- Bulletin 36-97
- 12. Mai 1997
Der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe, hielt auf der Konferenz des
George C. Marshall European Center for Security Studies am 29. April 1997 in
Garmisch-Partenkirchen folgende Rede:
I.
Wir ehren heute gemeinsam einen großen amerikanischen Politiker, der vor 50
Jahren den Europäern nach der Katastrophe neue Hoffnung und Zukunft gab.
Besonders wir Deutsche verdanken George Marshall unendlich viel. Seine Politik
und Vision haben unser Schicksal über Jahrzehnte maßgeblich geprägt. Wofür
George Marshall eintrat – der Zusammenschluß der Europäer in Freiheit und
Wohlfahrt, Seite an Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika – diese
Vision entfaltet heute wieder faszinierende Aktualität. Nicht umsonst hing im
Dienstzimmer meines Freundes William Perry, der seine Politik ganz bewußt in
die Tradition von George Marshall stellte, ein Porträt seines großen
Vorgängers.
Wie wenige andere steht George Marshall für die besondere Freundschaft, die
uns Deutsche, die Europa seit über fünfzig Jahren mit den Vereinigten Staaten
von Amerika verbindet. Er ist ein Vertreter der Generation auf beiden Seiten
des Atlantiks, die dem deutsch-amerikanischen Verhältnis nach dem Krieg neue
Substanz und neue Ziele gaben.
Die berühmte Rede George Marshalls am 5. Juni 1947 war das große Signal
amerikanischer Solidarität – nur zwei Jahre nach der Kapitulation des
geschlagenen Deutschlands. Marshalls Botschaft war das Signal zum Aufbruch,
als Europa in Wirtschaftskrise, Hunger und Hoffnungslosigkeit zu versinken
drohte. Denn sie verhieß eine Wirtschaftshilfe in beispiellosem Ausmaß. Diese
Hilfe setzte neue Energien in Deutschland und Europa frei. Sie ermutigte die
Europäer zum gemeinsamen Handeln. Und sie brach dem Wiederaufbau Bahn.
Über allem stand das Ziel, den „Circulus vitiosus“ zu durchbrechen, wie es
George Marshall nannte: Der Teufelskreis von Aggression, Nationalismus und
Zerstörung, der Europa von einem Krieg in den nächsten getrieben hatte, mußte
endlich durchbrochen werden. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt mußte ein
Ende haben.
Vor den Augen von George Marshall und Harry Truman stand die verhängnisvolle
Geschichte Europas. Schon einmal, 1918, hatte es in Versailles den Versuch
gegeben, dem nationalen Egoismus und der Rivalität der Nationalstaaten durch
eine übergreifende Friedensordnung eine Ende zu setzen. Doch diese Ordnung war
aber nicht auf wirkliche Versöhnung angelegt. Sie bereitete den Nährboden für
das Scheitern der ersten deutschen Demokratie, für Revisionsforderungen, Haß
und neue Zwietracht in Europa. Amerika zog sich enttäuscht zurück.
Machtverfall, Machtvakuum und Machtergreifung folgten Schritt auf Schritt. Es
kam zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.
Männer wie George Marshall und Konrad Adenauer, Winston Churchill, Alcide de
Gasperi und Robert Schuman haben
danach die richtigen Lehren gezogen: Die westlichen Demokratien fanden in
einem einzigartigen Schulterschluß zu Aussöhnung zwischen den Kriegsgegnern,
zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die politische, ökonomische
und militärische Integration in Europäischer Union und Nordatlantischer
Allianz machten dies möglich.
Doch was im Westen zur Blüte trieb, blieb dem östlichen Europa verwehrt. Dort
glitten die Völker von einer Diktatur in die nächste. Die kommunistische
Machtergreifung verweigerte ihnen die Früchte ihrer Befreiung. Der „Eiserne
Vorhang“ ging über Europa nieder. Und die Spaltung Europas ging mitten durch
das deutsche Volk.
