Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Joschka Fischer,

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"Multilateralismus als Aufgabe deutscher Außenpolitik"

Zum ersten Mal in der Geschichte des Auswärtigen Amts findet heute eine Konferenz mit allen Leiterinnen und Leitern der deutschen Auslandsvertretungen statt. Ich freue mich sehr, dass Sie hierzu nahezu vollzählig nach Berlin gekommen sind. Auch Ihre Partnerinnen und Partner begrüße ich sehr herzlich. Besonders aber möchte ich unsere Gäste begrüßen: Hubert Védrine, den Außenminister unseres engsten und wichtigsten europäischen Partnerlandes, dessen Vorbild Pate stand für diese Konferenz, und zahlreiche Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Botschafter von befreundeten Staaten. Seien Sie alle recht herzlich willkommen!

Warum diese Konferenz?

  • Zum einen ist angesichts der tiefgreifenden Veränderungen unseres Umfeldes und der Stellung unseres Landes 10 Jahre nach der deutschen Einheit und nach dem Umzug von Bundestag und Bundesregierung nach Berlin die Zeit reif geworden für eine strategische Überprüfung unserer außenpolitischen Interessen und Schwerpunkte. Hierfür sind Ihre Kenntnisse und Erfahrungen unverzichtbar.

  • Zugleich müssen der Auswärtige Dienst, sein Selbstverständnis und seine Strukturen, dringend modernisiert und den neuen Herausforderungen an die Außenpolitik des vereinten Deutschlands angepasst werden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Zusammentreffen dreier Faktoren: eines veränderten Anforderungsprofils an die moderne Diplomatie - dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder, zweitens unserer gewachsenen Verantwortung, und drittens im krassen Widerspruch hierzu stehend, den einschneidenden Haushaltskürzungen. Diese Gemengelage wird schon bald wesentliche Funktionen unseres Dienstes und damit wichtige Interessen unseres Staates und seiner Bürger gefährden, wenn wir nicht den Mut aufbringen für eine wirklich umfassende Reform, aber auch für eine neue Prioritätensetzung des Auswärtigen Dienstes.

Die kommenden Tage werden Ihnen Gelegenheit bieten, Ihre Anregungen, Ihr Wissen und auch Ihre Kritik einzubringen. Ich möchte Sie bitten, dabei so offen wie möglich zu sein. Nur dann werden wir zu optimalen Ergebnissen gelangen können.

Wo steht unsere Außenpolitik heute - 10 Jahre nach der Wiedervereinigung, am Beginn des neuen Jahrhunderts, angekommen in Berlin, in diesem Gebäude, in dem sich die deutsche Vergangenheit bündelt und in jedem Winkel fühlbar ist? Wir alle spüren, dass sich die Rolle Deutschlands zu verändern beginnt. Am deutlichsten ist dies mit unserer Beteiligung an dem Krieg im Kosovo geworden, der eine entscheidende und in seinen Auswirkungen noch gar nicht absehbare historische Zäsur für unser Land darstellt und mit dem das seit langem erhobene Postulat nach der gewachsenen Verantwortung zu konkreter Politik wurde. Doch trotz dieser und anderer Umwälzungen in den vergangenen Jahren darf nicht übersehen werden, dass die Kräfte der Kontinuität für die deutsche Außenpolitik viel bestimmender bleiben als der Wandel, und das ist gut so. Die Grundkonstanten - Lage, Interessen, Werte und Geschichte – sind die gleichen geblieben. Deutschlands Abhängigkeiten sind nicht geringer geworden. Seine Verantwortung für Europa und den Brückenschlag nach Osten sind vielmehr eher noch gewachsen. Europäische Friedenspolitik, eine enge Partnerschaft mit Paris und Washington, London und Warschau, die Freundschaft mit unseren Nachbarn sowie ein gutes Verhältnis zu Moskau bleiben für uns von zentraler Bedeutung.

