die deutsche frage und die europaeische verantwortung - rede des bundeskanzlers in paris

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bundeskanzler dr. helmut kohl hielt im rahmen einer
konferenz des "bureau international de liaison et de
documentation" und des "institut francais des relations
internationales" im "centre de conferences
internationales" in paris am 17. januar 1990 zum thema "die
deutsche frage und die europaeische verantwortung"
folgende rede:

sehr geehrter, lieber herr professor rovan,
sehr geehrter herr de montbrial,
meine sehr verehrten damen und herren!

ich moechte heute abend zu ihnen ueber ein thema sprechen,
das die menschen nicht nur in meinem land, sondern auch
in frankreich, ja in ganz europa bewegt: die frage nach
dem standort deutschlands in einem kuenftigen europa.
die veranstalter sind, hoffe ich, damit einverstanden, wenn
ich das angekuendigte thema in diesem sinn praezisiere.
die deutsche frage steht unuebersehbar auf der tagesordnung
der europaeischen und internationalen politik. und es
sind nicht in erster linie die politiker und diplomaten, die
dies bewirkt haben, sondern die menschen, die in leipzig,
berlin und dresden auf die strasse gegangen sind.
dass die deutsche frage nicht erledigt war, konnte nie
zweifelhaft sein. denn die teilung deutschlands - wie die
teilung europas - war von aussen aufgezwungen und
konnte nicht das letzte wort der geschichte sein.
mit dem abbau der ost-west-konfrontation und dem
demokratischen aufbruch in den laendern mittel-, ost- und
suedosteuropas tut sich jetzt erstmals die realistische
chance auf, beides - die teilung europas und die teilung
deutschlands - friedlich zu ueberwinden.
diese aufgabe - und daran moechte ich keinen zweifel
lassen - werden wir nur gemeinsam bewaeltigen koennen.
ein nationaler alleingang zur loesung der deutschen frage
waere vermessen und zum scheitern verurteilt. ebenso
verhaengnisvoll waere aber, wenn auf dem schwierigen weg,
den wir vor uns haben, an die stelle von vertrauen
misstrauen und in die gegenseitigen absichten zweifel treten
wuerden.

wir deutschen wollen diesen weg vor allem auch
zusammen mit frankreich gehen, mit dem uns eine enge und
kostbare freundschaft verbindet. dabei bin ich mir durchaus
bewusst, dass die jetzt in gang gekommene entwicklung bei
ihnen in frankreich - wie bei anderen europaeischen
nachbarn - auch besorgte fragen aufwirft. und es ist sicher
nicht nur das tempo, das manchem bedenklich scheint. im
hintergrund steht auch - und da sollten wir offen und ehrlich
miteinander sein - die erinnerung an die geschichte.
wir deutschen koennen und wollen diese last der
geschichte nicht einfach abwerfen. aber niemand sollte
zugleich ausser acht lassen, dass das demokratische und
freiheitliche deutschland in ueber 40 jahren den beweis
erbracht hat, dass die deutschen aus der vergangenheit
gelernt haben.
die bundesrepublik deutschland ist heute untrennbar mit
dem freien und demokratischen europa verschmolzen, und
es wird auch kuenftig nicht darum gehen, nationalstaatliche
strukturen des 19. jahrhunderts zu restaurieren.
die "deutsche herausforderung", die eine grosse pariser
tageszeitung kuerzlich beschwor, ist in wirklichkeit eine
europaeische herausforderung.
dieser herausforderung sollten wir uns als europaeer
gemeinsam stellen. es liegt in unserer gemeinsamen
europaeischen verantwortung, mit weitblick und
beharrlichkeit an die loesung der vor uns liegenden aufgaben
heranzugehen.
meine damen und herren, ohne zweifel stehen wir heute an
einem einschnitt der europaeischen nachkriegsgeschichte.
1989 wurde zum jahr der grossen umwaelzungen - 200 jahre
nach der franzoesischen revolution, deren verkuendigung
der menschen- und buergerrechte nichts von ihrer
geschichtlichen kraft eingebuesst hat.
ungarn und polen gingen auf dem weg zu freiheit und
demokratie voran. dann sprang der funke auf die ddr
ueber, wo die erste friedliche revolution auf deutschem
boden in gang gekommen ist.
niemand von uns wird jene nacht vom 9. zum 10. november
vergessen, in der die berliner sich zum ersten mal nach
28 jahren in ihrer stadt frei bewegen konnten und sich vor
freude in den armen lagen.
die oeffnung des brandenburger tores und die
sylvesternacht haben aller welt gezeigt, dass die berliner
zusammengehoeren.
wir deutschen haben zugleich die welle der sympathie und
anteilnahme verspuert, die durch die welt gegangen ist, als
die menschen in ost-berlin und in der ddr mauer und
stacheldraht ueberwanden und die deutschen ein fest des
wiedersehens feierten.
binnen weniger wochen haben auch tschechen und
slowaken die kommunistische herrschaft abgeschuettelt.
inzwischen ist in bulgarien der friedliche wandel in gang
gekommen.
und schliesslich ist es den rumaenen gelungen, die fesseln
zu sprengen, die ihnen der diktator ceausescu angelegt
hatte, der vergeblich das aufbegehren seines geschundenen
volkes mit blutiger hand zu unterdruecken versuchte.
es war das volk selbst, das allenthalben das tor zu freiheit
und demokratie aufgestossen hat, nachdem ihnen mutige
frauen und maenner - ich nenne nur den kuerzlich
verstorbenen andrej sacharow, lech walesa und vaclav havel -
in jahrelangem widerstand den weg gewiesen haben.
aber dieser wandel waere nicht in gang gekommen und erst
recht nicht so weit vorangekommen ohne zwei
entscheidende bedingungen:

