Rede des Bundesministers der Finanzen, Peer Steinbrück,

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"Die Krise als Zäsur"

Lieber Klaus von Dohnanyi,
liebe Christina Rau,
sehr geehrte Frau Schiller,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich will – das ist vielleicht etwas ungewöhnlich – mit dem Bekenntnis beginnen, dass es schon bedrückend ist, wenn man kurz vor dem Ziel eine historische Marke nicht erreicht. Ohne diese Finanz- und Wirtschaftskrise wäre es gut möglich gewesen, dass der Bundeshaushalt 2011 eine Nettoneuverschuldung von Null ausgewiesen hätte.

Wir müssen uns eingestehen, dass dieses Ziel in weite Ferne gerückt ist, was mich umso mehr bedrückt, als dieses Ziel, die Neuverschuldung des Bundes auf Null zu reduzieren und dann darüber Schritt für Schritt auch die Schuldenstandsquote in Deutschland zu reduzieren, nie Selbstzweck gewesen ist, sondern immer politische Überzeugung – und zwar unter der Überschrift einer größeren Generationsgerechtigkeit, weil wir sonst unseren Kindern und Enkelkindern einen Kapitaldienst als Wackersteine in den Rucksack legen, mit dem wir sie auf die Wegstrecke des Lebens schicken.

Und zweitens: Was bedeutet diese galoppierende Staatsverschuldung für die Handlungsfähigkeit des Staates? Davon wird heute unter anderem in meinen Ausführungen die Rede sein.

Deutschland hat in den vergangenen Jahren zu einer neuen Stärke zurückgefunden. In der Überwindung der letzten Konjunkturkrise haben wir es plötzlich mit Entwicklungen zu tun gehabt, die viele für unmöglich gehalten haben. Wir haben die Arbeitslosigkeit in wenigen Jahren erheblich gesenkt, fast um zwei Millionen. Das gesamtstaatliche Defizit betrug 2008, trotz erster Wehen der Finanzmarktkrise, fast eine schwarze Null – genau minus 0,1 Prozent.

Wir haben das Wachstumspotenzial in Deutschland deutlich gesteigert. Wir haben dazu beigetragen, dass die Sozialversicherungskassen plötzlich Reserven hatten. Wir haben die Wettbewerbsfähigkeit vorangetrieben, gerade im Vergleich auch zu anderen europäischen Ländern. Und all diese Sätze, die viele von Ihnen auch zu Beginn dieses Jahrzehnts im Munde hatten nach dem Motto "der kranke Mann", in einer fast historischen Analogie gegenüber demjenigen, der am Bosporus mal so bezeichnet worden ist, gibt es nicht mehr.

Diese Wegstrecke, die sehr erfolgreich gewesen ist mit Blick auf die Haushaltskonsolidierung und der gleichzeitigen Bereitschaft, Impulse für notwendige Zukunftsinvestitionen zu setzen – die Mehreinnahmen also nicht nur zur Konsolidierung zu verwenden, sondern auch für Forschung und Entwicklung, auch für Entwicklungshilfe, auch für die Betreuung von Kindern, auch für die Familienförderung in Deutschland –, dieser Weg ist sehr abrupt, in kürzester Zeit, durch die schwerste Rezession seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland abgestürzt.

Ich glaube, dass "Krise" – obwohl ich diesen Begriff mehrfach benutzen werde – eine unzureichende Beschreibung dessen ist, was wir gerade erleben, nicht nur bei uns, sondern weit darüber hinaus. Meine Einschätzung ist: wir haben es hier mit einer tief greifenden Zäsur, ja mit einer Epochenwende zu tun. Wenn Sie mich nach Indizien fragen, beginne ich mit dem Hinweis auf die Größenordnungen der staatlichen Intervention – Kapitalspritzen, Bürgschaften, Beteiligungen, Konjunkturprogramme. Eine Milliarde ist plötzlich die kleinste Recheneinheit geworden!

Die Konjunkturprogramme, die Sie weltweit verfolgen können, spielen sich teilweise in der Dimension von zwei bis drei Prozent des jeweiligen Bruttosozialprodukts ab. 800 Milliarden US-Dollar für weitere Maßnahmen nehmen wir relativ lässig zur Kenntnis, ebenso, dass Japan ein weiteres Konjunkturprogramm, wahrscheinlich in der Dimension von 80 bis 90 Milliarden US-Dollar, vom Stapel lässt. Und die Maßnahmen, die wir zur Abschirmung des Bankensektors allein in Deutschland in der Dimension von 500 Milliarden Euro ergreifen, sind kaum erklärbar und für das normale Publikum nur sehr schwer zu verdauen.

Ein zweites Indiz ist die Erschütterung der weltweiten Finanzarchitektur. So etwas hat es unter den globalisierten Bedingungen noch nie gegeben! Ganze Bankensysteme verändern sich, und ich sage voraus: auch in Deutschland. In drei vier Jahren wird es mindestens im öffentlich-rechtlichen Kreditwesen mit Blick auf die Landesbanken total anders aussehen als heute.

Viele von Ihnen sind mit mir an die Wall Street gepilgert, zu den Meistern des Universums. Das waren die Investmentbanken. Heute gibt es keine einzige Investmentbank mehr an der Wall Street! Sie sind entweder pleite, haben sich verheiratet oder haben sich fortentwickelt in eine Universalbank. Aber es gibt keine dieser klassischen Investmentbanken mehr, die in der Krise zunehmende Schwierigkeiten hatten, sich auf den Kapitalmärkten zu refinanzieren – eben nicht über die Einlagen von Sparern, über den altmodischen, konservativen Weg.

Ein weiteres Indiz sind politische Veränderungen. Ich bleibe bei meiner Einschätzung, dass die Ursachen und Auswirkungen dieser Krise auch – nicht nur, aber auch – dazu beigetragen haben, dass Barack Obama zum Präsidenten der USA gewählt worden ist. Das war auch die Abwahl eines Denkens und Handelns ohne Maß und Mitte in den USA, und das nicht nur mit Blick auf die Finanzmärkte.

Über diese Indizien hinaus will ich auf vier Wahrnehmungen zu sprechen kommen, die mir unterbelichtet erscheinen, von denen wenig die Rede ist, von denen ich aber glaube, dass sie zu tief gehenden Verstörungen und Erschütterungen geführt haben.

Viele reden inzwischen von einer Sinnkrise und einem Mentalitätswandel. Die jedenfalls lange bei manchen vorhandene "Bereichert-Euch!"-Mentalität ist im Schwinden oder sie wird nicht mehr so explizit vor sich her getragen.