Aber die Ordnung von Jalta und Potsdam konnte keinen Bestand haben. Die
Festigkeit der Atlantischen Allianz, der Freiheitswille der Völker im
östlichen Europa, Staatskunst in der Zeit der Wende und die rückhaltlose
Unterstützung unserer amerikanischen Freunde haben Europa die Freiheit und uns
Deutschen die Einheit gebracht. Heute haben wir zum dritten Mal in diesem
Jahrhundert die Chance, die Weichen für unseren ganzen Kontinent richtig zu
stellen. Wir müssen das einige, freie Europa vollenden und auch in Europa
zusammenfügen, was zusammengehört. Wir müssen uns, um es mit den Worten George
Marshalls zu sagen, der Verantwortung stellen, die uns die Geschichte
auferlegt.
II.
Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Wir sind dem Anfang des
nächsten Jahrtausends näher als dem Ende des Kalten Krieges. Jetzt wird die
neue Ordnung Europas politisch entschieden.
Auf dem Gipfel der Nordatlantischen Allianz am 8. und 9. Juli in Madrid
schließen wir endgültig ein Kapitel der Vergangenheit ab. Wir richten die
Allianz auf die Herausforderungen von heute und morgen aus. Die Neue NATO
erhält Profil: In Madrid werden die Staats- und Regierungschefs über die
innere Reform der NATO und damit auch über die Eckwerte der künftigen
Kommandostruktur des Bündnisses entscheiden. Die Allianz wird erste Kandidaten
zu Beitrittsverhandlungen einladen. Zugleich geben wir den Staaten, die nicht
oder noch nicht Mitglied werden, eine klare Perspektive. Schon vor dem Gipfel
wird es wohl eine verbindliche Vereinbarung auf höchster Ebene mit Rußland für
eine weitreichende Sicherheitspartnerschaft geben. Außerdem kommt es zu einer
eigenständigen, besonderen Beziehung zur Ukraine.
Dieser umfassende Ansatz wird in der öffentlichen Diskussion oft auf zu
einfache Fragen verengt: ob die NATO erweitert werden soll, wie man die
Zustimmung Rußlands erreichen kann oder – umgekehrt – warum die Allianz
Rußland so weit entgegenkommt. All diese Fragen greifen zu kurz. Es geht nicht
um Erweiterung oder ein gutes Verhältnis zu Rußland. Es geht nicht um
Schadensbegrenzung, Ausgrenzung oder Isolierung. Das ist die Sprache alten
Denkens, die im Gegeneinander verhaftet ist. Künftig geht es um ein völlig
neues Miteinander in ganz Europa.
Der Schlüsselbegriff unserer Politik lautet Stabilität – eine Stabilität, an
der alle in Europa teilhaben, an der alle gleichermaßen Interesse haben und
die daher Sicherheit in und für ganz Europa schafft. Diese Stabilität hat
nichts mit Stagnation zu tun. Sie ist weit entfernt von der Erstarrung des
Kalten Krieges, die auf einem prekären Gleichgewicht riesiger militärischer
Potentiale beruhte. Und diese Stabilität ist auch etwas völlig anderes als die
überkommene Balance of Power des vergangenen Jahrhunderts mit ihren
wechselnden Koalitionen und dem fatalen Ringen um Einflußzonen und
Vorherrschaft.
Moderne Stabilität greift viel weiter. Sie entsteht dort, wo Demokratie und
Menschenrechte gelten, wo es wirtschaftliche Wohlfahrt und soziale
Gerechtigkeit gibt, wo benachbarte Staaten friedlich und gut zusammenarbeiten.
In Europa wächst Stabilität, wo kleine und große Länder als gleichberechtigte
Partner in gemeinsamen Institutionen integriert sind. Und schließlich schaffen
wir Stabilität durch gemeinsame internationale Krisenvorsorge und
-bewältigung. Unseren Streitkräften kommt dabei eine wichtige, eine neue Rolle
zu.