Außenpolitische Kontinuität und Verlässlichkeit sind angesichts des hohen internationalen Verflechtungsgrades deutscher Politik und angesichts unserer Geschichte Primär- und nicht nur Sekundärtugenden. Das Vertrauen und die Berechenbarkeit, die wir in den vergangenen 50 Jahren aufgebaut haben, können wir nur bewahren durch Fortführung einer verantwortlichen und klugen Politik multilateraler Interessenvertretung und indem wir zu der Verantwortung für unsere Geschichte stehen. Darin liegt die Bedeutung der Entscheidungen zum Holocaust-Mahnmal und dem Zwangsarbeiterabkommen. Und aus dieser Verantwortung heraus sagen wir allen Formen von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus den entschiedenen Kampf von Staat und Gesellschaft an. Von Deutschland darf nie wieder Rassismus und Gewalt gegen Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbe oder gar Antisemitismus ausgehen!

Nur wenn wir diesen Kurs zweifelsfrei und ohne Misstrauen zu erzeugen fortführen, werden sich uns die Spielräume eröffnen, die wir brauchen und die deutsche Außenpolitik gestaltend nutzen kann. Anders gesagt: Deutsche Interessen sind nur historisch eingebettet und dialektisch denkbar, da unser Land einen umso größeren Gestaltungsspielraum im Rahmen seiner europäischen und transatlantischen Einbindung haben wird, je verlässlicher wir auf Kontinuität setzen. Je mehr Kontinuitätund Verlässlichkeit desto mehr Gestaltungsfähigkeit gibt es für die Außenpolitik des vereinten Deutschlands. So lässt sich diese Grundtatsache in eine Formel fassen.

Zugleich ist aber die Notwendigkeit einer Neugewichtung nicht zu leugnen. Der europäische Einigungsprozess, die Globalisierung, die Instabilitäten einer Welt im Umbruch, können nicht ohne Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik bleiben. Diese muss auch dem größeren Gewicht unseres Landes und den hohen Erwartungen unserer Partner Rechnung tragen. Ein Staat kann von seinem strategischen Potential, das sich aus seiner Bevölkerungsgröße, seiner Wirtschaftsleistung und seinen Interessen ergibt, nicht einfach zurücktreten, kann seine geopolitische Lage nicht ignorieren. Deutschlands Gewicht ist viel bedeutender, als es von vielen in Deutschland selbst wahrgenommen wird. Zu leugnen, dass sich dieses objektive Potential vergrößert hat, wäre töricht, unredlich und würde Misstrauen, nicht Vertrauen fördern. Offenheit und Berechenbarkeit müssen gerade von Berlin aus, wo die deutsche Geschichte in ihren Widersprüchen wie in keiner anderen deutschen Stadt fast physisch spürbar ist, Markenzeichen deutscher Außenpolitik sein und bleiben.

Die Frage, die sich stellt, ist also die, wie das vereinte Deutschland mit dem Zuwachs an Einfluss so verantwortlich und klug wie möglich umgehen kann und soll. Die entscheidende Lektion aus unserer Geschichte ist, dass Deutschland weder zu Alleingängen taugt noch zu raumausgreifender Weltpolitik. Selbstbeschränkung und eine klare Absage an Interventionismus müssen weiter Richtschnur für uns bleiben. Aber Deutschland wird in Zukunft häufiger gefordert sein, wenn es um massive Menschenrechtsverletzungen, um eine Gefährdung von Frieden und Sicherheit oder um die Stärkung des Multilateralismus geht, selbst wenn dabei keine „klassischen" deutschen Interessen unmittelbar berührt sind. Wir stehen hier erst am Beginn eines Umdenkens, wie die Osttimor-Debatte vor einem Jahr gezeigt hat.

Erhöhte Verantwortung wird von uns auch konzeptionell eine aktivere Mitgestaltung europa- und weltpolitischer Entwicklungen erfordern. Das Entscheidende aber ist, dass größeres Engagement sich immer an dem überwölbenden Ziel orientieren muss, das seit über 50 Jahren im Zentrum unserer Außenpolitik steht, nämlich der Stärkung des Multilateralismus und der Herrschaft des Rechts, also von Kooperation anstatt Hegemonie.