Ein Journalist aus der SZ, Jörg Häntzschel, schrieb: "Mit der Rezession geht in Amerika die Ära des Exzesses zu Ende, der die Nation über alle politischen Gräben hinweg so wunderbar geeint hatte. Ein Mentalitätswandel ist im Gange, der nachhaltigere Folgen haben wird als die ideologischen Verirrungen unter Bush oder die Wahl eines schwarzen Präsidenten. ... Prassen, eben noch in jedem zweiten Hip-Hop-Song zum Synonym von Macht, Potenz und Sex erklärt, ist nun peinlich."

Oder Wendelin Wiedeking in Deutschland: "Noch wichtiger aber ist, die ökonomische Krise als eine fundamentale Sinnkrise zu erkennen. Sie markiert das definitive Ende des Finanzmarktkapitalismus, wie er insbesondere in den angelsächsischen Ländern propagiert wurde." Ein relativ unverdächtiger Kronzeuge!

Jedenfalls hat etwas stattgefunden, was wir lange nicht für möglich gehalten haben, nämlich dass die angeblich selbstregulierende und selbstdisziplinierende Kraft der Märkte falsifiziert worden ist. Exzesse, Spekulation und sich selbst verstärkende Prozesse stellen zwar nicht die Legitimation der Marktwirtschaft in Frage, da sind wir einig, aber wohl diejenige einer radikalen Marktideologie.

Dem entspricht spiegelbildlich inzwischen eine Renaissance des Staates beziehungsweise der Koordination souveräner Staaten in internationalen Organisationen, die aufgefordert werden, nun ein Regelwerk zu erstellen, sozusagen Verkehrsregeln zu entwickeln. Antworten auf diese Krise werden in einer übergeordneten, demokratisch oder international legitimierten, nicht Einzelinteressen folgenden Instanz oder Institution gesucht.

Und dies folgt der Erkenntnis, dass der Staat oder die Staatengemeinschaft offenbar die Rechnung begleichen müssen, wenn die Märkte versagen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Ich glaube, in einem leichten Unterschied zu dem, was Klaus von Dohnanyi gesagt hat, dass die angloamerikanische Blaupause des Verständnisses von Markt und Globalisierungen und auch ihre Spielanleitungen zwar nicht ihre Bedeutung, aber doch ihre Dominanz verlieren werden.

Die Welt wird – nicht in einem abrupten Prozess, aber sukzessive – multipolarer in dem Augenblick, in dem die großen Finanzzentren, die dominierenden Finanzzentren von Wall Street und der City of London, ihre Deutungshoheit verlieren.

Ich will in dem Zusammenhang auf einen ganz bemerkenswerten Vorgang eingehen, der von vielen gar nicht wahrgenommen worden ist. Zwei Tage, bevor die Kanzlerin und ich zum G20-Treffen nach London gefahren sind, veröffentlichte der chinesische Zentralbankgouverneur Zhou einen Essay mit dem Titel "Die Reform des internationalen Währungssystems".

Der Titel ist noch gar nicht so Aufmerksamkeit heischend, sondern die Quintessenz des Essays. Und die Quintessenz des Essays war die Infragestellung des US-Dollar als Weltleitwährung. Und: Plötzlich sorgt sich China um den Wert seiner riesigen Währungsreserven, die vornehmlich in den USA angelegt sind.

Was passiert, wenn die Chinesen den Eindruck gewinnen, dass die Amerikaner die Integrität ihrer Finanzmärkte nicht wieder herstellen können, dass möglicherweise mittelfristig eine Inflation die Werthaltigkeit ihrer Anlagen immer weiter negativ berührt und sie eine weitaus diversifiziertere Anlagenstrategie ihrer ungeheuren Währungsreserven betreiben, die sie haben – nahezu 2.000 Milliarden US-Dollar?

Gibt es erste Tendenzen dafür, haben wir Indizien, dass es langsam eine solche Umorientierung gibt, wenn wir erste Zahlen gehört haben, dass möglicherweise ein chinesischer Staatsfonds oder andere chinesische Finanzinstitutionen früher vielleicht bei Fannie Mae oder Freddie Mac mit 400 oder 500 Milliarden Dollar engagiert waren und vielleicht diese Einlagen inzwischen reduziert haben?

Und schließlich gibt es noch eine weitere, wie ich glaube, höchst relevante Frage, einen sehr weichen, aber höchst relevanten Faktor, den ich als Indiz dafür heranziehen möchte, dass da eigentlich eine Zäsur und nicht bloß eine Krise abläuft: das ist das schleichende Gift des Vertrauensentzuges, eines Vertrauensentzuges im Interbankenverkehr und darüber hinaus auch bei Konsumenten und Investoren.

Das sind einige Wahrnehmungen, die dazu führen sollten, die Krise nicht als etwas zu behandeln, was wir schon ein paar Mal gesehen haben. Was da stattfindet, haben wir bisher nicht gesehen.

Die Vorgeschichte dieser Entwicklung muss ich Ihnen nicht lange erklären. Ich kann sie Ihnen kurz und prägnant darstellen. Die Vorgeschichte dieser Krise ist eine Kombination der Politik des billigen Geldes maßgeblich in Folge des Terroranschlages vom 11. September 2001, des Paradigmas der Deregulierung – und ich rede wirklich von einem Paradigma! – und einer unsäglichen Renditejagd, die von einer Risikoillusion begleitet wurde.

Und viele von uns waren daran beteiligt. Maß und Mitte, der Sinn für Proportion ist verloren gegangen. Bei Managern ist er verloren gegangen mit Blick auf ihre Vorstellungen von festen und variablen Gehältern, von Bonuszahlungen, von Abfindungen, aber auch mit Blick auf ihre Bezahlungen im Verhältnis zu den "Normalbeschäftigten".

Hatten wir in den 50er oder 60er Jahren eine Situation, in der der Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens vielleicht im Verhältnis 40 zu eins besser gestellt war gegenüber dem Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dann dürfte es inzwischen durchaus üblich sein, dass dieses Verhältnis auf 300 zu eins oder sogar 350 zu eins angewachsen ist. Hat das etwas mit unserer Vorstellung einer Bezahlung nach Leistungsfähigkeit zu tun? Und wie wirkt das auf die Vielzahl derjenigen, die diese Entwicklung beobachten können?

