Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock,

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Nobelpreisträger Rabindranath Tagore hat einmal gesagt: „Man kann das Meer nicht überqueren, indem man einfach nur dasteht und auf das Wasser starrt.“

Wir sind uns sicher alle einig, dass wir im Moment ziemlich schwierige Zeiten mit vielen Wellen und rauer See erleben. Und aus eben diesem Grund müssen wir entscheiden, ob wir am Wasser stehen bleiben und auf die Wellen starren wollen – oder ob wir gemeinsam, als natürliche Partner, mutig handeln wollen, ob wir unsere Segel so setzen wollen, dass wir diese stürmische See durchqueren können.

In dieser lebendigen Region hier ist Indien als größte Demokratie der Welt und als aufstrebende politische und wirtschaftliche Macht in Asien für uns der natürliche Partner, um gemeinsam durch diese raue See zu segeln. Denn wenn man bei rauer See hinausfährt, muss man seinen Partnern vertrauen können. Schließlich weiß man nicht, wie die Welt am nächsten Morgen aussieht oder wie hoch die Wellen schlagen werden. Daher ist für mich in diesen schwierigen Zeiten die Frage des Vertrauens einer der wichtigsten Aspekte der internationalen Beziehungen. Wenn man jemandem vertraut, muss man nicht in allem einer Meinung sein. Aber wenn es um unsere wichtigsten Werte, wichtigsten Überzeugungen geht, dann ist es wichtig, auch die gleiche Denkweise zu teilen.

Was für uns in dieser Region, hier in Indien und auch in der Europäischen Union, wirklich entscheidend ist, ist unsere grundlegende Überzeugung, dass wir für unsere Bürgerinnen und Bürger, für Männer, Frauen und Kinder, etwas erreichen müssen, ohne jede Diskriminierung. Dass sie frei sind, sicher und in Wohlstand zu leben, mit Blick auf ihre menschliche Sicherheit. Ich bin überzeugt, dass wir die Sicherheit in unseren beiden Regionen verstärken können, wenn wir als offene Gesellschaften gemeinsame Antworten finden.

Gestern sagte mein lieber Freund und Kollege Dr. Jaishankar, dass unsere Beziehungen tief und umfassend sind, wir sie aber noch ausbauen können. Davon bin ich überzeugt. Wir können sie ausbauen, wenn wir offen und ehrlich über die vor uns liegende See sprechen, auch über unsere Differenzen, und wenn wir offen und ehrlich über unsere eigene Selbstreflexion sprechen.

Über drei Punkte müssen wir aus meiner Sicht auf jeden Fall sprechen: Die Sicherheitsagenda meines Landes ist während der letzten Monate von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bestimmt worden. Er hat die gesamte Welt erschüttert. Ich höre die Sorgen von Menschen, die sagen, dass wir den Konflikten in der restlichen Welt nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt haben.

Und das stimmt vermutlich auch. Aber wir können uns entscheiden, über die Vergangenheit zu reden, oder wir können uns entscheiden, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass es darum in der Politik geht: aus der Vergangenheit zu lernen, aber die Zukunft zu gestalten. Wir müssen uns anschauen, was mit diesem Krieg auf dem Spiel steht. Hier geht es nicht nur um eine europäische Frage. Hier geht es nicht nur um die europäische Friedensordnung. Hier geht es um eine Frage für die gesamte Staatengemeinschaft. Die Frage ist, ob wir akzeptieren, dass ein Land seinen kleineren oder weniger bewaffneten Nachbarn in einem eklatanten Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen (VN) schikaniert oder überfällt. Ob wir es akzeptieren oder ob wir nein dazu sagen – wir stehen nicht nur hinter dem ukrainischen Volk, sondern hinter der VN-Charta. Und als Welt haben wir uns entschieden, auf der Seite der Gerechtigkeit, auf der Seite der Opfer zu stehen.

Ich bin wirklich sehr dankbar, dass wir mit Partnern auf der ganzen Welt für unsere VN-Charta eintreten. In vielen Diskussionen, die wir als Außenministerinnen und Außenminister, aber auch im Norden oder Süden, Osten oder Westen geführt haben, haben wir festgestellt, dass diese Art der Bedrohung tatsächlich überall existiert, denn es gibt nur einige wenige Länder auf der Welt, die so massiv bewaffnet sind und Signale aussenden, dass sie ihren Nachbarn überfallen könnten.

Auch in Ihrer Region, im Indopazifik, kann man nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass es eine Situation gibt, in der ein größerer und stärkerer Nachbar über das Recht des Stärkeren und nicht über den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit, des Völkerrechts, spricht. In Bezug auf das Südchinesische Meer, aber auch in Bezug auf die Frage, wie militärische Infrastruktur zum Beispiel entlang der Grenze mit Indien, aufgebaut wird.

Sie wissen und wir alle wissen, dass diese Frage der Sicherheit, diese Frage des Völkerrechts keine abstrakte Debatte ist. Es ist die Realität, in der wir leben. Wir haben uns das nicht ausgesucht. Ich bin 40 Jahre alt und habe mein gesamtes Leben in Friedenszeiten, die meiste Zeit im wiedervereinten Deutschland verbracht. Keiner von uns, niemand in Europa, wollte in einer Zeit leben, in der Krieg wieder auf der Tagesordnung steht. Aber dies ist unsere Zeit. Wir können sie nicht hinwegwünschen. Wir müssen die Herausforderungen meistern, vor denen wir in der Welt von heute stehen. Als Partner teilen wir nicht nur den Wunsch nach Stabilität in unserer Region, sondern auch den Wunsch, dass unsere Kinder in einer friedlicheren Welt leben können. Daher war es uns so wichtig, gemeinsam mit Ihnen und im Rahmen der G20 zu diskutieren, wie wir uns für die internationale Ordnung stark machen können.