Aus diesem "multilateralen Imperativ" ergeben sich die Schwerpunkte deutscher Außenpolitik: die Vollendung der europäischen Integration, die Stärkung der transatlantischen Partnerschaft, die Förderung regionaler Kooperation über Europa hinaus und die Stärkung der OSZE und der Vereinten Nationen. Diese übergeordneten Ziele bilden den Überbau für die wichtigsten Projekte, die jetzt vor uns liegen, und diese sind:

Erstens: Die Erweiterung und Vertiefung der europäischen Integration. Die historische Bedeutung der Integration besteht darin, dass durch sie die alten Gespenster Europas, Hegemonialstreben, militärische Suprematie, prekäre Gleichgewichte und Koalitionen, Diktatur und Unterdrückung Geschichte geworden sind. Haben wir damit alles erreicht? Ich meine keineswegs! Es sprechen vielmehr 3 gewichtige Argumente dafür, die Integration weiter fortzuführen: die Erweiterung der EU, der politische Integrationsdruck durch die Einführung des Euro und die Globalisierung der Welt, in der sich Europa nur als auch politisch vereinte Kraft wirksam wird behaupten können.

Das nächste wichtige strategische Ziel für die EU ist nun die Erweiterung. Sie ist eine zwingende Konsequenz des Endes des Kalten Krieges. Wir werden dieses historische Projekt so zügig wie möglich voranbringen. Dabei müssen die Auswirkungen auf unsere Landwirtschaft und den Arbeitsmarkt ernstgenommen werden. Dies darf aber nicht zu einer Verzögerung der Erweiterung führen, sondern muss notfalls durch entsprechende Übergangsfristen aufgefangen werden. Auch die Vorstellung, dass ausgerechnet das vereinte Deutschland, das seine Einheit nicht zuletzt Polen, Tschechien und Ungarn verdankt, seine Verfassung jetzt ändert, um eine Volksabstimmung über die Osterweiterung abzuhalten, halte ich angesichts dieser Tatsache und der Verantwortung für unsere Geschichte für völlig inakzeptabel. Um den Prozess der Erweiterung berechenbarer zu machen, sollten wir bis zum Ende des Jahres eine Art "road map" entwickeln, die die wichtigsten Etappen aufzeigt. Ich hoffe, dass die erste Gruppe unter Einschluss Polens spätestens am Beginn des Jahres 2005 beitreten kann. Wenn es geht, sollte es früher sein.

Mit den Beschlüssen von Helsinki hat die EU die Weichen in Richtung einer Union von bis zu 30 Mitgliedern gestellt. Ich habe in meiner Humboldt-Rede ausgeführt, dass dies nur zweierlei bedeuten kann, entweder Erosion durch den Verlust von Handlungsfähigkeit, oder aber weitere Integration, durch den Umbau der Institutionen, Vollparlamentarisierung und Souveränitätsteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten in einem Verfassungsvertrag. Um genau diese Fragen wird es von nun an für uns gehen.

Entscheidend für die Erweiterungsfähigkeit ist ein Erfolg der laufenden Regierungskonferenz. Wir werden Frankreich mit all unseren Kräften dabei unterstützen, in Nizza zu einem substantiellen und erfolgreichen Ergebnis zu gelangen. Deutschland und Frankreich bilden gemeinsam den Motor der europäischen Integration, und dieses ganz besondere Verhältnis ist in seiner europäischen Funktion auch nicht austauschbar. Es ist für die Zukunft Europas von allergrößter Bedeutung, dass wir diesen Integrationsmotor wieder auf volle Touren bringen konnten.