Aber dieser Sinn für Maß und Mitte, für Proportionen und Gleichgewicht, ist nicht nur bei den Finanzmarktakteuren, bei den Anbietern der Produkte verloren gegangen, er ist auch bei uns Anlegern verloren gegangen in unserer Fixierung darauf, dass außergewöhnlich hohe Renditen bei minimalem Risiko zu erzielen sind. Und plötzlich stellen wir fest: wenn sich solche Anleger verzockt haben, was tun sie dann? Sie rufen nach dem Staat!

Ich will noch einige Worte darauf verwenden, wie eine Politik des billigen Geldes und das Paradigma der Deregulierung zur jetzigen Situation beigetragen haben. Dafür steht eine Symbolfigur, die hoch respektiert ist, vielleicht nicht mehr ganz so wie vor einigen Jahren, und die einige von uns kennen: Alan Greenspan.

Seine These lautete: größtmögliche Flexibilität der Wirtschaft durch weitgehenden, ja jedweden Verzicht auf staatliche Einflussnahme. Für Greenspan gab es eigentlich nur zwei Alternativen.

Erstens: Auf weitgehend befreiten, auf geradezu entfesselten Märkten sollten maximale Renditen erzielt werden und dafür eben auch große Risiken in Kauf genommen werden, die gegebenenfalls durch eine Krise zu bereinigen sind.

Und die zweite Möglichkeit hieß bei ihm: Eine allenfalls marginale wirtschaftliche Expansion der Wirtschaft auf streng regulierten Märkten, in der Tat ohne das Risiko scharfer Einbrüche, aber eben auch ohne große Wachstumsperspektiven.

Er meinte damit zweifellos Frankreich oder Deutschland, jedenfalls einen von den beiden. In dieser Deutungshoheit fanden er und andere wichtige Protagonisten aus dem angelsächsischen Bereich auch in Europa und in Deutschland viele Epigonen und viele Beförderer eines Marktradikalismus.

Ich will, damit ich nicht missverstanden werde, mit einer Selbstkritik beginnen. Ja, auch die Politik hat sich in Deutschland dieser Deutungshoheit mit dem politischen Backing aus der Thatcher- und aus der Reagan-Ära lange und weitgehend ergeben.

Dabei spielten in Deutschland immer auch Fragen eine Rolle, wie Frankfurt als größter Bankenplatz in Deutschland einigermaßen Anschluss halten kann an die anderen großen Finanzzentren, insbesondere an London und New York. Wir waren immer geprägt von dieser Haltung und von der nicht ganz unberechtigten Frage, ob es sich eine der größten Realökonomien auf Dauer leisten kann, einen weitgehend nicht proportional entwickelten, sondern einen unterentwickelten Finanzsektor zu haben.

Diese beiden Orientierungen – wie halte ich Frankfurt einigermaßen auf Augenhöhe mit London und New York und wie trage ich dazu bei, dass eine der größten Realökonomien mindestens einen gleichwertigen Finanzdienstleistungssektor hat? – waren Motor dafür, dass wir über die Jahrhundertwende hinaus offen für Marktliberalisierungen und für die Innovation von Finanzprodukten waren!

Kritikern dieser Politik halte ich allerdings entgegen, dass sie vergessen machen, in welchem Ausmaß mindestens in den letzten zehn Jahren Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsjournalismus und Verbände, Multiplikatoren und auch ideologische Träger einer weitergetriebenen Marktradikalismus und der Deregulierung waren – und einige es bis auf den heutigen Tag sind!

Wir waren umzingelt von diesbezüglich orientierten Wirtschaftswissenschaften und auch einem Wirtschaftsmagazin-Journalismus, der sich doch nie in den letzten zehn Jahren für eine Initiative für mehr Regulierung eingesetzt hat oder gar meine Partei dahingehend motiviert hat.

"Rules are for fools!" – das war die Devise dieser Marktversessenheit und Staatsvergessenheit. Ich will an die Tendenz erinnern, die bei der Betrachtung des Staates und auch seiner Inanspruchnahme von Ressourcen, vorherrschend war, nämlich ihn als ineffizient, als zu langsam und immer als unzureichend zu diffamieren und zu diskreditieren.

Die politische Kompromissfindung ist im Vergleich zur Dynamik des Marktes sehr abfällig beurteilt worden. Die politischen Entscheidungsprozesse waren immer zu langsam, die Zeitökonomie in der Politik, in den Parlamenten und auch in der Exekutive war mit Blick auf die ungeheure Dynamik des Marktes immer unzureichend. Kompromissen wurde meistens der Geruch von etwas Faulem angeheftet. In meinen Augen ist der Kompromiss etwas konstitutiv Notwendiges in einer Demokratie im Sinne eines Interessenausgleiches.

Vor diesem Hintergrund halte ich es für einen schlechten Witz, dass heute ausgerechnet diejenigen, die das Krisenmanagement der Bundesregierung am lautstärksten kritisieren nach dem Motto "Haltet den Dieb!", nachweislich die eilfertigsten Protagonisten und Verfechter dieses Paradigmas der Deregulierung in den letzten Jahren gewesen sind.

Das Ergebnis ist heute ein Flächenbrand. Übersprungseffekte gibt es in mehrfacher Hinsicht. Zunächst von einem Hypothekenmarkt zweit- oder drittklassiger Güte auf alle anderen Finanzmärkte in einer Geschwindigkeit, die wir uns kaum haben vorstellen können.

Es gibt inzwischen auch einen Übersprungseffekt von westlichen Industriestaaten auf Schwellenländer und auf Entwicklungsländer, was für lange Zeit ausgeschlossen wurde. Und es gibt einen Übersprungseffekt von der Finanzwirtschaft auf die Realwirtschaft mit der Folge des schärfsten weltweiten Einbruches der Konjunktur seit dem Zweiten Weltkrieg. Morgen werden die wirtschaftswissenschaftlichen Institute ihre neue Jahresprojektion öffentlich machen. Die Bundesregierung steht in der Pflicht, dem Ende April nachzufolgen.

Ich werde Ihnen jetzt keine Zahlen präsentieren können, aber es wird deutlich schlechter als die bisher von uns prognostizierten minus zweieinviertel Prozent. Vielleicht erinnern sich viele von Ihnen, was die bisher schlechteste Wachstumsentwicklung in der Geschichte der BRD war: Das waren 1975 minus 0,9 Prozent. Da ging es um die Stelle nach dem Komma.

Ich halte diese Krise auch deshalb für eine Zäsur, weil sie ausweist, dass unkontrollierte ökonomische Märkte nicht nur zu einer unvorstellbaren Wertvernichtung führen können, ja, dass sie sich sogar fast auf autoaggressive Art und Weise selbst zerstören können, sondern weil sie auch zu sozialen und politischen Instabilitäten führen können, die wir bisher in unserem Repertoire so jedenfalls nicht parat hatten.

