Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Heiko Maas,

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Lieber Jean-Yves Le Drian,
Minister, Staatssekretäre, Exzellenzen,
meine Damen und Herren Botschafter,
liebe Freundinnen und Freunde,

lieber Jean-Yves, Du hättest mir ruhig ein Trikot von Paris Saint-Germain schenken können – denn gestern ist die Niederlage von Paris Saint-Germain im Champions-League-Finale egalisiert worden durch die Frauen von Olympique Lyon. Die haben gegen eine deutsche Mannschaft das Champions-League-Finale der Frauen gewonnen. Insofern sieht man: Selbst beim Fußball schaffen wir es im Rahmen der deutsch-französischen Freundschaft immer wieder ausgeglichene Ergebnisse zu erzielen.

Und zum Zweiten: Sportlich ist doch heute sowieso ein großer Tag in Frankreich. Gestern hat Julian Alaphilippe die zweite Etappe der Tour de France gewonnen. Heute startet ein Franzose zur dritten Etappe der Tour de France – félicitations!

Lieber Jean-Yves, als Du mich vor einigen Wochen gefragt hast, ob ich zu Eurer Botschafterkonferenz komme, habe ich nicht lange gezögert. Und zwar aus einer Reihe von Gründen:

Erstens, schlägt man die Einladung eines Freundes nicht aus. Wenn Du mich rufst, dann komme ich – nach Paris oder in die Bretagne. Umgekehrt ist das genauso; dafür bin ich sehr dankbar. Wir reden immer von der deutsch-französischen Freundschaft. Freundschaft ist ein Begriff, den man nicht inflationär verwenden sollte. Ich tue das nicht. Ich bin sehr dankbar für unsere persönliche Freundschaft – und das ist keine diplomatische Floskel. Das hat etwas zu tun mit Vertrauen und Verlässlichkeit. Und das ist etwas, dem man in der Politik nicht so häufig begegnet. Ich bin sehr froh darüber, dass mir das in Deiner Person so begegnet.

Außerdem hat für mich als jemanden, der an der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen ist, das Deutsch-Französische einen besonderen Wert. Meine Heimat ist das Saarland. Ich bin die ersten Jahrzehnte meines Lebens dort aufgewachsen – an der Grenze, um derentwillen wir uns in den vergangenen Jahrhunderten ständig versucht haben umzubringen. Im Saarland, das nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg im letzten Jahrhundert öfters zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergeschoben wurde. Meine Großmutter lebte von 1902 bis 1987. Sie lebte Zeit ihres Lebens am gleichen Ort, in der gleichen Straße, im gleichen Haus. Aber sie hatte in ihrem Leben fünf verschiedene Pässe. Dass ich hier heute als deutscher Außenminister stehe, ist ein historischer Zufall. Es ist ein historischer Zufall, dass ich Deutscher bin.

Als ich in Saarbrücken begonnen habe zu studieren, hat unser Professor uns einen Besuch der Kriegsgräber in Verdun empfohlen. Er wollte uns deutlich machen, dass Menschen wie ich, die 1966 geboren sind, die Gott sei Dank nie Krieg erlebt haben, bloß nicht glauben sollten, dass Frieden und die deutsch-französische Aussöhnung eine Selbstverständlichkeit sind. Und was die vorherigen Generationen von politisch Verantwortlichen in unseren beiden Ländern – ich denke nur an das historische Bild von François Mitterrand und Helmut Kohl eben in Verdun – hier geleistet haben, hat für mich eine ganz besondere Bedeutung.

Deshalb werde ich nicht müde, auch in meinem Land, auch gegenüber meiner Generation, die nur ein Leben kennt, in dem man alles Wünschenswerte hat – Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie – immer wieder deutlich zu machen: Das alles sind keine Selbstverständlichkeiten. Das alles darf man nicht nur leben und genießen, sondern es gibt auch Zeiten, in denen man dafür einstehen muss.

