Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Lieber Herr Vasella,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich fand es gut und richtig, Herr Vasella, dass Sie auf den 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hingewiesen haben. Und es ist sicher gewiss, dass die Generation derer, die nach dem Krieg geboren sind, keine Schuld trifft – aber Verantwortung schon. Und alle zusammen stehen wir zu dieser Verantwortung und werden sie wahrnehmen. Diese Verantwortung bedeutet insbesondere, nicht zuzulassen, dass Menschen anderen Glaubens, jüdischen Glaubens zumal, aber auch Menschen verschiedener Herkunft und kultureller Prägungen in Deutschland bedrängt oder gar angegriffen werden. Das ist die Verantwortung, die meine und die künftige Generation hat. Und die internationale Staatengemeinschaft kann sicher sein, dass wir sie wahrnehmen werden. Dies indessen ist nicht das Thema, zu dem ich heute vor Ihnen sprechen soll.

Es wurde darauf hingewiesen, dass es, als wir mit den schrecklichen Bildern der Flutkatastrophe in Südasien konfrontiert worden sind, eine enorme Hilfsbereitschaft gegeben hat. Diese Katastrophe hat uns eindringlich gelehrt, dass die Idee der "einen Welt" eben keine Erfindung von Zukunftsforschern oder Globalisierungsgegnern ist, sondern hat uns gelehrt, dass das, was in anderen Teilen der Welt passiert, ob durch Naturkatastrophen veranlasst oder von Menschen gemacht, unmittelbare Auswirkungen auf unser eigenes Wirtschaften und unser eigenes Leben hat. Ich denke, dass das Motto der Jahrestagung 2005 des Forums genau das zum Ausdruck bringt, also der Versuch einer Antwort ist. Aber worum es natürlich geht, ist nicht, bei dem Motto stehen zu bleiben, sondern sich zu fragen: Was bedeutet das eigentlich für die Akteure in der Welt, für die politischen, aber auch die ökonomischen Eliten und – übrigens nicht zu unterschätzen – die kulturellen Eliten? Was bedeutet das einerseits international und andererseits für die nationalen Gesellschaften? Dazu will ich einige Bemerkungen machen:

Ich bin fest davon überzeugt, Globalisierung enthält für alle mehr Chancen als Risiken. Die Chancen zu mehren und die Risiken zu minimieren, das ist die Verpflichtung der Industriestaaten, der entwickelten Staaten zumal. Und das bedeutet, dass wir den weniger entwickelten Staaten deutlich mehr zu helfen haben als in der Vergangenheit.

Ich möchte gerne einige Punkte nennen, bescheidener als andere, aber deutlich und erfolgsorientiert:

Erstens: Wir dürfen die jetzige Debatte nicht benutzen lassen, um ein zentrales Thema in den Hintergrund treten zu lassen, nämlich das der Marktzugänge für die weniger entwickelten Staaten in die industrialisierten Staaten. Das muss nach wie vor Thema bleiben. Das bezieht sich natürlich auf die Landwirtschaft, wo es immer noch seitens der Industriestaaten Restriktionen gibt, die weg müssen, wo es immer noch Exportsubventionen gibt, die weg müssen. Und das bezieht sich natürlich insbesondere auf die Rohstoffbereiche. Wir müssen dafür sorgen, dass die tarifären und nicht tarifären Hindernisse verschwinden, weil sonst nachhaltige Hilfe, die auf Selbsthilfe beruht und darauf gerichtet ist, nicht möglich ist.

Zweitens: Wir haben seinerzeit bei der von Deutschland verantworteten G8-Tagung in Köln 1999, mit der Entschuldung – und zwar der vollständigen Entschuldung – der ärmsten Länder begonnen. Diese so genannte HIPG-Initiative muss fortgesetzt werden. Das bedeutet natürlich zugleich – und ich bin mir mit vielen Führern aus den Ländern Afrikas, insbesondere mit Thabo Mbeki, aber auch mit anderen einig –, dass die Schuldnerländer Anstrengungen unternehmen müssen, um die zur Verfügung gestellten Mittel vor allen Dingen in Infrastruktur, in Gesundheit und in Bildung zu investieren, und das natürlich das, was man "Good Governance" nennt, auch kontrolliert, von ihnen selbst kontrolliert, auf der Tagesordnung bleiben muss.