Denn die existentielle, eindimensionale Bedrohung der Vergangenheit ist ja
verschwunden. Und für die absehbare Zeit wird sie nicht wieder entstehen. Wir
haben keinen militärischen Feind mehr. Aber es gibt eine Fülle neuer,
komplexer Risiken. Der Feind heute heißt Instabilität. Die Krisenherde auf dem
Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten und Nordafrika bergen Gefahren für uns
alle in Europa. Es ist unsere Aufgabe, für Stabilität zu sorgen – in Europa
selbst, aber auch in den angrenzenden Regionen. Denn Sicherheit in und
Sicherheit für Europa gehören untrennbar zusammen.
Die Neue NATO hat also neue Aufgaben. Natürlich bleibt die Allianz zu
kollektiver Verteidigung fähig. Aber sie konzentriert sich jetzt auf
Stabilitätstransfer, auf praktische Zusammenarbeit mit Nicht-NATO-Staaten und
auf internationale Krisenbewältigung in und für Europa. Dafür bekommt das
Bündnis die richtige Struktur – schlank, flexibel und effizient. Wir
verringern die Zahl der Hauptquartiere von 65 auf etwa 25. Die Neue NATO wird
auch den Willen der Europäer zu eigener Handlungsfähigkeit widerspiegeln.
Künftig sind Operationen mit Mitteln und Kräften der NATO unter europäischer
Führung möglich, wenn Nordamerika sich nicht direkt beteiligt. Denn die Neue
NATO reflektiert auch eine neue Partnerschaft zwischen Nordamerika und Europa
– eine Partnerschaft, die sich in einer neuen Teilung von Lasten und
Verantwortung ausdrückt.
Es ist diese Neue NATO, die sich für neue Mitglieder öffnet. Es ist das
selbstverständliche Recht von Polen, Tschechien, Ungarn und den anderen
Staaten, die in die euro-atlantischen Institutionen streben, dem Bündnis ihrer
Wahl beizutreten. Sie gehören seit Jahrhunderten ebenso zu Europa wie
Frankreich, Italien oder Deutschland. Aus den gleichen Gründen, aus denen wir
selbst an der westlichen Werte- und Schicksalsgemeinschaft festhalten, wollen
unsere östlichen Nachbarn Zugang zu ihr finden. Sie wollen am Bau des neuen
Europas gleichberechtigt mitwirken. Sie wollen und sollen Verantwortung
übernehmen.
Es waren mutige Europäer, die auf der Lenin-Werft in Danzig die Revolution im
europäischen Osten einleiteten. Es waren mutige Europäer, die die Grenzanlagen
nach Österreich abbauten und damit den Deutschen im Osten die Freiheit
ermöglichten. Und es waren mutige Europäer, die auf dem Wenzelsplatz in Prag
offen gegen Gängelung und Unterdrückung aufstanden. Solchen Europäern den
Beitritt zu den euro-atlantischen Institutionen zu verwehren – das wäre
unhistorisch und unmoralisch.
Die Öffnung der NATO richtet sich gegen niemanden. Es geht auch nicht um das
Vorschieben von Militärgrenzen im Wettbewerb um Einflußzonen. Es geht vielmehr
darum, dem östlichen Europa die gleiche Stabilität zu geben, die in Westeuropa
selbstverständlich ist. Stabilität in ganz Mitteleuropa dient allen – nicht
zuletzt auch Rußland. Die Öffnung der NATO ist ein schrittweiser, stetiger,
transparenter und umsichtig gestalteter Prozeß, der stets im Konsens der
Bündnispartner vorangetrieben wurde. Er begann im Januar 1994 mit der
grundsätzlichen Entscheidung, daß die Allianz für neue Mitglieder offen ist.