Und ich finde, in solchen Zeiten leben wir wieder. Deshalb war es für mich einer der schönsten Momente meiner Amtszeit, lieber Jean-Yves, zusammen mit Dir den Vertrag von Aachen unterschreiben zu dürfen – mit der Kanzlerin und dem französischen Präsidenten. Und hier zu sein, heute, ist ebenfalls für mich ein besonderer Moment und eine besondere Ehre. Das auch deshalb, weil ich weiß, dass es normalerweise dem französischen Präsidenten vorbehalten ist, auf der Botschafterkonferenz in Paris zu sprechen. Ich weiß das sehr zu schätzen.

Du hast es in Deiner Rede angesprochen: Wir leben in einer Zeit, die eine Zäsur ist, weil sich die Welt um uns radikal verändert: Die USA blicken immer stärker durch die Linse der Rivalität mit China auf den Rest der Welt. Das ist nicht immer hilfreich. Parallel dazu sinkt nicht erst seit Präsident Donald Trump die Bereitschaft der USA, die Rolle als globale Ordnungsmacht noch weiter zu spielen. Wir wissen weiter, dass China mit Macht in diese geopolitische Lücke drängt – und dabei Fakten schafft und Instrumente nutzt, die nicht unsere sein können. Ich will nur an das Beispiel Hongkong erinnern. Auch Länder wie Russland und eben die Türkei nutzen die vermeintliche Gunst der Stunde, um mit relativ geringem Einsatz maximalen machtpolitischen Gewinn zu erzielen. Die Zeit, in der wir Europäer unbeschwert die Friedensdividende nach dem Fall des Eisernen Vorhangs genießen konnten, ist jedenfalls vorbei. Das ist die Zäsur und das ist die Realität, in der wir leben.

Du, lieber Jean-Yves, hast das klarer gesehen als viele andere – und zwar schon vor der Covid-19-Pandemie, die den Umbruch, in dem wir leben, noch einmal beschleunigt hat. Den niederländischen Botschaftern hast Du im Januar gesagt, dass für Europa "die Zeit gekommen ist, Entscheidungen zu treffen". Die Zeit "zu entscheiden, was wir sein wollen und in welcher Welt wir leben wollen". Ich stimme Dir vollkommen zu. Und wenn wir das nicht tun, dann werden wir in Europa zum Spielball von Dritten. Und soweit dürfen wir es nicht kommen lassen.

Jetzt, acht Monate, nachdem Du das gesagt hast, steht fest, dass die Europäische Union sich entschieden hat. In ihrer größten Krise – mit fast 200.000 Toten und einem historisch einmaligen wirtschaftlichen Absturz – hat die vermeintlich zerstrittene und schon oft abgeschriebene Europäische Union sich und der Welt bewiesen, was Solidarität bedeutet.

Die Beschlüsse, die wir im Juli zur Bewältigung der Krise getroffen haben, sind ein Paradigmenwechsel. Und das ist – mit Blick auf die Entwicklung der Europäischen Union und gerade auf das, worüber wir in den letzten Jahren dort gestritten und lamentiert haben – historisch – und vielleicht auch revolutionär. Und das nicht nur wegen der Größenordnung dessen, was wir beschlossen haben im Wiederaufbauprogramm oder im Mehrjährigen Finanzrahmen.

Historisch, weil wir anknüpfen an den Geist der Gründungsväter und Gründungsmütter Europas – an die von Robert Schuman beschworene "de facto-Solidarität" als das einigende Band Europas.

Und revolutionär – ja, es hat vielleicht etwas Revolutionäres –, weil Europa endlich eine Antwort gegeben hat auf die Forderung, die Jacques Delors schon vor einigen Jahrzehnten erhoben hat. Die Forderung, Europa "eine Seele zu geben(...), es mit einer tieferen Bedeutung zu versehen".

Diese Seele ist nichts anderes als gelebte europäische Solidarität. In dieser Krise spüren die Menschen sie – zum Beispiel durch das europäische Kurzarbeitergeld oder durch die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen überall in Europa. Ich will mir gar nicht vorstellen, was in Europa die Menschen bewegt hätte, wenn wir nicht fähig gewesen wären, uns zu einigen. Ich glaube, das hätte dem europäischen Projekt nicht nur Schaden zugefügt, sondern das hätte es existentiell gefährdet.