Nach Nizza wird es zum einen darauf ankommen, integrationswilligen Staaten durch den Ausbau der verstärkten Zusammenarbeit ein weiteres Vorangehen zu ermöglichen. Zugleich wird die Verfassungsdebatte schon sehr bald und mit Macht in den Mittelpunkt der Europapolitik rücken. Die Kernfrage wird dabei die Frage nach der Souveränitätsteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten sein. Zur Behandlung dieser Thematik würde sich die Einsetzung eines "Konvents" aus unabhängigen Beratern, wie es sich bei der EU-Grundrechtecharta bewährt hat, anbieten.

Zweitens: Die Stabilisierung und Heranführung Südosteuropas an das Europa der Integration wird weiter unseren ganzen Einsatz fordern. Ein Jahr nach dem Kosovokrieg droht Milosevic die Region in die nächste schwere Krise zu stürzen. Wenn sich die serbische Bevölkerung in den anstehenden Wahlen klar für die Demokratie ausspricht und das heißt gegen Milosevic, dann kann dieser zwar durch Wahlfälschung seine Macht formal perpetuieren, zumindest aber hätte die politische Landschaft sich verändert. Wir müssen deshalb weiter alles tun, um der Belgrader Propagandamaschine den Boden zu entziehen, und um die demokratischen Kräfte in Serbien zu unterstützen. Milosevic wird nicht ruhen, bis er Montenegro destabilisiert hat. Wir werden daher im Sinne aktiver Krisenprävention alles tun müssen, um Djukanovic wirtschaftlich so massiv zu stützen, dass er politisch imstande ist, die Belgrad-nahen Kräfte politisch zu schwächen. 

Meine Kosovoreise vor einer Woche hat leider den Eindruck wieder bestätigt, dass wir einen langen Atem brauchen werden, um diese von Gewalt und Hass zerrüttete Region zu stabilisieren. Dabei muss die schwierige Frage des endgültigen Status des Kosovo zunächst zurückgestellt werden. Eine endgültige Lösung dieser Frage wird nicht nur zwischen den Betroffenen, sondern nur im Einvernehmen mit den Nachbarn und deren Interessen gefunden werden können. Wir brauchen hierfür einen regionalen Sicherheitsprozess unter dem Dach des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, gründend auf Gewaltverzicht und Anerkennung existierender Grenzen.

Der Stabilitätspakt war ein Wendepunkt für Südosteuropa. Mit ihm ist dort das Konzept der Konfliktprävention erstmals in einem umfassenden Ansatz verwirklicht worden. Diese neue Idee hat trotz großer Hürden und trotz des Faktors Milosevic ein Klima der Hoffnung in der Region entstehen lassen. Dieser Zustand ist jedoch labil und er kann jederzeit in Enttäuschung umschlagen. Wir müssen dem Stabilitätspakt deshalb weiter unsere ganze Kraft widmen.

Drittens: Die Förderung von regionalen Ansätzen über Europa hinaus. Bedingt durch die Umstände haben wir uns in den vergangenen zwei Jahren stark auf Europa und den Balkan konzentriert. Wir dürfen uns aber hierauf nicht beschränken. Mit der Erweiterung wird die EU neue direkte Nachbarn erhalten. Russland, der "Kaspische Raum", der Nahe und Mittlere Osten, Länder und Regionen also, die uns heute weit entfernt scheinen, werden sich in ihren inneren und äußeren Entwicklungen stärker und unmittelbarer auf uns auswirken. Hierauf sollten wir uns rechtzeitig einstellen. Gerade das Gebiet zwischen Zentralasien, dem Kaukasus und dem Mittleren Osten ist voller Instabilitäten – Öl, religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogen, nuklearer Rüstungswettlauf - und droht zu der Krisenregion des vor uns liegenden Jahrhunderts zu werden. Dort könnte ein neuer, umfassender Helsinki-artiger Regionalansatz eine wichtige stabilisierende Rolle spielen. Hierfür sollten sich die Europäer politisch engagieren. Auch in anderen Teilen des asiatischen Kontinents mit seinem sehr großen ökonomischen Potential, wo sich aber auch wie sonst nirgendwo auf der Welt Gefahren für die regionale und globale Sicherheit ballen, wird ein friedlicher Interessenausgleich durch regionale Kooperation immer stärker zu einer zwingenden Notwendigkeit.