Er wird im Juli 1997 in Madrid nicht enden. Für die Verhandlungen der
Beitrittsprotokolle brauchen wir wohl dieses Jahr, für die Ratifikation in den
Hauptstädten das nächste. Im April 1999, zum 50. Geburtstag der NATO, könnten
dann die Flaggen der ersten neuen Mitgliedstaaten gehißt werden.
III.
Die Tür der Allianz wird auch in Zukunft offen bleiben. Wenn wir sagen, daß
die ersten Mitglieder nicht die letzten sind, meinen wir das auch so. Wir
achten die legitimen Interessen derjenigen, die später oder gar nicht der NATO
beitreten. Wir wollen den Weg zu Freiheit, Marktwirtschaft und
Rechtsstaatlichkeit im östlichen Mitteleuropa unumkehrbar machen. Wir wollen
eine Sicherheitsordnung, in der jeder Staat Europas seinen angemessenen Platz
findet. Wir schaffen den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat. Und wir werden
das erhebliche Wachstumspotential, das noch in der Partnerschaft für den
Frieden steckt, voll ausschöpfen. Jeder Partner bestimmt selbst, wie eng und
intensiv sich die Zusammenarbeit mit dem Bündnis gestaltet.
Wir verfolgen einen breit gefächerten Ansatz, in dem sich die
Erweiterungsstrategien von NATO und Europäischer Union ebenso wie die
Zusammenarbeit auf bi- und multilateraler Basis ergänzen und wechselweise
fördern. So kann ein Stabilitätsgeflecht geknüpft werden, das den Bedürfnissen
aller gerecht wird. Wichtig ist, daß die beiden Prozesse so gesteuert werden,
daß sie sich positiv ergänzen und nicht negativ beeinflussen. Die Öffnung von
Europäischer Union und NATO stehen in einer engen Wechselbeziehung und müssen
auch so gesteuert werden.
Ein gutes Beispiel für regionale Stabilität in Europa ist der Ostseeraum. Im
Rat der Ostseestaaten arbeiten heute alle Anrainer zusammen – Länder mit ganz
unterschiedlichen Voraussetzungen: NATO-Staaten wie EU-Mitglieder, Kandidaten
beider Institutionen und auch Rußland. Wo sich Länder mit gemeinsamen
Interessen und gemeinsamen Zielen zur Mehrung des gemeinsamen Nutzens
zusammenschließen, entsteht mehr Sicherheit, mehr Frieden und mehr Wohlstand
für alle. Der Ostseeraum ist eine europäische Zukunftsregion geworden.
IV.
In diesen Tagen arbeitet die Allianz mit Nachdruck daran, mit Rußland zu einer
weitreichenden Sicherheitspartnerschaft zu kommen und eine vertiefte Beziehung
zur Ukraine zu entwickeln. Wir wollen politisch und militärisch gehaltvolle
Vereinbarungen erreichen, die die jeweilige Rolle und das Gewicht dieser
beiden Staaten für die künftige europäische Stabilitätsordnung widerspiegeln.
Eine unabhängige, demokratische und stabile Ukraine – mit territorialer
Integrität und anerkannten Grenzen – ist für die Stabilität Europas
unverzichtbar. Die Ukraine meistert eine schwierige Gratwanderung – zwischen
wirtschaftlicher Umgestaltung und sozialer Abfederung im Innern, zwischen
westlicher Orientierung und östlicher Vertrauenswerbung nach außen. Das Land
hält eine Balance, den ihr Geographie und Geschichte aufgeben: eine Balance
zwischen Nähe und Distanz – Bündnisfreiheit, verbunden mit partnerschaftlicher
Kooperation. Wir stützen diesen Weg. Dabei können wir auf dem Programm
Partnerschaft für den Frieden aufbauen. Wir wollen eigenständige
Konsultationen begründen, die die Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine
reflektieren. Die NATO will in Kiew ein Informationsbüro einrichten, das der
lebendigen Beziehung zwischen dem Bündnis und der Ukraine sichtbar Ausdruck
verleiht.