Vertrauen als eine der wichtigsten Kategorien für eine Erholung müssen sich die Märkte und ihre Teilnehmer plötzlich von demjenigen leihen, dem sie vorher in ihrem ordnungspolitischen Weltbild am meisten misstraut haben: dem Staat.

Das Gegenteil von Marktversessenheit und Staatsvergessenheit ist Staatsgläubigkeit und Wirtschaftsplanung. Das Risiko eines solchen Pendelausschlags ist nicht von der Hand zu weisen. Der Staat wird plötzlich als Heilsbringer gesehen, der den faustischen Pakt zwischen Investmentbanken und dem Geld auflösen soll, der für alle da sein soll, der alles lenken und der alles bestimmen soll.

Eine solche Antithese ist möglich. Einige fühlen sich auch in ihrer Kapitalismustheorie historisch bestätigt. Dem setze ich entgegen, dass das realsozialistische Staatsversagen des 20. Jahrhunderts – politisch, ökonomisch und moralisch – ebenso total wie seine Ideologie totalitär war. Das heißt: wir reden über eine Legitimationskrise der Marktideologie, aber definitiv nicht der sozialen Marktwirtschaft, die uns in Deutschland in den letzten 60 Jahren ein unfassbares Maß an individueller Freiheit, ökonomischem Wohlstand und sozialem Ausgleich gebracht hat.

Ich zitiere Nikolaus Piper aus der Süddeutschen Zeitung, der, wie ich finde, vor wenigen Tagen zutreffend gesagt hat: "Antikapitalistische Rhetorik macht alles schlimmer, weil sie Lösungen suggeriert, die es nicht gibt." Es gilt allerdings auch, dass die Rückkehr zum Status quo ante, zum Paradigma dieser Deregulierung eben keine ökonomische, soziale und politische Stabilität gewährleistet. Darin liegt die Epochenwende.

Die ordnungspolitische Debatte in Deutschland muss, wie ich finde, aus der antagonistischen Betrachtung von Markt und Staat herausgeführt werden. Das fällt uns Deutschen in unserer nachwirkenden idealistischen Schulung schwerer als anderen Gesellschaften.

Gerade weil ich einige Hinweise gegeben habe auf die Veränderungen bei den Turbokapitalisten des 21. Jahrhunderts auf dem angloamerikanischen Sektor ist ja mit umso größerem Erstaunen festzustellen, wie pragmatisch dieser im Zweifelsfalle mit ordnungspolitischen Fragen umgeht. Oder können Sie sich vorstellen, dass das Ausmaß an Verstaatlichung von britischen Banken hier in Deutschland so gelassen und unaufgeregt akzeptiert werden würde, wie das in Großbritannien der Fall ist?

Ich habe an anderer Stelle auch schon mal erzählt, dass es für mich von großer Bedeutung war, als ich das erste Mal Fotos von einer Schlange vor einer britischen Bank sah, vor einer Filiale von Northern Rock. Da fiel mir die Vorstellung ausgesprochen schwer, dass vor der Filiale einer deutschen Bank oder einer deutschen Sparkasse eine Schlange von Menschen steht, die ihr Geld abholen wollen aus Unsicherheit, um es zu Hause unter die Matratze zu legen.

Vor dem Hintergrund der historischen Traumata dieses Landes im 20. Jahrhundert – 1923, 1929/30, ich lasse die Zeit von Adolf Nazi weg, Währungsreform 1948 und eine weitere Währungsreform für 17 Millionen Deutsche vor gar nicht so wenigen Jahren – wäre die Wirkung einer solchen Schlange, begleitet von den Fotos aus den genannten Jahren, eine ganz andere als zum Beispiel in Großbritannien.

Hat irgendjemand zur Kenntnis genommen, dass eine der – jedenfalls vor zwei Jahren nach der Börsenkapitalisierung – größten europäischen Banken, die Royal Bank of Scotland, inzwischen zu 70 oder 80 Prozent verstaatlicht ist? Dito einige andere amerikanische Institute?

Die Bezichtigung der SPD, sie wolle einen Bevormundungsstaat, brauchen offenbar politische Wettbewerber, um sich selber zu definieren. Die zutreffende Linie ist längst und maßgeblich von Karl Schiller und heute auch von Klaus von Dohnanyi gezeichnet worden: "So viel Markt wie möglich und soviel Staat wie nötig." Und die Beweislast liegt in der Tat beim Staat.

In meinen Worten: Der Staat muss auf Augenhöhe mit der freien Wirtschaft bleiben, denn er wird sonst erpressbar. Erpressbar in dem Sinne, dass ihm im weltweiten Wettbewerb um die Wohlstandsvermehrung immer weitere Standardherabsetzungen und eine immer weitere Entgrenzung abverlangt werden.

Das haben wir erlebt. Und er wird auch in dem Sinne erpressbar, dass er in krisenhaften Zuspitzungen Verluste sozialisieren soll, siehe die Rettungsschirme für Banken oder auch den Ruf nach Beteiligungen bei Unternehmen der Güterwirtschaft, nachdem zuvor in den guten Zeiten bemerkenswert hohe Gewinne privatisiert worden sind, die selbstverständlich niedrigst zu besteuern waren.

Das derzeitige nationale und internationale Krisenmanagement ist Ihnen geläufig. Deshalb werde ich nur wenig darauf eingehen. Die Frage nach der Messbarkeit des Krisenmanagements, seiner Wirkungskraft und seines Erfolges, lässt sich nicht beantworten. Warum nicht?

Wie will man messen, ob man gegebenenfalls Schlimmeres verhindert hat? Sicher scheint mir, dass noch so groß dimensionierte Konjunkturprogramme eine Rezession dieser Größenordnung nicht werden verhindern können – allenfalls mindern, eindämmen, verkürzen.

Und sicher scheint mir auch, dass ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das über 40 Prozent seines Bruttosozialprodukts in Im- und Exportbeziehungen generiert, noch so groß dimensionierte Konjunkturprogramme entwickeln kann, ohne sich dem globalen Trend entziehen zu können.

Ich will Ihr Augenmerk auf einige versteckte Probleme richten. Vielleicht sollte ich sagen: auf einige Gespenster von morgen, um Sie zu beunruhigen.

Das sind fünf Gespenster:

Mich interessieren erstens die mittelfristigen Auswirkungen der staatlichen Kreditfinanzierungen und die enorme Liquidität, die in die Märkte gepumpt worden ist.