In Lateinamerika und auch in Afrika haben Regionalansätze bereits an Bedeutung gewonnen. Die Entwicklung geht dabei auf beiden Kontinenten angesichts der vorherrschenden Unterschiede in Richtung eines subregional differenzierten Vorgehens, und genau dieses sollten wir auch unterstützen. Wir haben deshalb als ersten Schritt die Erarbeitung von Konzepten für das südliche Afrika und für den Andenraum in Auftrag gegeben.

Viertens. Die Stärkung der Vereinten Nationen. Die Welt des 21. Jahrhunderts wird multipolar und ihre Probleme werden nur durch ein ganzheitliches und nachhaltiges Handeln auf globaler Ebene lösbar sein. Eine starke, handlungsfähige UNO ist unverzichtbar zur Lösung der großen Menschheitsaufgaben, der Sicherung des Weltfriedens, der Durchsetzung der Menschenrechte, der Sicherung einer gerechteren, nachhaltigen Entwicklung. In der Globalisierung liegen enorme Chancen. Verläuft sie aber ungezügelt und ohne politisch gestaltendes Korrektiv, dann wird sie die Ungerechtigkeit in der Welt weiter vermehren. Die Prozesse der Globalisierung müssen deshalb von einem Mehr an internationaler Regelsetzung und einer Stärkung der Vereinten Nationen und ihrer Institutionen, allen voran des Sicherheitsrats, begleitet werden.

Deutschland wird sich auch in der Uno seiner gewachsenen Verantwortung stellen müssen. Einhaltung der Menschenrechte, Konfliktprävention und Umweltschutz haben für diese Bundesregierung eine hohe Priorität. Ich möchte Sie alle bitten, sich für diese Anliegen in Ihrem Verantwortungsbereich besonders einzusetzen.

Fünftens: Eine enge Partnerschaft mit den USA und anderen weltpolitischen Akteuren. Die Europäer werden, auch wenn sie sich enger zusammenschließen, zur Erreichung ihrer Ziele Partner brauchen, und dies gilt vor allem für die USA. Ein enges und freundschaftliches Verhältnis zu Amerika und die gemeinsame feste Integration in den transatlantischen Strukturen, in der Nato bleiben auch im neuen Jahrhundert für das Schicksal Europas von zentraler Bedeutung. Wie existentiell dieses Verhältnis ist, haben die Balkankriege erneut gezeigt. Aber das Verhältnis zu Amerika muss sich erneuern. Neben die Themen der europäischen Sicherheit werden immer stärker die globalen Fragen auf die transatlantische Agenda rücken. Nur wenn die globalen Kraftzentren Europa und Amerika gemeinsam handeln, werden sie Herausforderungen wie Klima, Gentechnik oder das internationale Handels- und Finanzsystem meistern können. Wir müssen versuchen, die Amerikaner zu überzeugen, dass die Schaffung eines wirksamen Rechtsrahmens und die Stärkung der multilateralen Strukturen in unserem gemeinsamen Interesse liegt.

Die Entscheidung Präsident Clintons, mit dem Aufbau von NMD jetzt nicht vorzupreschen, ist sehr zu begrüßen. Die Verwirklichung dieses Programms zum jetzigen Zeitpunkt hätte weitreichende Konsequenzen für das internationale Rüstungskontrollregime und für das Verhältnis der USA zu wichtigen Staaten wie Russland und China gehabt. Es ist aus unserer Sicht zu wünschen, dass auch der nächste amerikanische Präsident mit vergleichbarer Umsicht mit diesem Thema umgeht.