Diese gelebte Solidarität vermag Gräben zu schließen zwischen Nord und Süd, Ost und West, die zuvor ein Mangel an Solidarität gerissen hat – sei es in der Finanzkrise oder beim Umgang mit Flüchtlingen. Und damit rückt etwas in greifbare Nähe, was noch vor einigen Monaten völlig utopisch klang: Europa stärker aus der Krise herauszuführen, als es hineingegangen ist.

Dieser europäische Moment ist unser gemeinsamer Erfolg. Denn: Ohne die mutigen deutsch-französischen Vorschläge wäre ein solcher Kraftakt nicht gelungen, davon bin ich fest überzeugt. Und deshalb bin ich heute auch hierhergekommen, um mich zu bedanken für die französische Unterstützung in diesen ersten entscheidenden Wochen unserer Ratspräsidentschaft. Merci beaucoup, merci de votre soutien!

Ich füge aber auch hinzu: Wir dürfen da nicht stehenbleiben! Wir müssen überlegen, wo Europa in fünf, zehn oder 15 Jahren stehen soll. Unsere beiden Ratspräsidentschaften könnten Start- und Endpunkt eines solchen Reflexionsprozesses sein, der über die "Konferenz zur Zukunft Europas" gerade auch die Bürgerinnen und Bürger einbindet.

Eines scheint mir dabei ganz klar: Die neugefundene Solidarität im Innern müssen wir übersetzen in einen ebenso starken Zusammenhalt nach außen. Und damit bin ich beim zweiten großen Thema unserer Ratspräsidentschaft: der europäischen Souveränität. Du, lieber Jean-Yves, hast sie in Deiner Rede an der Prager Karlsuniversität so definiert: Europa in die Lage zu versetzen, "frei seine eigenen Entscheidungen zu treffen und frei seine Werte durchzusetzen". Genau darum geht es. Es geht nicht um den Verzicht auf nationale Souveränität zugunsten eines Brüsseler Superstaats. In einer globalisierten Welt konkurrierender Großmächte ist europäische Handlungsfähigkeit überhaupt erst die Voraussetzung, um die Souveränität der Nationalstaaten zu erhalten.

Deshalb steht diese Idee auch nicht im Widerspruch zum transatlantischen Bündnis. Im Gegenteil – wir wollen ein souveränes Europa, fest eingebettet in die transatlantische Partnerschaft! Aber wir müssen deutlich mehr tun, als wir das aus der Vergangenheit kennen: Nur wenn Europa in der Lage ist, Krisen in seiner Nachbarschaft aus eigener Kraft zu entschärfen, dann bleibt Europa für die USA ein attraktiver Bündnispartner.

Welche Fähigkeiten wir dazu brauchen, darüber haben wir in der letzten Woche in Berlin auf unserem Gymnich-Treffen intensiv diskutiert: Diese Ideen werden in den neuen "Strategischen Kompass" münden, der Europas sicherheitspolitische Ambition absteckt. Die Arbeiten daran beginnen jetzt, um dann unter französischer Präsidentschaft abgeschlossen zu werden.

Parallel dazu stärken wir die Krisenreaktion unserer Partner und Nachbarn – zum Beispiel im Sahel. Wie groß die Herausforderungen hier sind, zeigen die jüngsten Entwicklungen in Mali. Wir brauchen dort weiterhin einen engen deutsch-französischen Schulterschluss als Grundlage für ein starkes europäisches Engagement.

Und auch das zivile Krisenmanagement bauen wir zu einem europäischen Markenzeichen aus. Dazu eröffnen wir in Kürze in Berlin das neue Europäische Kompetenz-Zentrum für ziviles Krisenmanagement.

Das alles ist Ausdruck von Geschlossenheit, die bei uns in der letzten Woche in Berlin zu spüren gewesen ist. Diese Geschlossenheit trägt Früchte: Gegenüber der Führung in Belarus haben wir in den letzten Tagen unterstrichen, dass wir unsere Werte und demokratischen Prinzipien auch außerhalb unserer Außengrenzen hochhalten. Und zwar nicht nur mit warmen Worten, sondern durch gezielte Sanktionen gegen die, die ihr eigenes Volk unterdrücken und Wahlen manipulieren.