Zweitens: Die ungelösten globalen Ungleichgewichte.

Drittens: Die Belastung der sozialen Sicherungssysteme.

Viertens: Das Phänomen, dass von der Krise inzwischen souveräne Staaten betroffen sind.

Und fünftens will ich einige Worte darüber verlieren, was ich eine gesellschaftliche Legitimationskrise nenne. Das heißt, ich will nicht nur die ökonomischen Kosten, sondern auch die gesellschaftlichen Kosten dieser Krise ansprechen.

Beginnen wir mit dem ersten Aspekt. Angesichts der enormen Konjunkturpakete – Zahlen erübrigen sich, denn Sie haben diese präsent – und des enormen Finanzierungsbedarfs zur Refinanzierung der Staatsdefizite stellt sich die Frage, wie aufnahmefähig die Finanzmärkte auf Dauer für Staatsanleihen, aber – jetzt kommt es – auch für Unternehmensanleihen sind? Wenn das so weiter geht, welche Verdrängungseffekte gibt es? Verdrängungseffekte übrigens auch zu Lasten souveräner Staaten, die erkennbar nicht gleich gute Ratings haben wie derjenige, der die Benchmark setzt?

Einigen von Ihnen ist es geläufig, wie schwer es für einige souveräne Staaten in jüngster Zeit gewesen ist, ihre Staatsanleihen zu akzeptablen Bedingungen zu platzieren, wo sie früher relativ selbstverständlich zehnjährige Laufzeiten und relativ günstige Zinskonditionen durchsetzen konnten. Haben Sie davon gelesen, dass die Auktion einer britischen Anleihe Ende März fehlgeschlagen ist, da das Bietungsvolumen geringer ausfiel als der offerierte Betrag? Wir haben es mit Spread-Entwicklungen für einige Länder zu tun, die bedenkliche, jetzt unterschrittene Höchstwerte erreichten.

Wir haben damit zu rechen, dass es eine Reihe großer deutscher Unternehmen geben wird, die dieses Jahr einen Refinanzierungsbedarf von spielend acht, neun, vielleicht sogar zehn, elf oder sogar zwölf Milliarden Euro haben werden. Was passiert, wenn die Finanzmärkte überdehnt und überbelastet sind, wenn Investoren "streiken"?

Jenseits kurzfristiger Deflationsgefahren, von denen manchmal die Rede ist, beschäftigt mich mehr ein mögliches mittelfristiges Inflationsrisiko als Folge einer Politik des billigen Geldes bei einem Wiederanspringen der Konjunktur. Anders ausgedrückt: Wie kriege ich die Zahnpasta wieder in die Tube, also die Liquidität absorbiert?

Und war nicht exakt diese Politik des billigen Geldes eine Ursache der jetzigen Krise? Kommt uns das nicht ein bisschen bekannt vor nach der Politik des 11. September 2001? Wie kriege ich die Liquidität wieder vom Markt? Durch steigende Zinsen? Wie vertragen sich steigende Zinsen mit einer sich langsam wieder erholenden Weltkonjunktur? Kontraproduktiv!

Dann stellt sich die Frage nach der Abtragung der enormen Staatsverschuldung, der Staatsdefizite. Beunruhigt sich da jemand in Ihrem Kreis über das mögliche Risiko, dass auch westliche Industriestaaten diese Defizite möglicherweise durch die billigende Inkaufnahme von Inflation abtragen könnten?

Damit wäre aber die nächste Vertrauenskrise vorprogrammiert, nämlich beim Sparer. Oder, um eine weitere Journalistin, Frau Böhringer, zu zitieren: "Wer heute lernt, dass Sparen weniger bringt, als auf Pump zu leben, wird künftig letzteres tun – sei er Privatmensch, Regierungsverantwortlicher, oder Entscheider in einem Unternehmen. Eine verschuldete Gesellschaft ist aber viel anfälliger für Krisen als eine mit Ersparnissen. Das zeigt sich bereits sehr deutlich: Amerika hat keine Reserven mehr, weil es schon vor der Krise jahrelang über seine Verhältnisse gelebt hat."

Nicht minder wichtig ist in meinen Augen, dass wir uns das Risiko einer Überdehnung des Staates, von der ich schon sprach, einer Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit über die enormen kreditfinanzierten Unterstützungsmaßnahmen, vergegenwärtigen. Der Kapitaldienst der öffentlichen Haushalte aus der exponentiell wachsenden Verschuldung ist ungeheuerlich. Und dabei spielt nicht, wie viele glauben, die jährliche neue Nettoneuverschuldung, sondern die Bruttoneuverschuldung die entscheidende Rolle.

Die Bruttoneuverschuldung des Bundes 2008 betrug 237 Milliarden Euro, sie könnte dieses Jahr auf über 350 Milliarden Euro springen.

Schon 2005 war es ein riesiges Problem, dass der Schuldendienst, gesetzliche Verpflichtungen, der Zuschuss zur Rentenkasse und die Betriebsausgaben des Bundes 80 Prozent des Bundeshaushaltes in Anspruch nahmen und nur noch geringe investive Spielräume für die Felder übrig blieben, von denen die Zukunftsfähigkeit dieses Landes abhängig ist.

Anders ausgedrückt: Die Überdehnung der staatlichen Finanzkraft bei einer konstanten Steuerquote – es dürfte Sie ja maßgeblich interessieren, ob an dieser Steuerquote herumgedreht werden soll oder nicht – führt dazu, dass die Handlungsfähigkeit des Staates als Investor für Zukunftsprojekte, als Versicherer gegen gesellschaftliche Konflikte oder als Verhinderer einer gesellschaftlichen Desintegration beschädigt werden könnte.

Was dies bedeuten könnte, will ich in einem Exkurs in ein hier schon mehrfach apostrophiertes Land belegen: Die USA dürften dieses Jahr ein Haushaltsdefizit von nahezu 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes haben. Die vergleichbare Zahl für Deutschland in 2009 liegt vielleicht bei vier Prozent.

Der angesichts dieser Verschuldungsdimension absehbare Schuldendienst wird den amerikanischen Präsidenten – wie ich befürchte – in die Verlegenheit bringen, seine Wahlkampfversprechen zu halten und die großen Reformvorhaben zu finanzieren, die er sich vorgenommen hat: Klima, Bildung, Gesundheitswesen.

Der zweite Aspekt, den ich aufgreifen will als eine Herausforderung, die noch nicht scharf genug auf unserem Bildschirm leuchtet, ist die Frage nach den globalen Ungleichgewichten. Und diese globalen Ungleichgewichte sind nach wie vor, trotz erheblicher Fortschritte bei den G7, G8, G20-Treffen, nicht gelöst.