Wir brauchen zur Lösung der globalen und wichtigen europäischen Fragen auch und gerade Russland, so schwer es gegenwärtig für dieses Land ist, mit seinen Problemen Fertigzuwerden. Der Krieg in Tschetschenien ist trotz ungezählter Beteuerungen immer noch nicht zuende. Jüngstes Schlaglicht auf die enormen Schwierigkeiten des Landes war die tragische Katastrophe des Untergangs der "Kursk". Nichts hat so sehr die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit offengelegt, auf sehr tragische Art und Weise. Zugleich haben aber die starken und mutigen Reaktionen der Menschen und der Medien gezeigt, dass die russische Gesellschaft ihr totalitäres Erbe langsam zu überwinden beginnt, und dies gibt Hoffnung für die Zukunft. Es ist zu hoffen, dass die russische Führung jetzt die richtigen Konsequenzen aus der Katastrophe der „Kursk" zieht. Die innere und äußere Stärkung Russlands und seiner Wirtschaft kann nicht über ein Zurück in staatlichen Zentralismus und eine Remilitarisierung, sondern allein durch Demokratisierung und die Stärkung des Rechtsstaats und der Demokratie und der Zivilgesellschaft gelingen. Genau dies war auch der Inhalt der Vorschläge des französischen Außen- und Finanzministers, die wir sehr begrüßen. Die Europäer werden die demokratischen Kräfte in Russland weiter mit allen Kräften unterstützen, denn ein starkes, demokratisches Russland, das bei der Lösung der Weltprobleme eine positive Rolle spielt, liegt in unser aller überragendem Interesse.

Wirksamer Multilateralismus zur Lösung weltumspannender Probleme wie Umweltschutz, Rüstungskontrolle, Diamanten- und Waffenhandel wird im vor uns liegenden Jahrhundert ein konstruktives Mitwirken auch weiterer Staaten voraussetzen. Die Beziehungen zu aufkommenden Schlüsselakteuren wie China, Japan, Südafrika oder Brasilien werden deshalb für uns an Bedeutung gewinnen. Dies gilt besonders auch für das säkulare demokratische Indien, das ein wichtiger Stabilitätsanker in Südasien, einer der gefährlichsten Krisenregionen der Erde, bleibt.

Sechstens: Die Modernisierung des Auswärtigen Dienstes durch eine umfassende Reform. Die vergangenen zwei Jahre waren geprägt durch eine Häufung außenpolitischer Krisen und Belastungen, den Krieg im Kosovo, die Dreifachpräsidentschaft in EU, WEU und G 8, die Entführungen im Jemen und leider anhaltend auf Jolo. Viele von Ihnen haben diese intensive und oft dramatische Zeit hautnah miterlebt und unsere Außenpolitik mitgestaltet. In der Zusammenarbeit mit Ihnen haben mich Ihre große Professionalität und Sachkenntnis – dies will ich auch einmal öffentlich sagen - sehr beeindruckt und mir den Einstieg sehr erleichtert. Ganz besonders und pars pro toto möchte ich hier Botschafter Göttelmann erwähnen, der eine hervorragende Arbeit gemacht hat und macht. Ihnen allen danke ich sehr herzlich für Ihre Arbeit und Ihren Einsatz!

Zugleich ist mir in dieser Zeit aber auch klar geworden, dass sich der Auswärtige Dienst von manchem Zopf trennen muss, um deutsche Interessen weiter wirksam vertreten zu können. Wir wollen das Thema einer Reform des Auswärtigen Dienstes deshalb jetzt, zur Halbzeit der Legislaturperiode, angehen und sofort mit der Umsetzung möglicher Reformen beginnen. Mein Ziel ist es, dass wir in zwei Jahren einen reformierten  Auswärtigen  Dienst haben!  Ich weiß,  diese  Aufgabe  ist  ambitioniert, aber sie muss jetzt angegangen werden!