erstens: die festigkeit des westlichen buendnisses in den
schweren bewaehrungsproben der achtziger jahre sowie die
erfolgreiche fortentwicklung der wirtschaftlichen und
politischen integration der europaeischen gemeinschaft.
beides hat uns in die lage versetzt, in diese entscheidende
phase des umbruchs geschlossen und mit einer klaren
politischen orientierung hineinzugehen, zugleich haben die
reformbewegungen in mittel-, ost- und suedosteuropa auch
dadurch auftrieb erhalten, dass sich ihnen die europaeische
gemeinschaft als erfolgreiches modell des freien
zusammenschlusses europaeischer voelker praesentierte.

zweitens: die reformpolitik von generalsekretaer
gorbatschow und insbesondere seine bereitschaft, den
staaten mittel- und suedosteuropas das recht auf die wahl
ihres eigenen weges zuzuerkennen, die beweggruende
hierfuer moegen vielschichtig sein, aber in seiner konsequenz
bedeutet dieser weitsichtige und mutige schritt, dass der
ganze europaeische kontinent endlich hoffen kann, frieden
und stabilitaet auf der grundlage von recht und freiheit,
und nicht laenger im schatten von gewalt und drohender
einmischung, zu finden. wenn dies gelingt, wird dies eine
der historischen taten unserer zeit sein.
der umbruch, den wir erleben, ist aber auch das ergebnis
langfristiger entwicklungen, die wir mit unserer
gemeinsamen politik schon sehr fruehzeitig beeinflusst haben.
ich erinnere hier nur an das harmel-konzept von 1967, in
dem wir dynamisch die solidaritaet im buendnis und die
sicherung seiner verteidigungsfaehigkeit mit dem angebot zu
dialog und zusammenarbeit mit den warschauer-pakt-staaten
verbunden haben.
eine bedeutende rolle hat vor allem der ksze-prozess
gespielt, den wir im sinne unserer wertvorstellungen
nachhaltig mitgestaltet haben.
die schlussakte von helsinki, insbesondere der darin
enthaltene verhaltenskodex fuer die zwischenstaatlichen
beziehungen, sowie die verpflichtungen zur einhaltung von
menschen- und buergerrechten und nicht zuletzt die bekraeftigung
des selbstbestimmungsrechtes wurden zu einer wichtigen
berufungsgrundlage fuer die reformkraefte in mittel-, ost- und
suedosteuropa.
zu dem gewachsenen vertrauen zwischen west und ost
haben schliesslich die fortschritte auf den feldern von
abruestung und ruestungskontrolle entscheidend beigetragen,
wobei mit dem abschluss des inf-abkommens ein
historischer durchbruch gelang.
die bundesrepublik deutschland hat zu diesen
entwicklungen einen aktiven beitrag geleistet. sie hat zugleich
durch eine breit angelegte vertragspolitik gegenueber der
sowjetunion und anderen warschauer-pakt-staaten das
fundament fuer die entwicklung gedeihlicher bilateraler
beziehungen gelegt.
nicht zuletzt gilt das auch fuer unsere "politik der kleinen
schritte" gegenueber der ddr, die in schwierigen zeiten den
zusammenhalt der deutschen gesichert und gestaerkt hat.
sie diente allerdings nie der zementierung des status quo.
meine damen und herren, die bewegung, die europa
veraendert, wird sobald nicht zum stillstand kommen. nicht
alles, was noch auf uns zukommt, laesst sich heute schon
uebersehen. aber eines ist gewiss: europa wird vielfaeltiger,
auch umfassender. hierauf gilt es sich einzustellen.
es genuegt nicht, wenn wir nur skeptisch abwarten. nicht nur
unsere eigenen buerger, auch die menschen im oestlichen
teil unseres kontinents erwarten von uns eine antwort auf
die frage, wie das europa der zukunft aussehen soll.
lassen sie mich hierzu drei grundsaetzliche anmerkungen
machen:

erstens: es gilt zunaechst unsere rolle richtig
einzuschaetzen. nicht der westen entscheidet ueber erfolg oder
misserfolg der reformprozesse in der sowjetunion und den
anderen staaten des warschauer paktes, sondern hierueber
entscheiden in erster linie die menschen und die politischen
kraefte in diesen laendern selbst.
es ist allerdings zugleich unsere pflicht, sie auf dem weg zu
freiheit, menschenrechten und selbstbestimmung zu
ermutigen und zu unterstuetzen.
es waere aber politisch unklug - ja kontraproduktiv - wenn
jemand den eindruck erwecken wuerde, als wollten wir diese
reformprozesse vom westen her steuern oder diese
laender in unsere politische obhut nehmen. sie muessen selbst
darueber befinden, wie sie ihr kuenftiges verhaeltnis zum freien
europa gestalten wollen.
unklug waere es auch, wenn man in die diskussion ueber die
stellung der einzelnen osteuropaeischen staaten gegenueber
der sowjetunion oder die kuenftige gestalt des warschauer
paktes oder des rgw eingreifen wuerde.

zweitens: wir koennen aber unseren beitrag zum
gelingen der reformpolitik dadurch leisten, dass wir die
rahmenbedingungen, die die bisherigen veraenderungen
beguenstigt haben, aufrechterhalten und weiter verbessern.
hierzu gehoeren die konsequente fortsetzung des
politischen dialogs zwischen west und ost - und zwar sowohl im
multilateralen rahmen als auch auf bilateraler ebene sowie
weitere energische schritte auf dem gebiet von abruestung
und ruestungskontrolle.
ein kernproblem fuer das gelingen der reformen wird die
allmaehliche ueberwindung der wirtschaftlichen krise sein,
von der die laender mittel-, ost- und suedosteuropas - wenn
auch mit unterschiedlicher intensitaet - heimgesucht werden.
wir koennen zwar nur "hilfe zur selbsthilfe" leisten, aber
diese sollte eingebettet sein in eine umfassende strategie
wirtschaftlicher, technologischer und finanzieller
zusammenarbeit.