Einiges deutete ich schon an. Ein globales Ungleichgewicht resultiert aus dem enormen Kapitalimportbedarf der USA. Um ihre Defizite zu finanzieren – die privaten, die Leistungsbilanzdefizite, die staatlichen Defizite –, müssen die USA jährlich ungefähr zwei Drittel der weltweiten Sparleistungen attrahieren – zwei Drittel der weltweiten Sparleistungen!

Ich bin vorhin schon auf die möglichen Diversifizierungsstrategien derjenigen Staaten oder eines Staates eingegangen, der dafür als Kapitalexporteur in Frage kommt. Abgesehen davon haben wir es in diesem Fall mit einer ganz bemerkenswerten Konstellation zu tun: Ein Turbokapitalist des 21. Jahrhunderts befindet sich in einer symbiotischen Beziehung mit einem staatskapitalistischen Land, das einen kommunistischen Überbau hat. Eine ganz interessante politische Konfiguration.

Woran liegt das? Es liegt daran, dass eigentlich jede amerikanische Regierung eine Politik betreiben müsste, die dazu führt, dass die Sparneigung, oder in einer ökonomischen Kennziffer ausgedrückt, die Sparquote, in den USA auf den Durchschnitt europäischer Länder steigt. Davon ist man weit entfernt. Die Sparquote in Deutschland beträgt ungefähr elf Prozent, die amerikanische Sparquote vielleicht 0,5 Prozent. Sie ist sogar schon einmal negativ gewesen.

Zweitens, was die Ungleichgewichte betrifft: Das, was die USA an Defiziten zu beklagen haben, haben die Chinesen als Überschüsse. Daran haben sie ein verständliches Interesse und halten ihre Währung im Sinne der Exportförderung schwach. Das heißt, ein weiteres Ungleichgewicht wird dadurch ausgelöst, dass es keine Wechselkursflexibilität des Yuan gibt.

Weitere Ungleichgewichte sind nicht einfach dadurch zu beschreiben, indem wir mit dem Finger auf andere zeigen, sondern auf uns selbst. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland ihren Wohlstand durch eine ungeheure Exportaktivität erwirtschaftet, führt bei anderen zu entsprechenden Leistungsbilanzdefiziten. Der Exportweltmeister exportiert damit auch gleichzeitig Probleme.

Für Japan und Europa und insbesondere auch für Deutschland gilt ferner nach wie vor: Wenn wir im weltweiten Wettbewerb unsere Champion-Position einigermaßen halten wollen und im Muster der weltweiten Arbeitsteilung aufstrebenden Ländern ihre Entwicklungsmöglichkeiten nicht streitig machen wollen, dann haben wir es nach wie vor mit einem erheblichen Reformbedarf innerhalb der EU und auch mit Blick auf Deutschland zu tun.

Der dritte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist eine Frage der Stabilität: die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme. Ich deutete an, dass die Überdehnung der staatlichen Handlungsmöglichkeiten auch seine Funktion als Sozialstaat beeinträchtigen könnte.

Bisher haben wir es mit der doppelten Krise der Finanz- und Realwirtschaft zu tun, plus der Strukturkrise einer Leitbranche, der Automobilindustrie. In der Tat könnte eine massiv ansteigende Arbeitslosigkeit und eine mittelfristig überdurchschnittliche Inflation in der Folge der Rezession und ihrer kreditfinanzierten Bekämpfung – deutlich oberhalb des Maastricht-Wertes von drei Prozent – zusammen mit der nach wie vor unterschätzten Problematik der Demografie in Deutschland die finanziellen Fundamente dieses Sozialstaates erheblich belasten.

Ich sprach viertens von der Betroffenheit souveräner Staaten. Die Betroffenheit von Schwellen- und Entwicklungsländern spielt nicht nur in ökonomischer Hinsicht eine Rolle. Sondern wir haben uns weltweit die Gefahr zu vergegenwärtigen, dass die erfolgreichen Anstrengungen vieler Entwicklungs- und vieler Schwellenländer in den letzten zehn Jahren, sich politisch und auch sozial zu stabilisieren, durch diese ökonomischen Einbrüche zunichte gemacht werden könnten.

Und wir haben es innerhalb Europas, selbst innerhalb der Eurozone, mit einer disparaten Entwicklung zu tun, die wir nicht ignorieren können. Pauschalisierungen verbieten sich, auch und gerade mit Blick auf die Situation in Osteuropa, aber gemessen an Kriterien wie Zahlungsbilanzdefiziten, Haushaltsdefiziten, einer hohen privaten Verschuldung in Fremdwährungen und einer abnehmenden Wettbewerbsfähigkeit ist Wachsamkeit und Handlungsfähigkeit im Fall von zugespitzten Situationen gefordert.

Und ich füge hinzu: Politisch gesehen können Frustrationen und Enttäuschungen in den ehemals kommunistisch regierten Ländern Mittel- und Osteuropas über sich nicht erfüllende Versprechen der Demokratie und der Mitgliedschaft in europäischen Institutionen zu einem Faktor werden.

Fünftens will ich einige Sätze verlieren über die gesellschaftliche Legitimationsfrage: Ich habe gelegentlich die Befürchtung, dass sich die ökonomische Krise zu einer Krise unserer gesellschaftlichen Verfassung und auch politischen Ordnung auswachsen könnte.

Diese Möglichkeit sollte man nicht unterschätzen. Denn es gibt viele Menschen in diesem Land, die eine zentrale Frage stellen: Wer zahlt die Zeche? Die Verursachung der Krise und die Betroffenheit ihrer Auswirkungen – Jobverlust, Vernichtung von Sparguthaben, Gefährdung der Altersversorgung, Inanspruchnahme von Steuergeldern – fallen auseinander. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, was sich verändert hat.

Sie sehen sittenwidrige Löhne auf der einen Seite und sie sehen sittenwidrig hohe Gehälter und Abfindungen auf der anderen Seite. Sie kriegen aus den Zeitungen mit, dass eine Verkäuferin wegen Unterschlagung von 1,30 Euro ihren Job verlieren kann, aber sie sehen Bankmanager, die erkennbar ihre Unternehmen an die Wand gefahren haben und um Millionensummen vor Gericht klagen. Sie haben eine Vorstellung darüber, dass sich in den vergangenen Jahren eine deutliche Öffnung der Gehalts- und Vermögensschere ergeben hat. Und sie beschäftigt die Frage der Lastenverteilung in dieser Krise. Geld fließt nicht den Opfern zu, sondern den Verursachern der Probleme.

