Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus,

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Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Curio, dass Sie und die AfD rassistisch sind, das wussten wir zwar schon vorher, aber es ist immer wieder von Neuem widerwärtig, das hier auch im Deutschen Bundestag erleben zu müssen.

Ich möchte heute auch die Zuhörer begrüßen, vor allem Jugendliche, Eltern, Erzieherinnen, Pädagogen, die Akteure der Sozial-, der Kinder- und Jugendarbeit. Denn wenn wir heute hier auf Antrag der Union über die situativen Gewaltexzesse in der Silvesternacht sprechen, dann steht über allem: Diese Angriffe auf die Sicherheitskräfte und auf Angehörige von Rettungsdiensten sind unerträglich! Ihnen gilt vielmehr unser Dank, wenn sie an Silvester herausfordernde Einsätze fahren, statt selbst mit ihren Familien das neue Jahr begehen zu können.

Ob in Berlin, ob in Borna/Sachsen oder in Essen/Nordrhein-Westfalen oder in anderen Städten, in denen die Lage in der Silvesternacht eskalierte: Ich verurteile diese Gewalt, und die Täter müssen schnell bestraft werden.

Aber ebenso wichtig ist es, dass unsere Debatte versachlicht wird. Das Bundesinnenministerium hat ein bundesweites Lagebild angekündigt. Warten wir also die Ergebnisse ab und bewerten dann die Tatsachen; ich möchte dem jedenfalls nicht vorgreifen.

Aber eines steht heute auch ohne das fertige Lagebild bereits fest: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik konnten wir in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang der Gewalt im Jugendalter verzeichnen. Das ist für mich als Jugendministerin und für Deutschland insgesamt eine wichtige Botschaft, die in dieser Debatte berücksichtigt gehört. Auch das Deutsche Jugendinstitut, das zu meinem Haus gehört, hat keine Belege dafür, dass junge Menschen insgesamt immer delinquenter und vor allem gewalttätiger werden.

Wie also kommt es zu solch situativen Gewaltausbrüchen, beispielsweise in der Ultra-Fanszene, in der Vergangenheit bei Randalen rund um den 1. Mai, in der Querdenkerszene, in Stuttgart oder auch in der Schinkenstraße in Palma auf Mallorca? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es ist einfach so: Die Antwort fällt weitaus komplexer aus, als Sie es uns hier mit dem Titel der Aktuellen Stunde glauben machen wollen.

Schon daran zeigt sich die ganze Hilflosigkeit der Debatte, die Sie uns seit zwei Wochen aufzwingen wollen. Sie wollen sie am Köcheln halten, weil Sie, wie wir alle miteinander wissen, vor allen Dingen auf die anstehenden Landtagswahlen in Berlin und später in Hessen und Bayern schielen.

Wenn es um die Ursachen von Jugendgewalt geht, dann liefert uns die Wissenschaft schon heute erste Antworten: Gewalt im öffentlichen Raum geht vor allem – ja – von jungen Männern aus, und sie findet oft in städtischen Gelegenheitsstrukturen statt, und meist sind es Jugendliche in schwierigen Lebenslagen mit individuellen Risikofaktoren. Diese jungen Männer wollen den öffentlichen Raum besetzen, und – ja – das gibt dann auch ein Stärkegefühl.

Befeuert wird dieses Gefühl oft durch Gruppendynamiken. Logisch: Junge Männer, alkoholisiert, mit Pyrotechnik im Anschlag, da kann man schon entsprechende Adrenalinschübe bekommen. Subjektive Machtfantasien spielen eine Rolle: auf die Spitze getrieben in der Pose, staatliche Organe herauszufordern, sich untereinander zu solidarisieren und die Lage eskalieren zu lassen und damit Aufmerksamkeit einfordern zu können.

Aus einer vorläufigen Analyse für mein Haus betont aber das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, das DeZIM, dass die Silvesterkrawalle eben gerade kein Migrationsthema sind. Es nennt die Migrationsperspektive sogar irreführend. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Thema ist komplex. Sie von der Union versuchen, sozialpsychologische Prozesse und auch soziale Fragen zu ethnisieren. Das ist dumpf, das ist rassistisch, und damit werden Sie nur Applaus bei den Falschen ernten.

Sie, Herr Merz, verspielen damit auch das Erbe der ehemaligen Bundeskanzlerin und ja auch Bundesjugendministerin Angela Merkel und rücken die Union damit einfach nur weiter nach rechts. Aber eigentlich soll es ja darum gehen, wie wir zu Lösungen kommen. Also: Was können wir, die Politik, der Staat, wirklich tun?