Drittens: Ich glaube, unter diesem Aspekt ist auch ein Wort an die Öl produzierenden Länder notwendig. Exorbitant gestiegene Ölpreise, sehr häufig auf Spekulationsvorgänge beruhend, bedrohen ja nicht nur die Entwicklung der Weltwirtschaft, also damit die Chancen der entwickelten Staaten, sondern exorbitant gestiegen sind insbesondere die Ausgaben der Entwicklungsländer für Öleinfuhren. Insofern gibt es auch eine Verantwortung derer, die über diesen Rohstoff verfügen und daraus ja nicht unerhebliche Einnahmen erzielen, diese Hilfsmaßnahmen, von denen ich geredet habe, zu unterstützen. Ich denke, die dramatischen Auswirkungen der Ölpreissteigung auf die Entwicklungsländer dürfen nicht aus den Augen verloren werden. Wir brauchen mehr Transparenz, um spekulative Vorgänge zurückzudrängen. Das wird eines der Themen sein, die wir bei G7/G8 in diesem Jahr in Großbritannien zu diskutieren haben.

Viertens: Wir haben uns auf die Millenniumsziele der Vereinten Nationen verpflichtet. Das haben wir in der Erkenntnis getan, dass Frieden und Freiheit eben nicht Folge von Machtpolitik sind, sondern Folge von Entwicklung. Wir müssen dafür sorgen, dass wir diese Entwicklungsmöglichkeiten auch bezahlen und bezahlen können. Die Aufgaben betreffen insbesondere die entwickelten Staaten, die allesamt mehr oder minder budgetäre Probleme haben. Deswegen stellt sich die Frage: Wie sind angesichts der budgetären Probleme die Millenniumsziele finanziell zu unterlegen? Die britische Regierung hat einen achtbaren Vorschlag gemacht, nämlich eine Internationale Finanzfazilität zu schaffen, mit der man kurzfristig die Erreichung der Millenniumsziele mehr sicherstellen kann, als man das ohne eine solche Fazilität könnte. Ich bin der Auffassung, dass die Vorschläge der britischen Regierung zielführend sind und deswegen ernsthaft diskutiert und im G8-Zusammenhang auch realisiert werden sollten. In Zusammenhang damit stellt sich natürlich nicht nur die Frage, wie man eine solche Fazilität schafft, sondern auch die Frage, wie sie refinanziert wird. Ich bin dankbar für alle Vorschläge, die gemacht worden sind. Aber ein Kaleidoskop unterschiedlichster Vorschläge hilft uns deshalb nicht weiter, weil bei einer solchen Vielzahl von Vorschlägen die Gefahr besteht, dass man sie im G8-Zusammenhang zur Kenntnis nimmt, sich auf keinen richtig einigt und dann die Entscheidung über eine solche Fazilität verschiebt. Das indessen darf nicht die Konsequenz sein. Thabo Mbeki und ich sind deswegen auch einig in dem Ziel, dass wir den Versuch machen müssen, diese Fazilität auf die Beine zu stellen und einen machbaren Finanzierungsvorschlag auch im G8-Zusammenhang zu beschließen. Wenn es gelänge, jene Finanzströme, hinter denen realwirtschaftliche Vorgänge so gut wie überhaupt nicht mehr stehen, zur Finanzierung heranzuziehen, und wenn sich die Staatengemeinschaft darauf einigte, wäre das eine Möglichkeit, eine solche Finanzierung hinzubekommen. Wenn im Vorfeld sichtbar wird, dass das nicht gelingt, müssen andere Wege gegangen werden. Deutschland ist bereit, sich an dieser Debatte zu beteiligen. Und, wie wir so sind, pflegen wir nicht zu diskutieren, sondern auch auf Entscheidungen zu drängen und die Konsequenzen von Entscheidungen, auch die materiellen, selbst zu tragen.

