesichts der konjunkturellen Risiken, die es in der Weltwirtschaft gibt, müssen wir dafür sorgen, dass wir auch in schwierigen Zeiten Beschäftigung sichern und auf Weiterbildung und Qualifizierung setzen. Das ist wirtschaftlich vernünftig, weil es die Fachkräftesicherung unterstützt. Aber es ist vor allen Dingen wichtig, damit Menschen in Zeiten rasanten Wandels spüren, dass wir es schaffen. Das ist uns vor zehn Jahren in der Finanzkrise mit den veränderten Regeln zur Kurzarbeit gelungen – Olaf Scholz war damals Arbeitsminister –, und das muss uns, falls es notwendig wird, auch gelingen durch die Verbindung von Kurzarbeit und Weiterbildung. Deshalb werde ich in diesem Herbst ein Arbeit-von-morgen-Gesetz vorlegen.

Zum Schluss. Wir stehen auch an der Schwelle zu einem neuen Jahrzehnt, was Wirtschaft und Arbeitsmarkt angeht. Ein großer amerikanischer Präsident – und glauben Sie mir, es gab große amerikanische Präsidenten – hat in ganz anderer Zeit einmal den Satz gesagt: Wir haben nichts so sehr zu fürchten wie die Furcht selbst. "The only thing we have to fear is fear itself", sagte Roosevelt 1933. Das waren schlimme Zeiten der Depression; in solchen Zeiten befinden wir uns jetzt gar nicht. Aber da die Sorgen da sind, müssen wir in diesem Land sagen: Wir haben die Wahl zwischen Angst und realistischer Zuversicht. Wir wählen die Zuversicht, weil wir allen Grund dazu haben, mit Mut und Zuversicht an die Aufgaben am Arbeitsmarkt zu gehen. Das ist das, was diese Regierung gemeinsam leisten wird. Herzlichen Dank.