Auch gegenüber der Türkei haben wir beim Gymnich-Treffen sehr deutlich gemacht, dass ihre destabilisierende Politik in Libyen und im östlichen Mittelmeer von uns nicht weiter akzeptiert wird. Europäische Souveränität schützt die Souveränität aller Mitgliedstaaten, auch die Griechenlands und Zyperns. Gleichzeitig gilt – und das haben mir auch meine Kollegen in Ankara und in Athen letzte Woche noch einmal gesagt: Nur über einen Dialog können wir Auswege aus der Krise finden. Deshalb unterstützen wir den Dialogprozess von Josep Borrell mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Und im Rahmen unserer Ratspräsidentschaft werden wir bis zum EU-Gipfel am 24. September alles versuchen, um den Konflikt zu deeskalieren. Denn er hat mittlerweile gefährliche Ausmaße angenommen.

Weiter haben wir in Europa nicht tatenlos zugesehen, wie China die Freiheit Hongkongs beschneidet. Das ist in den letzten Wochen wichtig gewesen. Wir haben in der EU auf unserer beider Vorschlag ein Zeichen gesetzt: Durch die Einstellung von Rüstungsexporten bis hin zur Ausweitung von Visa- und Stipendienprogrammen für Oppositionelle. Denn wir wissen, dass nur diese Geschlossenheit der EU in Peking überhaupt Gehör findet. Der chinesische Außenminister ist gerade bei Dir gewesen und morgen wird er bei mir in Berlin sein. Er wird bei mir in Berlin das Gleiche zu hören bekommen, was er von Dir in Paris zu hören bekommen hat.

Auch mit Blick auf Libyen haben wir die unterschiedlichen europäischen Positionen seit der Berliner Konferenz zusammengeführt. Dafür steht der gemeinsame deutsch-französisch-italienische Vorschlag, diejenigen zu sanktionieren, die das Waffenembargo ganz offen verletzen. Mit der gleichen Geschlossenheit unterstützen wir eine Waffenruhe und eine demilitarisierte Zone zwischen den Konfliktparteien. Hier gibt es gerade ein positives Momentum. Wir arbeiten daher daran, dieses im Rahmen des "Berliner Prozesses" mit Blick auf Waffenruhe, Waffenstillstand und ein Ende der Ölblockade zu operationalisieren.

Vieles davon ist mühselig, dauert lange, es gibt Rückschläge. Trotzdem macht mir das alles Mut, dass eine kraftvolle europäische Außenpolitik möglich ist. Doch ist der Weg hin zu europäischer Souveränität noch weit – auch das ist im Übrigen eine Lektion der Corona-Krise. Jean-Yves, Du hast darüber ja gesprochen. Ich denke etwa an die Defizite bei der Krisenvorsorge, oder an die Abhängigkeit bei lebenswichtigen Medikamenten von Ländern wie China, Indien und Pakistan, die wir verringern müssen. Das ist keine Absage an den freien Welthandel. Aber die Balance zwischen internationaler Arbeitsteilung und strategischer Unabhängigkeit, die müssen wir allerdings schon neu austarieren mit Blick auf das, was wir gerade erleben. Wir wollen unsere Präsidentschaft nutzen, um solche strategischen Fragen anzugehen.

Deshalb unterstütze ich auch, was Du hier gesagt hast zum Gesundheitsbereich. Das ist ein elementarer Bereich, in dem die Bürgerinnen und Bürger die Erwartungen an uns haben, zu Lösungen zu kommen, bei denen die Interessen von ihnen und damit auch die Interessen von Europa gewahrt bleiben.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir so etwas wie eine technologische Souveränität in Europa entwickeln. Denn ich glaube, sie ist im digitalen Zeitalter, auch was globale Machtverschiebungen angeht, überlebenswichtig. Dazu zählt die Sicherung unserer Datennetze, aber auch die Entwicklung eigener Speicherkapazitäten und Cloud Computing-Dienste. Dabei haben Deutschland und Frankreich die Möglichkeit, mutig voranzugehen.