Sicherheit und Stabilität in Europa ist nur mit und nicht gegen Rußland zu
haben. Öffnung von NATO und Europäischer Union und Partnerschaft mit Rußland
sind kein Entweder-Oder, sondern zwei Seiten derselben Medaille, nämlich
Stabilität für das ganze Europa, an der Rußland als verantwortungsvoller
Partner teilhaben soll. Wir haben die historische Chance, eine ganz neue, in
die Zukunft gerichtete Beziehung aufzubauen, die Rußland näher an Europa
heranführt als jemals zuvor.
Schon heute übersteigt das Ausmaß unserer Gemeinsamkeit mit Rußland bei weitem
noch bestehende Unterschiede. Der Handel Rußlands mit der Europäischen Union
ist um ein Vielfaches größer als mit allen anderen Schlüsselregionen der Welt.
Rußlands erfolgreiche Integration in die Weltwirtschaft führt über die
Europäische Union. Das fruchtbare Zusammenwirken wird sich noch verstärken,
wenn die Länder Mittelosteuropas in die Europäische Union aufgenommen werden.
Zusammen mit der erweiterten Europäischen Union wird die Neue NATO einen
großen Stabilitäts- und Prosperitätsraum bilden, an den sich Rußland anlehnen
kann.
Auch bei den grundlegenden Herausforderungen der internationalen Politik
stimmen wir in der Analyse der Risiken und Gefahren vielfach überein.
Gemeinsame Interessen machen Kooperation und Mitentscheidung zu einem Gebot
der Vernunft. Im Geiste der angestrebten neuen Partnerschaft und Kooperation
hat die NATO Rußland ein weitreichendes Angebot gemacht, das russischen
Besorgnissen angemessen Rechnung trägt. Wir wollen einen NATO-Rußland-Rat
schaffen. Wenn NATO und Rußland den politischen Willen haben, gemeinsam etwas
zu tun, dann können wir darüber auch gemeinsam entscheiden. Die Allianz will
von sich aus darauf verzichten, auf dem Territorium neuer Mitglieder
Nuklearwaffen oder NATO-Divisionen zu stationieren. Und wir sind bereit, die
Streitkräftehöchststärken in ganz Europa weiter zu senken und weitreichende
Vertrauensbildende Maßnahmen zu vereinbaren.
Das Bündnis hat aber in dreierlei Hinsicht nie einen Zweifel gelassen:
– Die neue, erweiterte NATO muß insgesamt funktionstüchtig bleiben und alle
ihre Aufgaben erfüllen können.
– Neue Mitglieder dürfen keine Mitglieder zweiter Klasse, sondern werden
Mitglieder mit allen Rechten und Pflichten sein.
– Aber: Die Sicherheitsbedürfnisse alter und neuer Mitglieder werden auch
davon bestimmt, wie gut sich die neue Partnerschaft zwischen der NATO und
Rußland entwickelt.
Es ist kein Geheimnis, daß die Verhandlungen mit Rußland in einer
entscheidenden Phase sind. Auch wenn die Verhandlungen schwierig sind, bin ich
zuversichtlich, daß die Staats- und Regierungschefs die Vereinbarung bald
unterzeichnen können.
V.
Die neue Friedens- und Stabilitätsordnung für Europa ist keine graue Theorie.
Im früheren Jugoslawien bewährt sich die Neue NATO bereits ganz konkret. Die
Zusammenarbeit von NATO und 19 Nicht-NATO-Staaten zeigt ganz praktisch, welche
Qualität die Zusammenarbeit schon erreicht hat. Und Rußland ist maßgeblich
beteiligt.