Internationale Verantwortung resultiert aus wirtschaftlicher Stärke, nicht aus wirtschaftlicher Schwäche. Das ist der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung internationaler Verantwortung einerseits und der Sorge dafür, die eigene Volkswirtschaft auf einen optimalen, auf einen möglichst starken Stand zu halten und, wo immer das nötig ist, zu bringen. Genau dieser Zusammenhang ist auch der Hintergrund für die Reformprozesse, die wir in Deutschland eingeleitet haben. Herr Vasella hat deutlich werden lassen: Wir tun das, weil wir mit zwei Gegebenheiten konfrontiert sind, denen wir nicht ausweichen dürfen.

Die erste ist mit dem Begriff der Globalisierung zu beschreiben, also durchaus ein Bruch mit den bisherigen Möglichkeiten, im nationalen Zusammenhang wirtschaftliche Kraft des Landes zu stärken. Diese Möglichkeiten sind stark reduziert.

Die zweite, noch entscheidendere Herausforderung besteht in dem sich verändernden Altersaufbau in den Gesellschaften aller europäischen Länder, also der Demographie. Auf diese Herausforderungen gilt es zu reagieren. Zunächst einmal ging es in Deutschland darum, jene sozialen Sicherungssysteme, die für Prosperität gesorgt haben, die den Menschen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte über lange Zeiten ein ungeheures Maß an sozialer Sicherheit gewährleistet haben, neu zu justieren, damit sie angesichts der Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft ihre Funktion auch in Zukunft noch ausüben können. Und es ging insbesondere um drei Bereiche:

Erstens: Wir haben ein System der Alterssicherung, das auf Beiträgen basiert, die aus den Unternehmen kommen und von den Beschäftigten in den Unternehmen gezahlt werden. Angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt sind diese Systeme – so finanziert – unter einen ungeheuren Finanzierungsdruck geraten. Es bestand also die Aufgabe, neben der Umlagefinanzierung ein System der Kapitaldeckung aufzubauen. Das haben wir getan. Und um sozial Schwächeren die Möglichkeit zu geben, Kapitaldeckung aufzubauen, haben wir dafür gesorgt, dass diese staatliche Hilfe bekommen. Es ging darum, eine neue Balance zu schaffen zwischen der Alterssicherung über kollektive Systeme einerseits und der eigenen Vorsorge andererseits. Wir sind auf einem guten Weg. Und die internationale Kritik bescheinigt uns auch, dass dieses Mischsystem wahrscheinlich besser ist als reine Umlagesysteme einerseits und reine Kapitaldeckungssysteme andererseits. Wir werden im Zusammenhang mit der Altersvorsorge das reale Eintrittsalter in die Rente, das bei uns bei etwa 60 Jahren liegt, deutlich nach oben bringen müssen – vor allem eine Aufgabe der Unternehmen in Deutschland.

Zweitens: Wir haben in Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme, das es weltweit gibt. Wie wir unabhängig vom persönlichen Einkommen jedem die medizinische Versorgung garantieren können, die zur Heilung oder Linderung von Krankheiten medizinisch geboten ist – das ist ein System, das sehr gut ist, das nur einen einzigen Schwachpunkt hat: Es ist zu teuer. Mit diesem Schwachpunkt werden wir uns auseinandersetzen müssen. Wir können das nur auf eine ähnliche Weise wie bei der Alterssicherung auch tun: Wir brauchen eine neue Balance zwischen Solidarität, also dem, was über die Kassen finanziert wird, und eigener Vorsorge. Und wir haben Entscheidungen dafür getroffen, die natürlich Belastungen mit sich bringen, die wir aber zumuten mussten, um das System funktionsfähig zu halten. Diese Belastungen bedeuten zum Beispiel, dass Ausgaben fürs Krankengeld von den Betroffenen selber getragen werden. Das Gleiche gilt für andere Leistungen in diesem System. Wir werden die Leistungen nicht reduzieren, aber wir müssen sie anders finanzieren. Das ist nicht einfach durchzusetzen. Und wir haben zu einem Steuerungsmittel greifen müssen, um eine Überbeanspruchung des Systems zu verhindern. Dieses Steuerungsmittel heißt: Gesundheit hat einen Preis. Und man muss sich an dem Preis, der Gesundheit kostet, auch selber beteiligen.

