nato-gipfelkonferenz in london - tagung der staats- und regierungschefs des nordatlantikrats am 5. und 6. juli 1990

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londoner erklaerung

die nordatlantische allianz im wandel

die an der sitzung des nordatlantikrats teilnehmenden staats-
und regierungschefs gaben am 6. juli 1990 folgende
"londoner erklaerung: die nordatlantische allianz im wandel" ab:
1.
europa ist in eine neue, verheissungsvollere aera eingetreten. mittel-
und osteuropa gewinnt seine freiheit. die sowjetunion hat den
langen weg zu einer freien gesellschaft eingeschlagen. die
mauern, die zuvor menschen und ideen trennten, fallen. die europaeer
bestimmen ihr eigenes schicksal. sie waehlen freiheit. sie waehlen
wirtschaftliche freiheit. sie waehlen frieden. sie waehlen das eine
und freie europa. das buendnis muss und wird sich dieser
entwicklung anpassen.
2.
das nordatlantische buendnis ist das erfolgreichste
verteidigungsbuendnis der geschichte.
beim eintritt in sein fuenftes jahrzehnt richtet unser buendnis den
blick in ein neues jahrhundert. es muss auch kuenftig die
gemeinsame verteidigung gewaehrleisten. dieses buendnis hat viel zur
schaffung des neuen europa geleistet. niemand kann jedoch die
zukunft mit gewissheit voraussagen, wir muessen solidarisch bleiben,
um den langen frieden, dessen wir uns in den vergangenen vier
jahrzehnten erfreuten, auch kuenftig zu bewahren.
unser buendnis muss noch staerker eine treibende kraft des wandels
sein. es kann am bau der strukturen eines einigeren kontinents
mitwirken und sicherheit und stabilitaet durch die kraft unserer
gemeinsamen ueberzeugung von den werten der demokratie, der
rechte des einzelnen und der friedlichen beilegung von
streitigkeiten festigen.
wir bekraeftigen, dass sicherheit und stabilitaet nicht allein in der
militaerischen dimension liegen, wir beabsichtigen, die politische
komponente unserer allianz, wie sie in artikel 2 unseres vertrages
niedergelegt ist, zu staerken.
3.
mit der vereinigung deutschlands wird auch die teilung europas
ueberwunden. das geeinte deutschland im atlantischen buendnis
freiheitlicher demokratien und als teil der wachsenden politischen
und wirtschaftlichen integration der europaeischen gemeinschaft
wird ein unentbehrlicher stabilitaetsfaktor sein, den europa in seiner