Und wenn dann noch einige Treibsätze wie Steuerhinterziehung, Abfindungen, Korruption hinzutreten und Populisten auf dem Klavier der Vorurteile spielen, dann haben wir es plötzlich mit einem sehr giftigen Cocktail zu tun.

Wie erkläre ich den Menschen – nicht technokratisch! – eine Bankenrettungsaktivität von 500 Milliarden Euro, die diese Milliarden alle auf ihr persönliches Lebensumfeld abspiegeln, auf Hartz IV-Regelsätze, auf die Entwicklung ihrer verfügbaren Einkommen, auf den maroden Zustand der Schule ihrer Kinder, auf die fehlende Umgehungsstraße, auf die hohen Gebühren in den Kindergärten, auf die wirtschaftliche Lage ihres kleinen Handwerks- oder Gewerbebetriebes?

Der erste Satz lautet dann immer: "Aber 500 Milliarden hast Du für die Banken!" Der nächste Satz "Du hast sie für die Banker" ist nicht weit entfernt. Und dann wird die Diskussion schon etwas schwieriger. Will sagen: Es könnte eine Situation aufkommen, die empfänglich ist für – wie ich es nenne – irrationale antithetische Antworten.

Eine solche irrationale Antwort gibt es in Frankreich bereits. Wenn eine Umfrage ausweist, dass 50 Prozent der Befragten für Geiselnahmen von Managern sind, dann ist das eine irrationale antithetische Antwort. Ich bin mir nicht so sicher, ob wir, die nach wie vor eher auf der bevorteilten Seite sitzen, ein ausreichendes Gespür dafür haben, dass diese Krise durchaus zu gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen führen könnte.

Das beginnt mit Wahlenthaltung, mit einem politischen Vertrauensentzug gegenüber dem etablierten Parteiensystem, das setzt sich fort in der Entwicklung von Parallelgesellschaften, von Ghettoisierung im Stadtviertel, in der Bereitschaft, sich zu ergeben in die Sozialhilfe.

Politische Stabilität und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind ein sehr hohes Gut, in meinen Augen übrigens einer der wirtschaftlich wichtigsten Standortfaktoren. Und hier haben insbesondere die Funktionseliten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaften, Medien und Verbänden eine hohe Verantwortung dafür, dieses hohe Gut der politischen Stabilität und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu wahren, übrigens auch über die Erfüllung von Vorbildfunktion.

Ich versuche auszudrücken, dass diese Konjunkturkrise keine herkömmliche ist. Sie ist das Ergebnis eines Systemmissbrauchs. Damit will ich all denjenigen widersprechen, die sagen, man müsse einfach nur da durch und man müsse alles wieder einigermaßen so hinkriegen wie vorher.

Dann geht man zurück auf "Los", zieht zwar keine 4.000 Mark ein, aber im Wesentlichen kann alles so bleiben, wie es ist. Das ist ein sehr gefährliches Restaurationsversprechen! Es geht in der Tat nicht um die Erfindung eines neuen Wirtschaftssystems. Aber es geht auch nicht um eine Wiederkehr des Gleichen. Es geht um eine Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts.

In Deutschland ist aber offensichtlich mehr ideologischer Ballast zu schleppen als anderenorts. Das habe ich erlebt in der Debatte oder bei den ordnungspolitischen Klimmzügen über eine mögliche Enteignung der Hypo Real Estate-Bank. Die Aktionäre von HRE sind alle längst enteignet! Wissen Sie, durch wen? Durch den Markt! Flowers hätte keinen Cent mehr, wenn nicht der Bund fast 90 Milliarden und andere Banken ungefähr 15 Milliarden Euro an Garantien in dieses Institut hineingesteckt hätten.

Ungefähr 102 Milliarden Euro Garantien bei einem Institut, dessen aktuelle Börsenkapitalisierung ungefähr um 200 Millionen schwanken dürfte. Können Sie sich an die Reden erinnern, dass eine Enteignung der HRE-Aktionäre – und zwar im Interesse des deutschen Steuerzahlers! – der Untergang des Abendlandes wäre und der nackte Sozialismus auszubrechen drohte? Das waren doch die Gemälde, die da an die Wand geworfen worden sind von denjenigen, die aber keinerlei ordnungspolitische Verkrümmungen haben, wenn es um die Übernahme der Risiken fauler Wertpapiere auf die Bilanz der öffentlichen Haushalte geht.

Herr Oetker hat mich gefragt, ob ich nach der heutigen Besprechung etwas über Bad Banks oder das Thema der Problemaktiva erzählen könnte. Ich will mir das verkneifen, weil ich den Rahmen sonst zu weit überschreite. Ich möchte um Verständnis für das werben, worum es dabei eigentlich geht, ehe Schnellschüsse abgegeben werden. Wir sind in einem Spannungsbogen.

Wir sind in dem Spannungsbogen, einerseits dazu beizutragen, dass es zu einer Bilanzbereinigung kommt bei den Kreditinstituten im Sinne einer Verbesserung der Funktionsfähigkeit und eines Wiedergewinns von Vertrauen auf den Finanzmärkten, damit die Banken nicht mehr so viel Eigenkapital unterlegen müssen mit Blick auf diese ständig abzuwertenden Wertpapiere, damit sie dieses Eigenkapital vielmehr zur Verfügung stellen oder unterlegen können für neue Ausleihen an den Mittelstand, an die großen Unternehmen.

Aber dann müssen Sie die Frage beantworten, wer die damit verbundenen Risiken übernehmen soll. Und wissen Sie, woran die meisten denken? An den Bundeshaushalt. Und wissen Sie, wer der Bundeshaushalt ist? Sie alle! Als Steuerzahler. In diesem Konflikt, in diesem Spannungsbogen, bewegt sich das Ringen um eine Lösung.

Ehe ich mich eilfertig von denjenigen kritisieren lasse, die so tun, als könne man das über Nacht machen: Weltweit gibt es vielleicht vier oder fünf Modelle dieser Art. Keines davon ist es wert, übernommen zu werden.

Entweder führen sie nicht zu einer Bilanzbereinigung – siehe das britische Versicherungsmodell – oder sie überantworten alle Risiken in einem Ausmaß auf die jeweiligen öffentlichen Haushalte und damit auf die Steuerzahler, das absolut inakzeptabel ist. Hatten wir nicht vorher in meinen Ausführungen schon die Fragestellung, wie ich 500 Milliarden Euro zur Rettung von Banken erklären soll? Soll ich in den Bundestag gehen und sagen, "Wisst Ihr, es tut mir wahnsinnig leid, diese 500 Milliarden Euro reichen leider nicht aus, ich brauche noch mal 200"? Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl? Ich begrüße alle Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestags!