Der erste, soeben vollzogene Schritt ist die Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen den Staatssekretären. Durch die Institutionalisierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Brüssel ist die Zusammenfassung der Abteilungen 2 und E unter einem Staatssekretär unabweisbar geworden. Dies hat die Praxis gezeigt. StS Pleuger ist seit dem 1.9. für die Abteilungen 1, 2, 2A und E zuständig, StS Ischinger für die Abteilungen 3, VN, 4, 5, 6 und das Protokoll. Diese Neuordnung wird die Gestaltung einer kohärenten, ganzheitlichen Politik zu komplexen Themen, insbesondere solchen, die die politische und die Europaabteilung betreffen, etwa auch das Verhältnis der EU zu den Beitrittsländern und der Türkei, künftig wesentlich erleichtern.

Der Reformprozess soll mit einem umfassenden internen Dialog beginnen. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Ihre Vorstellungen in offener Diskussion einbringen können. Die Debatte heute Nachmittag wird dafür den Auftakt bilden. Noch vor Ende des Jahres soll zudem eine Veranstaltung mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen von diesen in eigener Regie organisiert stattfinden. Ich will den Ergebnissen dieses Dialogs nicht vorgreifen. Zu diesem Zeitpunkt kann ich selbst mehr Fragen stellen als Antworten geben:

Welche Konsequenzen sind zu ziehen aus dem Funktionswandel der Diplomatie und den gestiegenen Erwartungen? Mir scheint, dass der Auswärtige Dienst mehr alles andere ein neues Selbstverständnis braucht. Multilateralismus, öffentliche Diplomatie und Bürgernähe erfordern von uns, dass wir schneller, flexibler und vor allem auch innovativer werden müssen, sensibel für die Anliegen unserer Partner, aber auch mit einem klaren Blick für die eigenen Interessen. Sachstandsmentalität muss durch eine stärkere Bereitschaft zu konzeptionell-strategischem Denken abgelöst werden. Auf die Fähigkeit, im öffentlichen Raum Interesse und Verständnis für unsere Anliegen zu wecken, müssen wir viel mehr Wert legen. Und wir sollten auch die Chancen nutzen, die in der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, den Gewerkschaften und den vielen Organisationen der Zivilgesellschaft liegen.

Der Dienst am Bürger steht heute gleichberechtigt neben dem Dienst am Staat. Dies muss in einem neuen Dienstleistungsbewusstsein gegenüber unseren Bürgern und in nach außen offeneren Strukturen zum Ausdruck kommen. Die Einrichtung des Krisenreaktionszentrums und von Beratungsstellen für die Außenwirtschaft waren notwendige erste Schritte. Eine Serviceeinheit als zentrale Ansprechstelle für die Bürger, vor allem in Rechts- und Konsularfragen soll folgen.

Dringend reformbedürftig ist die Personalpolitik, und zwar in allen Laufbahnen. Personalpolitik muss strategisch geplant werden. Die Karriereperspektiven jüngerer Kollegen sind so schlecht, dass sie eine ganze Generation zu demotivieren drohen. Ich weiß das. Ein Neuansatz ist dringend erforderlich. Dazu gehört eine transparente, nachvollziehbaren Grundsätzen folgende Karrieredifferenzierung auf der Basis von Chancengleichheit. In einem mid-career-planning könnte die Lösung liegen, aber vielleicht gibt es auch andere Vorschläge und Ideen. Nach einer ersten, möglichst differenzierten Berufsphase könnten nach einem klaren Verfahren transparent und nach objektiven Kriterien die Weichen für die weitere Karriereplanung, einer thematischen oder regionalen Spezialisierung oder einer Vorbereitung auf Leitungsfunktionen, gestellt werden. Auf die Förderung von Frauen wird dabei besonders zu achten sein. Ein Mehr an Planung würde auch den Familien sehr zugute kommen, die unter kurzfristigen Versetzungsentscheidungen oft besonders zu leiden haben. Die Belastung durch die vielen Versetzungen ist enorm. Was diese bedeuten, habe ich selbst früher nicht in vollem Umfang ermessen können. Vor diesem Hintergrund halte ich auch die Bezahlung nicht für übertrieben. Ich sage dies gerade auch mit Blick auf die Debatte über die Auslandszulagen.