drittens: es ist nicht von der hand zu weisen, dass die
entwicklung im osten auch die nationalen identitaeten wieder
staerker zum tragen bringt. darin manifestiert sich auch
wiedergewonnene freiheit, und das sollten wir nicht
kritisieren. aber zugleich gilt, dass das kuenftige europa nichts
weniger als den rueckfall in die denk- und verhaltensmuster
von gestern oder vorgestern vertraegt.
unsere antwort hierauf muss sein, dass wir die europaeische
gemeinschaft konsequent und energisch fortentwickeln. es
kann fuer uns zu keinem zeitpunkt darum gehen, den
integrationsprozess der europaeischen gemeinschaft zu
verlangsamen oder gar umzukehren, denn wir wuerden damit die
entscheidende karte verspielen, die wir haben, um dem
sich anbahnenden gesamteuropaeischen prozess halt zu
verleihen.
meine damen und herren, ich habe im januar 1988 hier in
paris vorgeschlagen, dass frankreich und die
bundesrepublik deutschland angesichts der sich damals schon
abzeichnenden veraenderungen in osteuropa darangehen sollten,
eine gemeinsame ostpolitik zu entwickeln.
ich bin nach wie vor der auffassung, dass eine staerkere
verzahnung unserer politik in diesem bereich - bis zur
operativen ebene - helfen kann, die vor uns liegenden
aufgaben besser abzustimmen und umzusetzen.
frankreich und deutschland sollten zugleich der motor fuer
ein noch engeres aussenpolitisches zusammenwirken der
eg-staaten gegenueber osteuropa sein.
wir haben auf dem weltwirtschaftsgipfel im juli 1989 in
paris einen ersten wichtigen schritt in diese richtung getan,
indem wir uns auf ein gemeinsames hilfsprogramm fuer
polen und ungarn verstaendigt haben, an dem auch partner
ausserhalb der eg - insbesondere auch die usa, kanada
und japan - beteiligt sind.
inzwischen ist ein breitgefaechertes programm der
zusammenarbeit unter federfuehrung der europaeischen
kommission entwickelt und in gang gesetzt worden.
ende vergangenen jahres haben wir unsere bereitschaft
erklaert, auch die laender mittel-, ost- und suedosteuropas,
die sich in den letzten monaten der reformbewegung
angeschlossen haben, in diese zusammenarbeit einzuschliessen.
eine wichtige grundlage fuer die langfristige entwicklung der
zusammenarbeit sind die handels- und kooperations-
abkommen zwischen der europaeischen gemeinschaft und
den reformlaendern ungarn und polen und seit neuestem
auch mit der sowjetunion.
ich begruesse, dass bald auch mit der ddr verhandlungen
ueber ein solches abkommen beginnen koennen.
wir sollten in der laengerfristigen perspektive aber auch
ueber bestimmte formen der assoziierung nachdenken, die die
reformorientierten staaten mittel- sowie suedosteuropas
moeglichst nah an die europaeische gemeinschaft heranfuehren
und die das ziel haben muessen, das wirtschaftliche und
soziale gefaelle mitten in europa abzubauen.
ich begruesse ausdruecklich die ueberlegungen, die praesident
delors zu diesem thema in seiner heutigen rede in
strassburg angestellt hat.
ich unterstuetze seine zielvorstellung, die kuenftige
zusammenarbeit - falls dies von den laendern mittel-, ost- und
suedosteuropas gewuenscht wird - auf eine institutionelle
grundlage zu stellen, um dadurch den politischen und
wirtschaftlichen dialog zu verstetigen.
es ist nicht nur die groessenordnung der vor uns liegenden
aufgaben, die gemeinschaftliches handeln erforderlich
macht.
es ist dies auch ein gebot politischer vernunft, denn ein
wettlauf zwischen den einzelnen mitgliedstaaten der
europaeischen gemeinschaft waere letztlich den interessen aller
beteiligten abtraeglich.
die auf initiative von praesident mitterrand ins leben
gerufene europabank hat daher von anfang an meine
unterstuetzung gehabt - denn sie ist klarer ausdruck
unseres willens zu gemeinsamem handeln.
die bundesregierung tritt mit grossem nachdruck dafuer ein,
in den vor uns liegenden jahren die gemeinschaftliche
politik gegenueber mittel-, ost- und suedosteuropa
konsequent auszubauen und ihr eine gesamteuropaeische
ausrichtung zu geben.
ich moechte ausdruecklich betonen, dass hierzu auch - bei
aller besonderheit des falles - der ausbau der beziehungen
zwischen der europaeischen gemeinschaft und der ddr
gehoert.
praesident delors hat sich zur europaeischen berufung der
ddr in seiner heutigen rede sehr klar geaeussert, wofuer ich
ihm ausdruecklich danke.
unser gemeinsames ziel muss sein, dass sich die in mittel-,
ost- und suedosteuropa eingeleiteten reformen in stabilen
bahnen entwickeln und zum erfolg gefuehrt werden koennen.
meine damen und herren, indem ich in dieser ausfuehrlichen
form auf die gesamteuropaeischen aufgaben eingegangen
bin, habe ich zugleich deutlich machen wollen, dass es in tat
und wahrheit nicht darum gehen kann, eine hiervon isolierte
deutschlandpolitik zu betreiben.
das enthebt allerdings die bundesrepublik deutschland
nicht der notwendigkeit, ihrer besonderen nationalen
verantwortung, die sie gegenueber den menschen aus der ddr
hat und die ihr auch das grundgesetz auferlegt, gerecht zu
werden.
aus dieser verantwortung heraus habe ich am 28.
november des vergangenen jahres vor dem deutschen bundestag
ein deutschlandpolitisches zehn-punkte-programm entwickelt.
in der oeffentlichen diskussion hierueber ist mir gelegentlich
unterstellt worden, es handele sich hierbei um eine art
zeitplan, der darauf angelegt sei, die entwicklung in eine
bestimmte richtung zu forcieren.
eine solche absicht liegt diesem programm nicht zugrunde
und kann auch nicht herausgelesen werden. vielmehr habe
ich schon bei der vorlage dieses programms erklaert, dass
der weg zur deutschen einheit nicht "vom gruenen tisch"
oder mit einem terminkalender in der hand geplant werden
kann.
ich werde mich also auch hier und heute nicht an einer
diskussion ueber jahreszahlen beteiligen. ich plaediere
vielmehr dafuer, mit einem moeglichst hohen mass an flexibilitaet
und offenheit an die weitere entwicklung heranzugehen.
allerdings gilt es zugleich die vorstellungen und wuensche
der betroffenen menschen in den mittelpunkt zu stellen.
wenn wir das nicht tun, "bestraft uns das leben", um ein
wort michail gorbatschows abzuwandeln.
wer die zehn punkte als ganzes liest - nur so sind sie zu
verstehen -, der weiss, dass es mir um einen organischen
prozess geht, der das selbstbestimmungsrecht der
deutschen gewaehrleistet, zu gemeinsamer freiheit fuer alle
europaeer hinfuehrt, dabei die legitimen sicherheitsinteressen
aller beruecksichtigt und so die stabilitaet in europa auch
kuenftig sichert.
dies ist der kern der botschaft, die zugleich eine klare
absage an einen deutschen sonderweg und erst recht eine
absage an jeden nach rueckwaerts gewandten nationalismus
ist.
da mir daran liegt, insbesondere auch mit ihnen diese frage
intensiv zu diskutieren, moechte ich die gelegenheit
benutzen, die wesentlichen elemente dieses programms hier
noch einmal zusammenzufassen.