Drittens: Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinander zu setzen, und nicht nur mit den Berichten über die Gegebenheiten. Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl es das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann. Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Es hat erhebliche Auseinandersetzungen mit starken Interessengruppen in unserer Gesellschaft gegeben. Aber wir haben diese Auseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher, dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird. Dieses System zwischen Fördern der Qualifikation und Fordern der Leistung von denen, die leistungsfähig sind, wird nach einer Übergangszeit auch zu einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland führen.

Diese so genannte "Agenda 2010" hat eine positive Kehrseite: Wir haben die Veränderung der sozialen Sicherungssysteme auch gemacht, um Ressourcen frei zu bekommen für die großen gesellschaftlichen Investitionen.

Die erste heißt Forschung und Entwicklung. Unter den großen europäischen Volkswirtschaften sind wir an der Spitze mit rund zweieinhalb Prozent, was die Ausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt angeht. Die Skandinavier sind deutlich darüber, und da müssen wir hin. Wir müssen also von Vergangenheitssubventionen hin in Zukunftsinvestitionen umsteuern.

Zweitens: Wir brauchen ein Bildungssystem, das wie unseres nicht nur in der Breite erstklassig ist. Wir sind, was den Zugang für so genannte bildungsfernere Schichten angeht, besser als die meisten anderen Länder. Wir müssen jedoch besser werden bei der Exzellenz, und wir müssen deswegen Exzellenz-Förderung nicht nur in den universitätsunabhängigen Forschungsinstituten betreiben – was wir mit großen Erfolg tun –, sondern auch an den Universitäten selber.

Drittens: Wir werden unseren Platz in der Spitze der Weltwirtschaft nur aufrecht erhalten können, wenn wir sehr viel stärker Frauenerwerbstätigkeit fördern. Und dies wird nur gehen, wenn wir den qualifizierten Frauen die Möglichkeit eröffnen, Familie und Beruf über Betreuung von Kindern besser miteinander zu vereinbaren als das gegenwärtig der Fall ist.

Dieses Programm, das wir gegen erheblichen gesellschaftlichen Widerstand durchgesetzt haben, beginnt zu wirken.

Erstens: Wir haben seit Jahren in Deutschland eine stagnierende Lohnstückkosten-Entwicklung. Gut für Investitionen in diesem Land.

Zweitens: Wir haben immer noch eine der besten Infrastrukturen, die weltweit verfügbar sind.

Drittens: Deutschland hat über eine qualifizierte berufliche und sonstige Ausbildung ein Potenzial an hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, was seinesgleichen in der Welt sucht.

Viertens: Wir haben ein universitäres System, das Chancen eröffnet und das wir vervollständigen und verbessern werden.

Fünftens: Wir haben kreative Unternehmer ebenso wie leistungsbereite Arbeitnehmer. Die Ergebnisse, die wir in der internationalen Konkurrenz, im Export vorzeigen können, sind kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke. Denn wir haben in der Phase der Stagnation nicht Marktanteile verloren, sondern Marktanteile gewonnen.

Die Vorteile, die ich ihnen genannt habe, sind zustande gekommen ungeachtet der Tatsache, dass wir jährlich bis einschließlich 2019 rund vier Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes zur Herstellung der ökonomischen und sozialen Einheit unseres Landes von West nach Ost transferieren. Keine andere Volkswirtschaft der Welt muss das. Ungeachtet dieser Tatsache glaube ich, dass wir unter Beweis gestellt haben, dass Deutschland in der Lage ist, sich zu bewegen und ein Investitionsstandort ist, an dem es sich lohnt zu investieren und zu arbeiten. Und wir ein Land und Menschen sind, denen es um die Wohlfahrt des eigenen Landes geht, wir aber die Wohlfahrt des eigenen Landes auch als Voraussetzung begreifen, für mehr Gerechtigkeit in der Welt effizient und nachhaltig eintreten zu können.