Bei allem Respekt vor der Leistung und der Lebenserfahrung älterer Kolleginnen und Kollegen, wir können auf die Schaffenskraft und Kreativität jüngerer Mitarbeiter in leitenden Positionen nicht verzichten. Was die Stellenlage nicht hergibt, kann vielleicht teilweise durch eine stärkere Delegierung von Verantwortung kompensiert werden, durch "Verantwortung auf Zeit" also. Dies würde zu Verjüngung und besserer Motivation führen.

Viele andere Fragen drängen sich auf: Wie können wir Hierarchien, die für Motivation und Kreativität lähmend sind, abbauen? Brauchen wir in einem komplexeren Umfeld neben Generalisten nicht auch zunehmend mehr Spezialisten, zumindest auf Zeit, und vielleicht deshalb auch weniger Aus- und mehr Fortbildung? Das Amt darf kein closed shop sein! Brauchen wir daher nicht mehr Austausch mit Externen, auf Gegenseitigkeit und auf Zeit? Fragen über Fragen also, denen wir uns stellen und über sie anschließend auch entscheiden müssen.

Bei all dem stellt sich die Frage, wie wir ständig neue Aufgaben erfüllen können, wenn gleichzeitig unser Haushalt immer weiter beschnitten wird. So wichtig die Sparpolitik ist, die Außenpolitik darf nicht auf kurzsichtige Buchhaltung reduziert werden. Sonst wird es zu einer schweren Schädigung europäischer und außenpolitischer Handlungsfähigkeit und damit unserer Interessen kommen. Wir würden Gefahr laufen, in Jahrzehnten langsam gewachsenes Vertrauen in Deutschland schnell wieder zu verspielen. Wie teuer war der Krieg im Kosovo? Um wie viel billiger und sinnvoller aber wäre es gewesen, den Stabilitätspakt schon sehr viel früher zu verwirklichen? Für Investitionen in Frieden und Stabilität - und dies kann nicht nur für Europa gelten! - müssen wir ausreichende Mittel bereitstellen; aktuell stellt sich diese Frage in Montenegro. Auch der Anspruch auf Bürgernähe lässt sich nicht mit weiteren tiefen Einschnitten vereinbaren. Die sprunghaft gestiegenen Mobilität der Menschen, die Häufung von Geisel- und anderen Krisen stellen kaum noch zu bewältigende Anforderungen an unsere Botschaften und Konsulate dar. Es ist niemandem zu vermitteln, wenn ein Antragsteller für ein Visum in Shanghai Monate auf einen Termin warten muss! Nach der Schließung von 20 Botschaften und Generalkonsulaten und dem Rückgang des Personals auf den Stand von 1989 liegt unsere internationale Präsenz und die Zahl unserer Auslandsvertretungen (219) inzwischen zum Teil deutlich unter derjenigen von Partnern wie Großbritannien (220), Italien (250) oder Frankreich (sogar 279). Auch die Kürzungen, denen unser Kulturhaushalt unterworfen ist, sind ausgesprochen schmerzhaft. Denn gerade die Auswärtige Kulturpolitik kann abseits offizieller Positionen mit ihren besonderen Instrumenten des Dialogs und des kulturellen Austauschs gezielt zur Stärkung eines positiven Verständnisses unseres Landes und auch zur Konfliktprävention beitragen. Im Zeitalter der Globalisierung wird die umfassende kulturelle Darstellung durch die Auswärtige Kulturpolitik immer wichtiger werden. Sie prägt ganz entscheidend das Bild Deutschlands in der Welt.

Ich möchte zum Schluss an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter appellieren, sich an der Reformdebatte aktiv zu beteiligen, aber nicht nur sie. Die Inhalte und Strukturen der Außenpolitik betreffen Kerninteressen unseres Landes. Die Diskussion muss deshalb auch mit anderen außenpolitischen Akteuren und öffentlich geführt werden. Wir haben deshalb bewusst Angehörige des Parlaments, der Medien und auch aus Partnerländern eingeladen.