- in einem ersten schritt geht es darum, jetzt notwendige
sofortmassnahmen zu treffen, insbesondere die
neugewonnene freizuegigkeit der menschen materiell
abzusichern sowie die bisherige zusammenarbeit,
beispielsweise in der wirtschaft, beim verkehr und beim
umweltschutz zuegig fortzusetzen.
die gespraeche mit der ddr hierueber sind bereits weit
gediehen.

- ferner habe ich den gedanken von ministerpraesident
modrow aufgegriffen und vorgeschlagen, eine
vertragsgemeinschaft zu entwickeln, die ein immer dichteres
netz von vereinbarungen in allen bereichen und auf allen
ebenen umfassen und auch entsprechende gemeinsame
institutionen erhalten soll.

diese vertragsgemeinschaft wird selbstverstaendlich nur
mit einer frei gewaehlten regierung zustande kommen und
muss darueber hinaus von einem frei gewaehlten parlament
in der ddr gebilligt werden.
zugleich werden wir darauf zu achten haben, dass in den
anstehenden wahlen auch tatsaechlich chancengleichheit
gewaehrleistet ist - eine bedingung, die angesichts der
politischen strukturen in der ddr von entscheidender
bedeutung ist.
es kann nicht unser interesse sein, dass in der ddr eine
lage eintritt, die immer mehr menschen veranlasst, die
ddr zu verlassen. unser ziel ist es vielmehr, dass die
menschen ihre zukunft und die ihrer kinder in der
angestammten heimat sehen.
1989 sind ueber 340 000 menschen aus der ddr zu uns
gekommen - wobei ich nur anmerken darf, dass im
gleichen zeitraum 377 000 aussiedler, vor allem aus der
sowjetunion und polen, eintrafen.
seit beginn dieses jahres waren es tag fuer tag
durchschnittlich 1 500 uebersiedler, die der ddr den ruecken
kehrten, um ein neues leben in der bundesrepublik zu
beginnen.
diese entwicklung lastet in erster linie auf der
bundesrepublik deutschland. aber unsere freunde sollte es
nicht gleichgueltig lassen, wenn sich hier zunehmend
probleme auftuermen, deren innenpolitische bewaeltigung
eine grosse herausforderung darstellt.

- nach freien wahlen und nach bildung einer frei
gewaehlten regierung in der ddr wollen wir darangehen,
konfoederative strukturen zu schaffen, um moeglichst bald
auf vielen feldern zu gemeinsamen entscheidungen zu
kommen.

dabei koennen wir uns folgende institutionen vorstellen:

- einen gemeinsamen regierungsausschuss zur
staendigen konsultation und politischen abstimmung,

- gemeinsame fachausschuesse.

- ein gemeinsames parlamentarisches gremium.

stufenweise koennen noch weitere formen institutioneller
zusammenarbeit entstehen.