Der Friedenseinsatz in Bosnien und Herzegowina zeigt auch: Die Partnerschaft
für den Frieden ist keine bloße politische Symbolik. Sie wirkt sich ganz
praktisch für den Frieden in Europa aus. In Bosnien und Herzegowina würden wir
heute nicht so gut und wirkungsvoll zusammenwirken, wenn die Streitkräfte der
Allianz und ihrer Partner nicht auf drei Jahren enger Kooperation und
zahlreiche gemeinsame Übungen aufbauen könnten.
Soldaten aus Polen und Ungarn, Tschechien und der Ukraine, Schweden, Litauen
und vielen anderen Ländern nehmen an diesem großen gemeinsamen Friedenseinsatz
von Europäern und Amerikanern teil. Die Staaten Zentraleuropas, die bald neue
Mitglieder werden, können keine bessere Vorbereitung erhalten als durch die
unmittelbare Erfahrung und aktive Teilhabe an der Bündnispraxis der Neuen
NATO. Und auch der gemeinsame Friedenseinsatz von Soldaten Frankreichs und
Deutschlands ist von großer politischer Symbolkraft. Noch vor gut fünfzig
Jahren lagen sich deutsche und französische Soldaten in Schützengräben
gegenüber. Heute sind sie gemeinsam für den Frieden im Einsatz.
SFOR führt die großen Chancen einer engen und vertrauensvollen Partnerschaft
mit Rußland vor Augen. Mit der praktischen Zusammenarbeit in Bosnien und
Herzegowina erleben die russischen Soldaten eine Allianz, die nicht mehr
Bündnis gegen die alte Bedrohung ist, sondern Solidargemeinschaft für die
Bewältigung von neuen Risiken und Gefahren. Die gemeinsamen Patrouillen von
Russen und Amerikanern, die Integration einer russischen Brigade in die
Friedenstruppe und der Dienst eines russischen Generals im Hauptquartier des
NATO-Oberbefehlshabers in Europa – dies war vor wenigen Jahren noch
unvorstellbar. Diese Qualität der Zusammenarbeit gehört immer mehr zur
Normalität im neuen Europa. Sie ist ein Beispiel für die
Sicherheitspartnerschaft, die wir mit Rußland vereinbaren wollen.
VI.
In der Mitte Europas gelegen, haben wir Deutsche ein vitales Interesse an
Frieden und Stabilität für unseren Kontinent. Gerade Deutschland ist besonders
daran gelegen, daß Europa zusammenwächst. Deshalb sind Integration und
Kooperation Prinzipien deutscher Sicherheitspolitik und militärischen
Handelns.
In der Kooperation mit unseren östlichen Nachbarn steht Deutschland ganz vorn.
Mit vierzehn neuen Partnern haben wir Kooperationsprogramme. Umfang und
Intensität wachsen stetig. Allein mit Polen haben wir im letzten Jahr über 80
Vorhaben durchgeführt. Ähnlich dicht ist unsere Zusammenarbeit mit Tschechien
und Ungarn. Dazu gehört die Unterstützung bei der Reform der Streitkräfte und
ihrer Integration in den demokratischen Staat. Grenzüberschreitende
Patenschaften und Soldatenaustausche, Truppenbesuche und gemeinsame
Ausbildung, Seminare und Sportveranstaltungen – das ist Jugendaustausch in
Uniform, der Europa im Alltag wachsen läßt.
Die Einheit Europas muß von den Menschen angenommen und gewollt sein. Sie muß
zu einer Sache der Köpfe und Herzen werden. Das George-Marshall-Zentrum bringt
zivile und militärische Führungskräfte aus ganz Europa und Nordamerika
zusammen. Hier können sie Erfahrungen austauschen, voneinander lernen,
Vorurteile abbauen und Vertrauen gewinnen. Hier entstehen Freundschaften, die
in die Zukunft tragen und Grenzen überwinden. So wächst ganz Europa zusammen
und bleibt Nordamerika in fester Freundschaft verbunden. Das war es, was
George Marshall wollte.