Erstens aus Erfahrung lernen, kurzfristig einen guten Maßnahmenmix ergreifen und Bewährtes ausbauen. Die Polizei hat ja bereits wirksame Deeskalationsstrategien entwickelt, zum Beispiel durch die jahrelange Erfahrung rund um den 1. Mai in Berlin. Dazu gehört, gezielt und der Lage angepasst zu entlasten. Für Silvester zum Beispiel würden feuerwerksfreie Zonen und lokale öffentliche Feuerwerke – ja – die Lage deutlich übersichtlicher machen. Damit entlasten wir auch die Sicherheits- und Rettungskräfte; deswegen fordern sie das ja auch. Natürlich bringt das auch mehr Sicherheit für ältere Menschen, für Tiere und für die Umwelt.

Zweitens geht es längerfristig um Gewaltprävention. Dieser Ansatz hat sich längst als wirksam erwiesen, auch wenn wir die Strukturen nicht immer mit der nötigen Nachhaltigkeit unterstützen.

Auch hier haben wir bereits bewährte Programme – und sie setzen früh an. Ein gutes Beispiel sind die „Respekt Coaches“, ein Programm aus meinem Haus. Sie sprechen in Schulen mit den jungen Menschen über Gewalt und über Demokratie. Diese „Respekt Coaches“ haben bisher eine Viertelmillion Schüler erreicht. Sie werden gut angenommen. Solche Erfolgsstorys wollen wir weiterschreiben, und wir brauchen mehr davon.

Ähnliches gilt für das Demokratiefördergesetz, das wir von der Ampel noch im ersten halben Jahr dieses Jahres verabschieden möchten. Genau dieses Gesetz haben Sie von der Union über viele Jahre verhindert. Wir werden es jetzt umsetzen.

Drittens geht es um die stärkere Teilhabe von Jugendlichen. Sie verdienen Perspektiven, sie verdienen Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben. Ich denke da an eine bessere Zusammenarbeit von Schulen, Kinder- und Jugendhilfe, von Vereinen und Quartiersmanagement. Und ja, dazu gehören Investitionen in die soziale Infrastruktur für junge Menschen. Genau dafür sorgt die Bundesregierung mit dem Programm „Soziale Stadt – Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“, das meine Kollegin Klara Geywitz verantwortet. Die junge Generation, sie braucht Räume, sie braucht Orte – mehr Räume, die sie gemeinsam gestalten kann, wo sie leben und sich orientieren kann und wo sie lernt, Konflikte im geschützten Raum zu lösen, statt sie im öffentlichen Raum auszutragen.

Sozialarbeit und Gewaltprävention haben sich bewährt, und gute Sozialarbeit wirkt. Sie macht Menschen stark, die sich sozial benachteiligt und ausgegrenzt fühlen, erst recht, wenn sie selbst Gewalt erfahren haben. Denn es sind die Sozialarbeiter, die sie in ihrem Frust stoppen, in ihrer Ungeduld oder auch mal in ihrer Einfallslosigkeit oder in ihrer Verführbarkeit.

Es geht darum, auch den jungen Männern in benachteiligten Quartieren und Stadtteilen Perspektiven und Aufstiegschancen zu bieten und zu zeigen, was sie erreichen können, wenn sie es wollen. Das müssen und das werden wir jedenfalls weiter unterstützen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, das Jugend- und Familienministerium nimmt sich der jungen Menschen an, die sich abgehängt fühlen – sehr grundsätzlich und sehr konkret auch nach der Coronazeit. Denn allzu viele Kinder und Jugendliche leiden bis heute darunter, mit den Lockdowns den Anschluss verpasst zu haben und seither nicht gehört zu werden und sich nicht entfalten zu können.

Ihnen geben wir mit dem Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit, finanziert mit 50 Millionen Euro, die Chance, eigene Ideen umzusetzen und Projektmittel zu beantragen. Ich lade Kommunen und Träger ein, mitzumachen und junge Menschen zu unterstützen.

Noch dazu haben wir als Gesellschaftsministerium das Bündnis für die junge Generation ins Leben gerufen. Gemeinsam mit Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geben wir Kindern und Jugendlichen eine Stimme. Wir schenken ihnen Gehör, wir beziehen sie mit ein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen Klartext reden über die Ereignisse in der Silvesternacht, über Ursachen und über Maßnahmen. Vorschnelle Bewertungen, Vorverurteilung gar spalten aber unsere Gesellschaft. Der deutsche Rechtsstaat ist deshalb stark, weil er individuelle Schuld aufarbeitet und ausgleicht. Er ist stark, weil er nicht pauschal vorverurteilt nach Aussehen oder danach, wie jemand mit Vornamen heißt. Der Rechtsstaat schlussfolgert nicht einfach so drauf los. Wir alle sind Abgeordnete und Vertreter aller Menschen in Deutschland, und wir sollten uns dieser gemeinsamen Verantwortung für die Jugend in diesem Land bewusst sein.

Herzlichen Dank.