Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock,

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Ich war letzte Woche im Baltikum und habe dort viel gelernt. Nicht nur über die akute Bedrohung, die von Russland ausgeht, und wie die Menschen sich direkt an der europäischen Außengrenze in russischer Nachbarschaft fühlen, sondern ich habe einen sehr eindringlichen Satz mitgenommen: „We keep talking when it’s hard to talk.“

Diesen Satz hat mir eine von drei Frauen gesagt, mit denen ich mich getroffen habe, Vertreterinnen der Zivilgesellschaft in Riga. Die eine organisiert dort ein Demokratiefestival, die andere ist in der Lokalpolitik aktiv und die dritte bereitet Informationen auf für russischsprachige Minderheiten in ihrem Land. Sie haben mir beschrieben, wie schwierig es ist, in Lettland – mit einer Gesellschaft, wo rund ein Drittel der Menschen russischsprachig oder russischer Herkunft ist – in so einem Moment der Bedrohung, der Angst, der Schuld, des Schams nicht in Sprachlosigkeit zu verfallen, sondern darüber zu sprechen, was diese Ängste und Sorgen sind – weil sich ansonsten jeder in seine eigenen Rückzugsorte zurückzieht – und eben ein Gespräch zu ermöglichen. „To talk when it's hard to talk“ – dafür Räume zu schaffen, ist die Arbeit vor Ort.

Und die Frauen haben unterstrichen, warum das aus ihrer Sicht so wichtig ist: Weil es eben nicht um die „ethnic Identity“ der russischsprachigen Lettinnen und Letten geht, sondern um ihre „civil Identity“. Die eine Frau hat das beschrieben, indem sie meinte, sie selber stamme aus Russland. Sie hat Großeltern dort, mit denen sie zum Teil nicht mehr reden kann, weil sie negieren, dass es einen russischen Angriffskrieg gibt. Ihr Mann wiederum, der eigentlich auch nach „ethnic Identity“ als russisch gezählt wird, weil er selber russischsprachig aufgewachsen ist, hat über Generationen, über Jahrhunderte hinweg gar keinen Bezug zu Russland. Sich das zu vergegenwärtigen, was eigentlich Identität im 21. Jahrhundert bedeutet, nämlich vor allen Dingen zivilgesellschaftliches Engagement, Eingebundensein in die Gesellschaft, das haben diese drei Frauen so deutlich gemacht.

Und das ist auch mein Anspruch für eine Außenpolitik des 21. Jahrhunderts. Nämlich die Frage, wie wir Demokratien und Demokraten in einer vernetzten Welt stärken. Das bedeutet, Außenpolitik nicht nur zwischen Hauptstädten, zwischen Regierungschefs und Außenministern zu machen, sondern eine moderne Außenpolitik muss sich mit der Zivilgesellschaft – mit Bürgerbewegungen, mit Wissenschaftlern, Gewerkschaften und Schülern – vernetzen, zuhören, im Gespräch sein, wenn sie erfolgreich sein will. Das ist unser Anspruch für das Auswärtige Amt und für die deutsche G7-Präsidentschaft in diesem Jahr. Und daher freue ich mich sehr, dass wir heute bei dieser gemeinsamen Veranstaltung, an der Sie alle teilnehmen, auf dieser Gesprächsebene zusammenkommen. Wir wollen Sie als Experten hören und damit auch den Strang der Außenministerinnen und Außenminister der G7-Präsidentschaft prägen.

Als Wissenschaftler und Forscher, die sich mit der Klimakrise oder mit der Pandemie beschäftigen. Als Aktivisten, die Menschenrechtler und Demokratieverteidiger zusammenbringen und weltweit anderen beistehen. Als Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die in humanitären Krisen jeden Tag Leben retten – in diesen Funktionen sind Sie heute alle gemeinsam hier. Und meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Auswärtigen Amt haben heute vor allen Dingen ein Ziel: Ihnen zuzuhören und Ihre Anregungen und Erfahrungen aufzunehmen.

Sie alle wissen: Das Treffen der Außenministerinnen und Außenminister der G7 in zwei Wochen findet in einem Moment größter geopolitischer Spannungen statt. Das heißt: Unsere Definition von einer modernen Außenpolitik, von einer Sicherheitsstrategie für das 21. Jahrhundert, ist vor diesem Hintergrund ganz neu zu betrachten. Noch nie seit Ende des Kalten Krieges waren Demokratien, waren wir G7-Wertepartner so herausgefordert wie heute in Europa und in der gesamten Welt. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Angriff gegen das, wofür unsere offenen Gesellschaften stehen: die Menschenrechte, die Freiheit und die regelbasierte internationale Ordnung. Auf Russlands Aggression haben wir entschlossen reagiert, mit präzedenzlosen Sanktionen gegen Moskau und massiver Unterstützung für die Ukraine.