Auch beim Aufbau von 5G-Technologie dürfen wir Europäer nicht in Abhängigkeiten geraten, die unsere industrielle Basis, unsere Sicherheit oder den Schutz von Daten europäischer Bürgerinnen und Bürger gefährden. Wir leben in einer digitalen Welt, die immer mehr auf zwei Pole hinausläuft. Der eine Pol ist "Silicon Valley". Das ist das amerikanische Modell, ein – um es etwas deutlicher zu sagen – rein profitmaximierendes Modell. Das zweite Modell, der zweite digitale Pol, bildet sich in China, in Peking. Digitale Möglichkeiten werden dort genutzt zur Repression. Und diese beiden Modelle können nicht Modelle für Europa sein. Wie von Jean-Yves erwähnt brauchen wir zur technologischen Souveränität einen dritten Weg. Wer die Macht hat über Daten, heute und in Zukunft, der hat auch die Macht über Länder. Deshalb ist die digitale Souveränität so wichtig, weil die Digitalisierung die Machtsphären verschiebt. Und wenn es nicht gelingt, uns hier mit einem dritten Weg und einem Mindestmaß an Selbstbestimmung zu positionieren zwischen profitmaximierenden und repressiven Modellen, dann steuern wir auf große Schwierigkeiten zu in den nächsten Jahren.

Ebenfalls mit Blick auf Souveränität brauchen wir so etwas wie wirtschaftliche Souveränität. Der gemeinsame Binnenmarkt ist dabei unser größtes "asset". Und trotzdem bleibt Europa anfällig etwa für US-amerikanische Sanktionen – sei es in der Auseinandersetzung über das iranische Nuklearabkommen oder bei Nord Stream 2.

Wer aber will, dass über europäische Energie-, Außen- und Handelspolitik hier in Europa entschieden wird, der muss auch über die Stärkung des Euro als Leitwährung, über europäische Zahlungskanäle wie das Instrument zur Unterstützung von Handelsaktivitäten (INSTEX) und am Ende vielleicht auch über eine europäische Bank nachdenken, die in Euro notiert. Dass dies in Brüssel, Paris, Berlin und anderswo inzwischen geschieht, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Eines ist mir bei alledem besonders wichtig: Ich bin sehr für mehr Europäische Souveränität. Ich bin dafür auch bereit, unbequemen Debatten in Deutschland nicht aus dem Weg zu gehen. Aber ich will auch festhalten, dass Europäische Souveränität nicht "Europe First" bedeutet. Europäische Souveränität, das ist eine kooperative Souveränität.

So wie die Europäische Union auf der Idee fußt, dass eine Gemeinschaft mehr ist als die Summe ihrer Teile, so führt für uns auch international kein Weg vorbei an mehr internationaler Zusammenarbeit. Denn alle großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Pandemien, Klimawandel, Digitalisierung, Migration – haben eines gemeinsam: Sie kennen keine Grenzen, keine nationalen Grenzen. Und deshalb brauchen wir dafür grenzüberschreitende, eben internationale Lösungen.

Es ist diese Einsicht, die den Multilateralismus zum Grundpfeiler unserer europäischer Außenpolitik macht. Und umgekehrt muss Europa selbst noch stärker zum Grundpfeiler des multilateralen Systems werden.

Der Rückzug der USA aus internationalen Organisationen und Verträgen, aber auch das Verhalten Chinas oder Russlands in multilateralen Organisationen, hinterlässt längst bleibende Schäden.

In der Corona-Krise war es deshalb auch die Europäische Union, die durch Geberkonferenzen und neue Allianzen Milliarden für die Suche nach einem Impfstoff mobilisiert hat. Wir haben die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestützt, als andere ihr den Rücken gekehrt haben. Man muss sich das überlegen: In einer Pandemie die WHO zu verlassen ist so, wie in einem fliegenden Flugzeug den Piloten aus dem Fenster zu werfen. Und es war die von Deutschland und Frankreich ins Leben gerufene Allianz für den Multilateralismus, lieber Jean-Yves, unser gemeinsames Projekt, in der sich mittlerweile über 60 Staaten darauf verständigt haben: Medikamente gegen das Virus und ein künftiger Impfstoff müssen globale, öffentliche Güter sein.