Nicht nur in Europa, sondern weltweit. „Unsere Zeit darf nicht eine des Krieges sein.“ Darauf haben sich die Staats- und Regierungschefinnen und Regierungschefs der G20 Ende des Jahres auf Bali schließlich geeinigt und es laut und deutlich verkündet. Und dieser Satz kam nicht von europäischen Partnern. Premierminister Modi hatte ihn zu Präsident Putin gesagt. Unsere Zeit darf nicht eine Zeit des Krieges sein, da dies nicht das Leben ist, das wir leben wollen, und dies nicht die Zukunft ist, die wir mitgestalten wollen. Dass dies schließlich in die Erklärung von Bali aufgenommen wurde, ist ein beachtlicher diplomatischer Erfolg, den ich begrüße.

Mein zweiter Punkt betrifft die Selbstreflexion. Zu Beginn des Krieges gab es viele unterschiedliche Sichtweisen zu ihm. Das ist nur natürlich, wenn man – wie wir – ein direkter Nachbar ist, oder aber Tausende Kilometer entfernt lebt und denkt: Ja, wir haben auch ein paar Kriege in unserer Region erlebt. In diesen entscheidenden Zeiten, in dieser schweren See ist es wichtig, hinreichend selbstreflektiert zu sein, um zu verstehen, dass unsere Partner und Freunde, wenn wir sie um Unterstützung bitten, auch das Gefühl haben müssen, dass sie uns in der Zukunft vertrauen können.

Um dies zu verstehen und gemeinsam Vertrauen ineinander aufzubauen, hat Selbstreflexion für mich eine hohe Priorität. Wir haben erlebt, dass der hohe Grad unserer Abhängigkeit von Russland es uns am Anfang sehr schwer gemacht hat, die politischen Maßnahmen zu ergreifen, die wir gern ergriffen hätten. Daher bedeutet Selbstreflexion für uns: Was tun wir, um eine derartige Situation in Zukunft zu verhindern? Ich denke, dies war auch die interessanteste Diskussion, die wir als Außenministerinnen und Außenminister bei unseren G20-, G7- und VN-Treffen geführt haben – in Selbstreflexion.

Welche Maßnahmen sind also erforderlich, um sicherzustellen, dass wir künftig nicht noch einmal in eine solche Situation geraten? Natürlich ist die Frage von Lieferketten, Abhängigkeiten und wirtschaftlichen Bindungen in einer vernetzten Welt von entscheidender Bedeutung. Ihre Region ist die Heimat der Hälfte der Weltbevölkerung; hier werden 60 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet. Als wir gestern durch die Straßen von Delhi gingen, sahen und spürten wir den Geist der Innovation und Dynamik, der die Frauen und Männer in dieser lebendigen Region antreibt. Ich glaube, dass unsere Regionen am besten durch wirtschaftliche Bindungen auf der Grundlage von Regeln und fairem Wettbewerb vorankommen können, ohne Abhängigkeiten, die andere Länder in die Lage versetzen könnten, uns am Ende zu erpressen.

Mein dritter Punkt betrifft die Klimakrise. Sie ist die weltweit die größte Herausforderung dieses Jahrhunderts, und keine Armee der Welt kann uns davor schützen. Wir können sie nur gemeinsam bekämpfen. Auch wenn wir nicht in allen Punkten auf der Klimakonferenz in Scharm el-Scheich erfolgreich waren, war es doch gut, dass wir ein neues Kapitel für Klimagerechtigkeit aufgeschlagen haben und dabei zeigen konnten, dass wir durch die Bekämpfung der Klimakrise gemeinsam stärker werden und auf Gerechtigkeit hinarbeiten können. Denn es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass jene Länder, jene Regionen, jene Menschen, die am meisten unter der Klimakrise leiden, diejenigen sind, die am wenigsten Schuld an CO2-Emissionen tragen.

Indien hat den Klimaschutz weit oben auf die Agenda seiner G20-Präsidentschaft gesetzt. „Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft“ – ich denke, das ist ein großartiges Motto für Ihre Präsidentschaft. Es spiegelt die Tatsache wider, dass wir unserer Zukunft nur gemeinsam begegnen können, nur wenn wir geeint als Familie in der Einsicht zusammenstehen, dass wir uns diese eine Erde teilen. Und es ist richtig, dies auf Ebene der G20 anzugehen, da die G20 nicht nur für 80 Prozent der Kohlendioxidemissionen weltweit verantwortlich ist, sondern auch für einen Großteil der Verluste und Schäden, die diese Krise in der Vergangenheit verursacht hat und in Zukunft verursachen wird. An Klimagerechtigkeit zu arbeiten, kann uns in diesem sehr schwierigen Jahr Hoffnung geben. Und Sie können auf jeden Fall auf unsere Unterstützung während Ihrer G20-Präsidentschaft zählen.

Es geht hier um die Zukunft unserer Menschen. Es geht um unser aller Sicherheit. Wir wollen nicht nur dastehen und auf das Wasser starren; wir wollen feste Brücken bauen und aufbrechen, um sie zu überqueren. Ich danke Ihnen herzlich dafür, dass wir während der letzten zehn Monate dieses sehr schwierigen Jahres zusammengestanden haben.