Gleichzeitig, und das ist mir wichtig, müssen wir als starke Wirtschaftsnation weiter zeigen, dass wir Antworten liefern auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit. Denn die verschwinden ja nicht bloß, weil wir jetzt diesen furchtbaren Angriffskrieg von russischer Seite haben, sondern die drängendsten aktuellen Fragen wie die Ernährungskrise verschärfen sich im Lichte Russlands Angriffskriegs gegen die Ukraine. Und die Ernährungskrise trifft gerade im globalen Süden auf die Klimakrise. Als ich kürzlich im Sahel vor Ort war, ist mir noch einmal so eindringlich bewusst geworden, was das bedeutet: keine abstrakten Zahlen von Erderwärmung oder von Minderung, sondern was konkret passiert, wenn die Klimakrise auf die Ernährungskrise trifft. Und wenn bei der nächsten Ernte das passiert, was letztes Jahr bereits passiert ist. Wenn im Sahel nämlich die Ernte wieder komplett ausfällt, dann droht eine unglaubliche Hungersnot. Als wir dort vor Ort waren, hat das Welternährungsprogramm uns eine Palette von Lebensmitteln gezeigt, die normalerweise für eine vierköpfige Familie reicht – wobei die Familien vor Ort eigentlich nicht vierköpfige sind. Jetzt wurde diese Lebensmittelration halbiert – und wir stehen noch vor dieser zu erwartenden Hungerskrise.

Das heißt: Für uns ist jetzt zentral, zentraler denn je, dass wir gemeinsam als Industriestaaten gegensteuern und den betroffenen Ländern beistehen. Das wird ein zentrales Thema unserer G7-Präsidentschaft und der Beratungen der G7-Außenministerinnen und Außenminister sein. Das Gute in dieser so wahnsinnig komplexen und schwierigen Zeit ist, dass wir immer wieder in den letzten Jahren gespürt haben: Wenn wir als globale Akteure, als Wertegemeinschaft, als Staaten Verantwortung übernehmen, uns zusammentun, dann können wir etwas erreichen. Auch wenn es bei der Pandemie am Anfang nicht nur geholpert hat – und einige von Ihnen haben immer wieder die Staats- und Regierungschefs darauf hingewiesen, dass wir als Industriestaaten eine größere Verantwortung haben, schnell zu handeln –, so hat sich doch in den letzten Monaten gezeigt, dass wenn sich die Staaten zusammentun, wir wirklich was leisten können. Covax zum Beispiel hat jetzt so viele Spenden an Impfstoffen, dass sie derzeit leider gar nicht alle verimpft werden können. Jetzt ist die Herausforderung, auf der „letzten Meile“ Impfungen wirklich auf den Weg zu bringen.

Und diese gemeinsame Kraftanstrengung zeigt: Wir können es, wenn wir wollen, und das muss eine wertegeleitete Außenpolitik jetzt leisten – bei der Ernährungssicherheit, bei der Klimakrise und bei der globalen Zusammenarbeit für Entwicklungsperspektiven. Denn ansonsten, und das erleben wir auch in diesem Sturm der Krisen, füllen diese Lücken andere. Wir haben das bereits in der Pandemie gesehen. Wir haben das auch zuvor über Jahre in Europa gesehen. China geht zentral in die Länder rein, wo wir als Demokratien, als Wertepartner nicht aktiv sind. Das heißt: Es geht jetzt bei einer vorausschauenden Krisenpolitik, bei Prävention auch um die Sicherheitspolitik der nächsten Jahre.

Diejenigen, die die aktuelle Ernährungskrise ausnutzen wollen, um neue Abhängigkeiten zu schaffen, bringen keine Sicherheit, sondern diejenigen, die internationale Verantwortung und Solidarität als das verstehen, was es ist: nämlich nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch ein Beweis für unsere Handlungsfähigkeit als offene, freie Gesellschaften. Die müssen sich jetzt zusammentun.

Das ist für mich Leitlinie und Maßstab für unsere G7-Präsidentschaft. Und das ist das, was mir gerade die Frauen in Riga mit auf den Weg gegeben haben. Demokratie ist mehr als nur ein politisches System oder ein theoretisches Konzept. Es ist eine Art zu leben, in Freiheit und Vielfalt. Und die müssen wir jeden Tag verteidigen – sei es gegen russische Propaganda im Baltikum oder an anderen Orten Europas, sei es mit Lebensmitteln, Unterstützung im Sahel und an anderen Orten dieser Welt.

Ich bin überzeugt: Freiheit und Vielfalt geben unseren Demokratien, geben unseren wertegeleiteten Gesellschaften eine Kreativität und Dynamik, die autoritäre Staaten nicht haben. Das ist unser Vorteil. Und diese Dynamik geht nicht zuletzt von Ihnen aus, den Vertreterinnen und Vertretern einer freien Zivilgesellschaft. Daher ist das für uns heute wirklich ein wichtiger Auftakt für unsere G7-Präsidentschaft. Ich danke Ihnen allen für Ihre Teilnahme, für Ihre guten Ideen, Vorschläge und natürlich auch Kritik. Ich freue mich auf die Diskussionen, die dann von meinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort mit Ihnen geführt werden – und wünsche uns allen alles Gute!