- dieses konzept laeuft auf ein organisches
zusammenwachsen der beiden deutschen staaten hinaus - eine
entwicklung, die in der kontinuitaet deutscher geschichte
liegt.

wie deutschland am ende dieses prozesses schliesslich
aussehen wird, vermag heute niemand zu sagen.
nur: es sollte auch niemand versuchen, diesen
friedlichen prozess mit bedingungen zu verknuepfen, die
letztlich darauf hinauslaufen wuerden, das
selbstbestimmungsrecht der deutschen auszuhoehlen.
denn - und da wissen wir uns in frankreich, dem land,
von dem die europaeische freiheit ihren ausgang nahm,
sehr wohl verstanden - zur freiheit der deutschen
gehoert wesentlich das recht selbst zu bestimmen, wie
ihre politische zukunft aussehen soll.
ich bin daher staatspraesident mitterrand sehr dankbar,
der sich hierzu wiederholt, zuletzt bei unserem
zusammentreffen in latche, deutlich geaeussert hat.
in seiner tischrede in ost-berlin hat staatspraesident
mitterrand daran erinnert, dass das streben nach einheit
seine wurzeln in der geschichte hat und dass es vor
allem sache der deutschen ist, in freiheit ueber ihr
kuenftiges schicksal zu entscheiden.
dies ist in der tat der kernpunkt: die menschen sowohl
in der bundesrepublik deutschland als auch in der ddr
muessen das recht und die moeglichkeit haben, selber frei
ueber die frage zu entscheiden, ob sie in einem
deutschen staat leben wollen oder nicht.

ich moechte dabei ganz klar sagen, dass wir jede
entscheidung, die die menschen in der ddr in freier
selbstbestimmung treffen, selbstverstaendlich respektieren.
wenn aber die menschen in deutschland die einheit
wollen, wird sie auch kommen - und ich bin gewiss, in
west und ost wird ein solches votum der deutschen
respektiert werden.

- in dieser perspektive bleibt es fuer uns von grundlegender
bedeutung, dass nicht nur unsere freunde und partner im
westen, sondern auch unsere nachbarn im osten das
recht der deutschen auf selbstbestimmung
uneingeschraenkt anerkennen.
"die staerkung des zustands des friedens in europa, in
dem das deutsche volk in freier selbstbestimmung seine
einheit wiedererlangt" - ich habe aus der erklaerung des
europaeischen rates in strassburg zitiert -, muss unser
gemeinsames ziel sein.
insbesondere vertrauen wir auf das wort frankreichs,
grossbritanniens und der vereinigten staaten von
amerika, die sich in artikel 7 des deutschlandvertrages von
1952/54 verpflichtet haben - ich zitiere -: "mit friedlichen
mitteln ihr gemeinsames ziel zu verwirklichen: ein
wiedervereinigtes deutschland, das eine freiheitlich-
demokratische verfassung aehnlich wie die bundesrepublik
besitzt und das in die europaeische gemeinschaft
integriert ist".

- selbstverstaendlich sind wir uns im klaren darueber, dass
der kuenftige weg deutschlands in europa keinen unserer
nachbarn in west und ost gleichgueltig lassen kann.
es ist daher keine beilaeufige floskel, sondern eine
zentrale aussage, wenn ich in dem von mir vorgelegten
programm nachdruecklich betont habe, dass die
entwicklung der innerdeutschen beziehungen eingebettet bleibt
in den gesamteuropaeischen prozess, das heisst immer
auch in die west-ost-beziehungen.

die kuenftige architektur deutschlands muss sich einfuegen
in die kuenftige architektur gesamteuropas. das "haus
deutschland" muss unter einem europaeischen dach gebaut
werden. hierfuer hat der westen mit seinem konzept der
dauerhaften und gerechten europaeischen friedensordnung
entscheidende vorarbeit geleistet.
wir deutschen sind uns unserer mitverantwortung fuer
frieden und sicherheit in europa bewusst. dabei haben wir
allerdings auch stets betont, dass sicherheit nicht nur aus
militaerischem potential erwaechst.
wesentlicher faktor der sicherheit sind auch die politischen
verhaeltnisse in europa. auf mauer und stacheldraht laesst
sich daher stabilitaet ebenso wenig gruenden wie auf einer
politik, die freiheit und demokratie unterdrueckt.
diesen teil des "status quo" zu ueberwinden, bedeutet
daher keine gefahr fuer die europaeische sicherheit - im
gegenteil: jeder gelungene reformschritt bedeutet fuer ganz
europa einen zugewinn an stabilitaet und sicherheit.
nicht alle fragen, die sich angesichts der jetzt in gang
gekommenen entwicklung stellen, lassen sich heute bereits
abschliessend beantworten. ebensowenig koennen wir heute
schon alle fragen abschliessend regeln, die sich bei einer
wiedervereinigung stellen wuerden.