Mir zeigt das nicht nur, wie sehr Europa weltweit gebraucht wird, sondern auch, wie viel ein geeintes Europa in der Welt erreichen kann. Dieses „Europe United“, das braucht ein deutsch-französisches Herz. Das europäische Wiederaufbauprogramm, die Fortschritte in der europäischen Außenpolitik, die Allianz für den Multilateralismus – all das wäre ohne die deutsch-französische Zusammenarbeit, ohne den deutsch-französischen Schulterschluss nicht möglich gewesen.

Zugleich möchte ich mit zwei Missverständnissen aufräumen, denen unsere Zusammenarbeit in einigen Ländern begegnet:

Erstens: Der deutsch-französische Motor funktioniert nicht nur dann, wenn er reibungslos schnurrt. Im Gegenteil! Dieser Motor ist nichts anderes als eine Kompromissmaschine, ständig davon angetrieben, unterschiedliche Positionen – die es gab, die es gibt und die es auch in Zukunft geben wird – auszugleichen. Dass dies Reibung erzeugt, liegt auf der Hand. Aber nur so entstehen die Lösungen, die dann auch für andere in Europa tragbar sind.

Das zweite Missverständnis besteht darin, das Deutsch-Französische absolut zu setzen. Ja, Deutsch-Französische Kompromisse sind unverzichtbare Voraussetzung für Fortschritt in Europa, davon bin ich fest überzeugt. Aber sie allein reichen nicht aus! Auch das haben mir die letzten Wochen deutlich gezeigt. Und deshalb bemühen Jean-Yves und ich uns mehr denn je darum, andere Länder noch stärker einzubinden. Es gibt auf der einen Seite große Erwartungen an uns, aber auf der anderen Seite auch die Furcht davor, abgehängt zu werden.

Deshalb war es gut, dass wir letzte Woche in Berlin über eine gemeinsame europäische Russland-Politik gesprochen haben. Natürlich ist der Blick nach Moskau ein anderer aus Warschau oder Tallinn als aus Lissabon oder Rom. Dem muss man Rechnung tragen. Einerseits brauchen wir konstruktive Beziehungen zu Moskau, denn ohne oder gegen Russland wird Europa nicht sicherer – das ist wohlverstandene europäische Realpolitik. Andererseits sagen wir ganz deutlich: Dunkle Wolken hängen über unseren Beziehungen. Sanktionen bleiben bestehen, solange sich an deren Grundlage nichts ändert. Und natürlich haben wir die Erwartung, dass Russland mehr beiträgt zur Aufklärung des Falls Nawalny als bisher.

Auch der Brexit spielt bei unseren Überlegungen zur europäischen Außenpolitik natürlich eine Rolle. Denn so sehr wir uns eine möglichst enge Zusammenarbeit mit Großbritannien in der Außen- und Sicherheitspolitik wünschen: Ohne eine Rückkopplung dieser Politik mit Brüssel wird die Bedeutung der E3 nicht dieselbe bleiben können.

Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Ländern wie Italien, Spanien oder Polen größere Verantwortung für die Gestaltung europäischer Außenpolitik übernehmen müssen. Und auch Gruppen wie die Visegrad-Staaten, die baltischen Länder, die Mittelmeer-Anrainer oder die Niederlande und die Nordics nehmen ihren Platz ein in dem, was Josep Borrell "Team Europe" nennt.

Und damit bin ich bei Ihnen und Ihrer Aufgabe, sehr geehrte Damen und Herren Botschafter, die Tag für Tag für diesen Teamgeist werben. Ich weiß, dass es viele Tage gibt, an denen das nicht einfach ist. Und trotzdem haben wir in der Vergangenheit bewiesen, dass es diesen Teamgeist geben kann. Deshalb dürfen Sie nicht müde werden, dafür zu werben als Vertreter Frankreichs, als Partner im deutsch-französischen Tandem, wenn französische und deutsche Diplomaten rund um die Welt Informationen teilen oder gemeinsame Berichte abfassen – und als diejenigen, die die Sicht Ihrer Gastländer einbringen und dort Kompromisse ausloten.

Sie sind es, die "Team Europe" zum Leben erwecken. Das Ziel lautet europäische Souveränität. Europäische Solidarität ist die Grundlage.

Merci beaucoup!