mitte braucht. die entwicklung der europaeischen gemeinschaft zu
einer politischen union, einschliesslich des entstehens einer
europaeischen identitaet im bereich der sicherheit, wird auch zur
atlantischen solidaritaet und zur schaffung einer gerechten und
dauerhaften friedensordnung in ganz europa beitragen.
4.
wir wissen, dass in dem neuen europa die sicherheit eines jeden
staates untrennbar mit der sicherheit seiner nachbarn verbunden
ist. die nato muss zu einem forum werden, in dem europaeer,
kanadier und amerikaner zusammenarbeiten, nicht nur zur
gemeinsamen verteidigung, sondern auch beim aufbau einer neuen
partnerschaft mit allen laendern europas. die atlantische gemeinschaft
wendet sich den laendern mittel- und osteuropas zu, die im kalten
krieg unsere gegner waren, und reicht ihnen die hand zur
freundschaft.
5.
wir bleiben ein defensives buendnis und werden das gesamte
gebiet aller unserer mitglieder auch kuenftig schuetzen. wir haben
keinerlei aggressive absichten und verpflichten uns zur friedlichen
loesung aller streitigkeiten. wir werden niemals und unter keinen
umstaenden als erste gewalt anwenden.
6.
die mitgliedstaaten des nordatlantischen buendnisses schlagen
daher den mitgliedstaaten der warschauer vertragsorganisation
eine gemeinsame erklaerung vor, in der wir feierlich bekunden, dass
wir uns nicht laenger als gegner betrachten, und in der wir unsere
absicht bekraeftigen, uns der androhung oder anwendung von
gewalt zu enthalten, die gegen die territoriale integritaet oder
politische unabhaengigkeit irgendeines staates gerichtet oder auf
irgendeine andere weise mit den zielen und prinzipien der charta der
vereinten nationen und mit der ksze-schlussakte unvereinbar ist.
wir fordern alle anderen ksze-mitgliedstaaten auf, sich uns in
dieser verpflichtung zum nichtangriff anzuschliessen.
7.
in diesem geiste und als ausdruck der sich wandelnden politischen
rolle des buendnisses laden wir heute praesident gorbatschow
als vertreter der sowjetunion sowie vertreter der anderen mittel-
und osteuropaeischen laender nach bruessel ein, um vor dem
nordatlantikrat zu sprechen. ebenso laden wir heute die regierung
der union der sozialistischen sowjetrepubliken, der tschechischen
und slowakischen foederativen republik, der ungarischen
republik, der republik polen, der volksrepublik bulgarien und
rumaeniens zur nato ein, nicht nur zu besuch, sondern um staendige
diplomatische verbindung mit der nato aufzunehmen. dies wird
es uns ermoeglichen, dass wir mit ihnen unser denken und unsere
vorstellungen in dieser historischen zeit des wandels teilen.
8.
unser buendnis wird dazu beitragen, die hinterlassenschaft von
jahrzehnten des misstrauens zu ueberwinden. wir sind bereit,
militaerische kontakte, auch die der nato-befehlshaber, mit moskau und
anderen mittel- und osteuropaeischen hauptstaedten zu intensivieren.
9.
wir begruessen die einladung an den generalsekretaer der nato,
manfred woerner, nach moskau zu reisen und mit der sowjetischen
fuehrung zusammenzutreffen.
10.
hochrangige militaerische vertreter aus ganz europa haben sich
anfang dieses jahres in wien getroffen und ueber ihre streitkraefte
und doktrinen gesprochen. die nato schlaegt ein weiteres
derartiges treffen im herbst dieses jahres vor, um gemeinsames
verstaendnis zu foerdern.
wir streben eine ganz neue qualitaet der offenheit in europa an,
einschliesslich eines abkommens ueber "offene himmel".
11.
die praesenz bedeutender nordamerikanischer konventioneller und
amerikanischer nuklearer streitkraefte in europa zeugt von dem
tiefen politischen einvernehmen, welches das schicksal
nordamerikas mit den demokratien europas fest verbindet. doch so wie
europa sich wandelt, muessen wir unseren denkansatz in
verteidigungsfragen grundlegend veraendern.
12.
solide ruestungskontrollabkommen sind wesentlich, um unsere
militaerischen erfordernisse zu reduzieren. daher messen wir dem
abschluss des ersten vertrages ueber die verringerung und
begrenzung konventioneller streitkraefte in europa (kse) noch in diesem
jahr hoechste prioritaet ebenso bei wie dem fertigstellen eines
buendels bedeutender vertrauens- und sicherheitsbildender
massnahmen. diese verhandlungen sollten ohne unterbrechung bis zu
ihrem abschluss fortgefuehrt werden. indes hoffen wir, noch mehr zu
erreichen.
wir schlagen vor, gleich nach unterzeichnung eines kse-vertrags
folgeverhandlungen im selben teilnehmerkreis und mit demselben
mandat zu beginnen, um aufbauend auf dem dann vorliegenden
abkommen zusaetzliche massnahmen zu treffen einschliesslich
solcher zur begrenzung des streitkraeftepersonals in europa.
mit blick auf dieses ziel wird zur zeit der unterzeichnung des
ksevertrags eine verbindliche aussage zum personalumfang der
streitkraefte eines vereinten deutschland erfolgen.
13.
es ist unser ziel, die verhandlungen ueber die kse- und
vsbmnachfolge sobald wie moeglich und mit blick auf das 1992 in
helsinki stattfindende ksze-folgetreffen abzuschliessen. durch neue
ruestungskontrollverhandlungen im konventionellen bereich streben
wir in den neunziger jahren weitere einschneidende begrenzungen
der offensivfaehigkeit der konventionellen streitkraefte in europa an,
damit kein land ueber eine unverhaeltnismaessige militaermacht auf dem
kontinent verfuegt. die hochrangige arbeitsgruppe (hltf) der
nato wird eine detaillierte position fuer diese folgeverhandlungen
ueber konventionelle ruestungskontrolle formulieren. wir werden die
notwendigen vorkehrungen treffen, um in verschiedenen regionen
disparitaeten zu beseitigen und um sicherzustellen, dass in keiner
phase die sicherheit irgendeines landes beeintraechtigt wird.
darueber hinaus werden wir auch kuenftig moeglichkeiten fuer erweiterte
ruestungskontrolle und vertrauensbildung erkunden. dies ist ein
ehrgeiziges vorhaben, aber es steht im einklang mit unserem ziel
eines dauerhaften friedens in europa.
14.
mit dem abzug sowjetischer truppen aus mittel- und osteuropa und
der durchfuehrung eines vertrages ueber die begrenzung konventioneller
streitkraefte veraendern sich die integrierte streitkraeftestruktur
und die strategie des buendnisses grundlegend, sie werden dann
folgende elemente umfassen:

- das buendnis wird ueber kleinere und umstrukturierte aktive
streitkraefte verfuegen. diese streitkraefte werden hochmobil und
anpassungsfaehig sein, so dass den verantwortlichen der allianz bei der
entscheidung ueber die reaktion auf eine krise ein hoechstmass an
flexibilitaet gegeben ist. das buendnis wird sich zunehmend auf
multinationale korps abstuetzen, die sich aus nationalen einheiten
zusammensetzen.

- das buendnis wird den bereitschaftsgrad seiner aktiven einheiten
herabsetzen und die ausbildungserfordernisse sowie die zahl
der uebungen verringern.

- das buendnis wird sich staerker auf die faehigkeit verlassen,
umfangreichere streitkraefte dann wieder aufzustellen, wenn sie
erforderlich werden.
15.
zur wahrung des friedens muss das buendnis fuer die vorhersehbare
zukunft eine geeignete zusammensetzung nuklearer und konventioneller
streitkraefte beibehalten, die in europa stationiert sind und
auf dem gebotenen stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist.
als defensives buendnis hat die nato aber stets betont, dass keine
ihrer waffen jemals eingesetzt wird - es sei denn zur selbstverteidigung
- und dass wir das niedrigste und stabilste niveau nuklearer
streitkraefte anstreben, das zur kriegsverhuetung erforderlich ist.
16.
der politische und militaerische wandel in europa und die
aussichten auf weitere veraenderungen erlauben es jetzt den betroffenen
buendnispartnern, weiter zu gehen. sie werden daher den umfang
ihrer nuklearen abschreckungskraefte veraendern und deren
aufgaben anpassen. aus der neuen politischen und militaerischen lage in
europa haben sie den schluss gezogen, dass sich die rolle der
substrategischen nuklearsysteme kuerzester reichweite wesentlich
verringert hat. sie haben konkret beschlossen, dass das buendnis
gleich nach beginn von verhandlungen ueber nukleare mittel
kuerzerer reichweite vorschlagen wird, alle seine nuklearen
artilleriegeschosse in europa im gegenzug zu einem gleichartigen
vorgehen der sowjetunion zu beseitigen.
17.
neue verhandlungen ueber die reduzierung nuklearer mittel
kuerzerer reichweite zwischen den vereinigten staaten und der
sowjetunion sollten kurz nach unterzeichnung eines kse-abkommens
beginnen. die betroffenen buendnispartner werden einen rahmen
fuer diese ruestungskontrollverhandlungen entwickeln, der ihren
bedarf an weit weniger nuklearwaffen sowie das verringerte
erfordernis fuer substrategische nuklearsysteme kuerzester reichweite
beruecksichtigt.
18.
schliesslich koennen die betroffenen buendnispartner mit dem voelligen
abzug sowjetischer stationierungsstreitkraefte und mit der
durchfuehrung eines kse-abkommens ihre abstuetzung auf nuklearwaffen
verringern. diese werden zwar auch kuenftig eine wesentliche rolle
in der gesamtstrategie des buendnisses zur kriegsverhuetung
spielen, indem sie sicherstellen, dass nie eine lage entsteht, in der
nicht mit nuklearer vergeltung als reaktion auf militaerisches vorgehen
gerechnet werden muesste. im veraenderten europa werden die
buendnispartner jedoch in der lage sein, eine neue nato-strategie zu
beschliessen, die nuklearkraefte wahrhaft zu waffen des letzten
rueckgriffs macht.
19.
wir bestaetigen das dem staendigen nordatlantikrat in turnberry
gegebene mandat, die laufende arbeit zur anpassung des buendnisses
an die neuen gegebenheiten zu ueberwachen. der rat sollte
ueber seine schlussfolgerungen sobald wie moeglich berichten.
20.
im zusammenhang mit diesen revidierten plaenen fuer verteidigung
und ruestungskontrolle und unter mitwirkung der militaerbehoerden
der nato und aller betroffenen mitgliedstaaten wird die nato eine
neue militaerstrategie des buendnisses ausarbeiten. diese fuehrt, wo
dies angezeigt ist, von der "vorneverteidigung" weg und hin
zu verminderter praesenz im vorderen bereich, sie veraendert die
"flexible erwiderung", so dass sie eine verminderte abstuetzung auf
nuklearwaffen widerspiegelt.
in diesem zusammenhang wird das buendnis neue streitkraefteplaene
ausarbeiten, die den revolutionaeren veraenderungen in europa
rechnung tragen. die nato wird ferner ein forum fuer
buendniskonsultationen ueber die bevorstehenden verhandlungen ueber
nukleare mittel kuerzerer reichweite schaffen.
21.
die konferenz ueber sicherheit und zusammenarbeit in europa
(ksze) sollte in europas zukunft staerker hervortreten und die
laender europas und nordamerikas zusammenfuehren. wir
befuerworten einen ksze-gipfel in paris gegen ende dieses jahres, der
die unterzeichnung eines kse-abkommens einschliessen und neue
massstaebe fuer die schaffung und erhaltung freier gesellschaften
setzen sollte. er sollte unter anderem bekraeftigen:

- ksze-prinzipien ueber das recht auf freie und faire wahlen,

- ksze-verpflichtungen zur achtung und wahrung der
rechtsstaatlichkeit,

- ksze-leitlinien zur vertiefung der wirtschaftlichen
zusammenarbeit auf der grundlage der entwicklung freier und
wettbewerbsfaehiger marktwirtschaften und

- ksze-zusammenarbeit im umweltschutz.
22.
wir schlagen ferner vor, dass der ksze-gipfel in paris beschliesst,
wie die ksze institutionalisiert werden kann, um ein forum fuer den
breiteren politischen dialog in einem einigeren europa zu sein. wir
empfehlen, dass die regierungen der ksze-staaten vereinbaren:

- ein programm fuer regelmaessige konsultationen, mindestens
einmal im jahr, auf ebene der staats- und regierungschefs oder
der minister, wobei weitere regelmaessige treffen von beamten
diese konsultationen vor- und nachbereiten sollen,

- einen zeitplan fuer ksze-folgetreffen alle zwei jahre, um die
fortschritte in richtung auf das eine und freie europa zu
bewerten,

- ein kleines ksze-sekretariat, um diese treffen und konferenzen
zu koordinieren,

- einen ksze-mechanismus, um wahlen in den ksze-staaten auf
der grundlage des kopenhagener dokuments zu beobachten,

- ein ksze-zentrum fuer konfliktverhuetung, das als forum dienen
koennte zum austausch militaerischer informationen, zur
diskussion ungewoehnlicher militaerischer aktivitaeten sowie zur
schlichtung von streitigkeiten zwischen ksze-mitgliedstaaten,

- ein parlamentarisches ksze-gremium, die europaeische
versammlung, auf der grundlage der bestehenden
parlamentarischen versammlung des europarates in strassburg unter
einbeziehung von vertreten aller ksze-mitgliedstaaten.
bei der wahl des jeweiligen sitzes dieser neuen institutionen soll
beruecksichtigt werden, dass die jungen demokratien mittel- und
osteuropas teil der politischen strukturen des neuen europa sind.
23.
mit dem heutigen tage leitet unser buendnis eine umfassende
neugestaltung ein. wir sind entschlossen, in zusammenarbeit mit
allen staaten europas dauerhaften frieden auf diesem kontinent zu
schaffen.