fuer unsere nachbarn steht dabei naturgemaess die frage
der kuenftigen grenzen eines gesamtdeutschen staates im
mittelpunkt ihres interesses.
hierzu moechte ich zunaechst in aller deutlichkeit sagen:
kein politisch verantwortlicher in der bundesrepublik
deutschland, keine ernst zu nehmende politische gruppierung
traeumt von einem "grossdeutschland", wie dieser unselige
begriff aus einer unseligen epoche lautet.
schon von daher ist die diskussion, die hierueber - nicht
zuletzt bei uns - gefuehrt wird, kuenstlich, ja ueberfluessig.
manche debattenbeitraege tragen allzu deutlich den stempel
des beginnenden wahlkampfes.
lassen sie mich zwei klare feststellungen auch hier und
heute treffen:

erstens: zur rechtslage:
die bundesrepublik deutschland und polen bekraeftigen im
warschauer vertrag von 1970 "die unverletzlichkeit ihrer
bestehenden grenzen jetzt und in der zukunft und verpflichten
sich gegenseitig zur uneingeschraenkten achtung ihrer
territorialen integritaet. sie erklaeren, dass sie
gegeneinander keinerlei gebietsansprueche haben und solche auch
in zukunft nicht erheben werden".
gleichzeitig stellen beide seiten fest, dieser vertrag beruehre
"nicht die von den parteien frueher geschlossenen oder sie
betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen
vereinbarungen".
aehnliche, zum teil gleichlautende feststellungen enthaelt der
zuvor unterzeichnete moskauer vertrag.
in beiden vertraegen hat die damalige bundesregierung der
tatsache rechnung getragen, dass es keinen
friedensvertrag gibt und dass die bundesrepublik deutschland
nicht als gesamtdeutscher souveraen, sondern nur im eigenen
namen handeln kann. fuer die heutige bundesregierung
stellt sich diese lage nicht anders dar.
im uebrigen darf ich auch erwaehnen, dass in dem bereits
zitierten artikel 7 des deutschlandvertrages von 1952/54
einvernehmlich festgestellt wird, "dass die endgueltige
festlegung der grenzen deutschlands" bis zu einer
freivereinbarten friedensvertraglichen regelung fuer ganz
deutschland aufgeschoben werden muss.

zweitens: zur politischen seite:
eine andere frage ist, wie die deutschen, deren
demokratischer wille die haltung einer kuenftigen
gesamtdeutschen regierung binden wuerde, in ihrer zweifellos
ueberwaeltigenden mehrheit hierueber denken. die deutschen - und
hieran sollte niemand zweifeln - haben nicht die absicht, im
europa von morgen eine grenzdiskussion vom zaun zu brechen,
die die europaeische friedensordnung, die wir gemeinsam
anstreben, gefaehrden muesste.
die deutschen wollen eine dauerhafte aussoehnung mit
ihren polnischen nachbarn, und dazu gehoert auch, dass die
polen die gewissheit haben muessen, in sicheren grenzen zu
leben. niemand will eine zweite vertreibung nach den
schrecken der vertreibung, die die deutschen an ihrem
eigenen leib erfahren haben.
niemand will daher die frage der einheit der nation
verbindie in einem kuenftigen europa der freiheit an bedeutung
verlieren werden.
gerade auch die deutschen vertriebenen haben sich immer
wieder zum gewaltverzicht bekannt. mit ihrer "charta
der deutschen heimatvertriebenen", verabschiedet am
5. august 1950 in stuttgart, haben sie rache und
vergeltung eine klare absage erteilt und sich ausdruecklich zu
einem geeinten europa bekannt, "in dem die voelker ohne
furcht und zwang leben koennen".
denn in der tat: wir koennen das europa von morgen nicht
bauen, wenn wir den teufelskreis von hass und gewalt, von
unrecht und vertreibung nicht durchbrechen.
meine damen und herren, wir stehen am anfang des letzten
jahrzehnts dieses jahrhunderts - eines jahrhunderts, das
vor allem in der ersten haelfte unermessliches elend ueber
die voelker europas gebracht hat.
in den neunziger jahren haben wir die historische chance,
diesem jahrhundert einen ausklang zu geben, der das
gesicht europas veraendert, der europa zu einem kontinent
macht, von dem frieden und freiheit in eine unruhige welt
ausstrahlen.
praesident mitterrand hat in seiner neujahrsansprache von
einer europaeischen konfoederation gesprochen, die alle
staaten unseres kontinents in einer gemeinsamen und
staendigen organisation fuer austausch, frieden und
sicherheit zusammenfuehren wird.
ich habe diese ueberlegungen des franzoesischen
staatspraesidenten bereits in latche begruesst und erklaere
auch hier noch einmal meine bereitschaft, an diesem werk
mitzuarbeiten.
in der sache wird es jetzt darum gehen, die heute schon
bestehenden kooperationsformen in europa
weiterzuentwickeln, wobei, was den gesamteuropaeischen ansatz
angeht, dem ksze-prozess zentrale bedeutung zukommt.
der von generalsekretaer gorbatschow schon fuer 1990
vorgeschlagene ksze-gipfel koennte - bei sorgfaeltiger
vorbereitung - den auftakt fuer diese arbeiten bilden. zugleich
sollten wir alles daransetzen, diesen gipfel mit der
unterzeichnung eines ersten abkommens ueber konventionelle
streitkraeftereduzierung in europa zu verbinden.
mein land ist gastgeber der konferenz ueber wirtschaftliche
zusammenarbeit in europa, die vom 19. maerz bis 11. april
in bonn stattfinden wird, von der ein erster impuls zur
bildung eines gesamteuropaeischen wirtschaftsraumes
ausgehen koennte.
der heutige vorschlag von praesident delors, in beide
ksze-konferenzen mit einer gemeinsamen marschroute zu
gehen, die es jetzt zu erarbeiten gilt, findet meine volle
unterstuetzung.
denn in der tat: treibende kraft in diesem prozess muss die
europaeische gemeinschaft sein, und praesident delors hat
recht, wenn er die gemeinschaft auffordert, ihr
aussenpolitisches instrumentarium der neuen entwicklung
anzupassen. unser gemeinsames ziel muss sein, die europaeische
gemeinschaft als kern einer kuenftigen friedensordnung
- oder auch einer europaeischen konfoederation, um diesen
begriff staatspraesident mitterrands zu benutzen - zielstrebig
auszubauen.
meine damen und herren, klare politik der von mir gefuehrten
bundesregierung bleibt es - wir haben dies in strassburg
fuer jedermann sichtbar unter beweis gestellt -, die vor uns
liegenden etappen gemeinschaftlicher politik tatkraeftig
mitzugestalten:

- die vollendung des binnenmarktes,

- die ausfuellung seiner sozialen dimension,

- die schaffung der wirtschafts- und waehrungsunion.

wir legen damit zugleich die fundamente fuer die politische
union, deren institutionelle ausgestaltung zu den grossen
aufgaben der neunziger jahre gehoeren wird.
es sollte uns daher auch niemand unterstellen, dass wir
dabei sind, unsere aussenpolitischen positionen
umzudefinieren.
vor allem die scheinalternative - deutsche einheit oder
europaeische einigung - hat es manchem politischen
theoretiker angetan.
ich habe mich zu hause stets gegen diejenigen gewandt,
die einen widerspruch zwischen beiden zielen zu
konstruieren versuchten. er ist im uebrigen nicht sehr
originell, sondern durchzieht bereits die diskussion der
fuenfziger jahre.
in wahrheit gibt es zwischen deutscher einheit und
europaeischer integration keinen widerspruch. sie sind beide
nicht konkurrierende, sondern zusammengehoerende auftraege
des grundgesetzes, in dessen praeambel das deutsche volk
aufgefordert wird, ". . . seine nationale und staatliche
einheit zu wahren und als gleichberechtigtes glied in einem
vereinten europa dem frieden der welt zu dienen".
die bundesrepublik deutschland wird daher auch nicht
- wie hier und da behauptet wurde - zum "problemfall" in
der europaeischen gemeinschaft werden.
wir haben in der vergangenheit unseren beitrag zur
entwicklung der gemeinschaft geleistet - ich erinnere nur an
die letzte deutsche praesidentschaft - und werden dies auch
in zukunft tun.
ich fuehle mich zu dieser feststellung berechtigt, da schon
die bibel uns ermuntert, unser eigenes licht nicht unter den
scheffel zu stellen.
die bundesrepublik deutschland steht ohne wenn und aber
zu ihrer europaeischen verantwortung - denn gerade fuer uns
deutsche gilt: europa ist unser schicksal!
die schluesselrolle bei der fortentwicklung der
gemeinschaft wird - davon bin ich ueberzeugt - weiterhin
frankreich und der bundesrepublik deutschland zufallen.
so wenig wie europa in der vergangenheit ohne die
partnerschaftliche zusammenarbeit zwischen unseren beiden
laendern zusammengewachsen waere, so wenig kann das
europa der zukunft ohne ein enges deutsch-franzoesisches
einvernehmen gebaut werden.
frankreich und deutschland haben in der nachkriegszeit
ein einmaliges beispiel dafuer geliefert, wie zwei benachbarte
voelker den langen weg von einer fuer ganz europa
zerstoererischen rivalitaet zu einer auch fuer die anderen
europaeischen partner fruchtbaren "entente" gegangen sind.
von diesem weg werden wir auch in der zukunft nicht
abgehen.