Im Übrigen will ich die Anekdote erzählen, dass die ersten Vorschläge zur Teilverstaatlichung, zu Enteignungen und zu Verlustübernahmen bei einer Bad Bank in nächtlichen Gesprächen von deutschen Bankmanagern kamen.

Und auch das ist ein Zeichen dafür, dass diese Krise eine Zäsur ist.

Das makroökonomische Abweichen von einer engen ordnungspolitischen Dogmatik ist in der Geschichte der Bundesrepublik keineswegs ungewöhnlich. Karl Schiller hat gegen die erste tief greifende Rezession im Nachkriegsdeutschland 1966 bis 1967 mit einer "Die Krise als Zäsur" mutigen Politik von Konjunkturimpulsen, einer bis dahin unbekannten konzertierten Aktion zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und einem keynesianischen Gesetzeswerk reagiert.

Er tat das aus der Einsicht, dass die ordnungspolitische Zurückhaltung der Wirtschaftswunderjahre in der Rezession mehr Schaden als Nutzen anrichten könnte und dass in dieser besonderen Situation neue makroökonomische Konzepte und Instrumente nötig waren, die nicht der damaligen reinen Lehre entsprachen.

Helmut Schmidt hat die Bundesrepublik Deutschland mit dem Modell Deutschland sicher durch die schwierige Zeit der 70er Jahre geführt, durch Ölkrisen, durch den Zusammenbruch des Systems der festen Wechselkurse, über erhebliche Wachstumsschwächen und eine zunehmende Arbeitslosigkeit. Und als die nationale Wirtschaftspolitik an ihre Grenzen stieß, wagte Helmut Schmidt den Schritt zur europäischen und internationalen Koordinierung.

Sie alle wissen es, zusammen mit Valéry Giscard d’Estaing hat er den ersten Weltwirtschaftsgipfel in Rambouillet organisiert – übrigens damals in einem sehr beratungsfreundlichen Ambiente und Stil – und das europäische Währungssystem als Vorstufe zur Einführung der Euro etabliert.

Und schließlich stand mit dem Ende der New Economy in der Euphorie Anfang dieses Jahrzehnts die Regierung Gerhard Schröder vor der durchaus dramatischen Herausforderung, strukturelle Wachstumshemmnisse der deutschen Wirtschaft unter den Bedingungen der Globalisierung und dem Druck der Demographie zu gestalten.

Und zusammen mit der – auch von Frank-Walter Steinmeier – konzipierten Agenda 2010 ist unser Land durchaus moderner geworden. Die guten Zahlen, die alle bis 2008 galten und die ich eingangs meiner Rede dargestellt habe, sind auch Ergebnis dieses mutigen Schrittes gewesen.

In der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise stehen wir Sozialdemokraten wieder in einer Führungsverantwortung für dieses Land. Stabilisierung des Finanzsystems, klare Regeln für Finanzmärkte und ihre Manager, mutiges staatliches Investieren und nicht Konsumieren gegen den Konjunkturabschwung, eine wirksame Schuldenbegrenzung ins Grundgesetz – das sind unsere Beiträge, und die verfolgen wir pragmatisch und nicht dogmatisch.

Ich will nicht im Einzelnen auf das Krisenmanagement eingehen, sondern nur wenige Worte darüber verlieren, dass das Krisenmanagement nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite ist die Frage, wie ich zukünftig die Wiederholung einer solchen Finanzmarktkrise verhindere.

Damit will ich Sie nicht lange aufhalten, aber ich bin eitel genug, um Sie darauf neugierig zu machen, dass es diesbezüglich ein Papier gibt von Frank-Walter Steinmeier und mir, von dem ich jenseits jeder Überheblichkeit behaupte, dass es bisher nichts Gleichwertiges gibt, was dem entgegengesetzt oder hinzugefügt worden ist in Deutschland.

Richtig ist, dass die Große Koalition richtig aufgestellt gewesen ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Ich stehe nicht lange an, der Kanzlerin ein Kompliment zu machen, und behaupte, dass es eine der großen Leistungen dieser Großen Koalition gewesen ist, über das Krisenmanagement in dieser Finanz- und Bankenkrise und über den Einsatz auf der internationalen Ebene nicht in den Stil parteipolitischer Geländegewinne gefallen zu sein. Das tat diesem Land ganz gut.

Ich möchte jetzt nicht in die Einzelheiten der Vorschläge und schon ergriffenen Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte gehen. Das kann anderenorts nachgelesen werden. Die zentrale Voraussetzung für die positive Wirkung eines freien Unternehmertums ist die Verbindung von Risiko und Haftung. Nur wenn diese Verbindung gegeben ist, funktionieren unsere Gesellschaftsordnung und unser Wirtschaftssystem nachhaltig.

Nur dann wird die soziale Marktwirtschaft auch von Menschen akzeptiert und die von mir für möglich gehaltene Legitimationskrise vermieden. Deshalb hat mit sehr guten Gründen Walter Eucken – ich zitiere ihn – den "Abbau der Haftungsbeschränkungen" in seinen Katalog der konstitutiven Prinzipien für eine funktionierende Wirtschaftsordnung aufgenommen – ich zitiere ihn wieder –, "damit die Kontrollfunktionen des Marktes voll zur Geltung kommen". Was aber ist passiert?

Die letzten Jahre waren davon geprägt, dass von Kapitalmarktakteuren dieser Zusammenhang von Risiko und Haftung immer weiter aufgelöst worden ist und in vielen Fällen, in vielen sehr komplexen Finanzmarktprodukten, völlig verschwunden war. Die Reaktivierung dieses Prinzips – Risiko und Haftung – gehört deshalb für mich national und international maßgeblich zu einer Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft.

Ich will ein Fazit ziehen, ohne dass ich mich hoffentlich allzu sehr wiederhole.

Erstens: Ich halte weitere hoch dotierte kreditfinanzierte Konjunkturprogramme für eine sehr ambivalente Angelegenheit. Ihr mittelfristiger Schaden wird in der Zwischenzeit von mir höher eingeschätzt als ihr kurzfristiger Nutzen.

Zweitens: Ein so exportabhängiges Land wie die Bundesrepublik Deutschland sollte multilateralen Hilfen eine größere Priorität einräumen als weiteren nationalen Konjunkturprogrammen. Insofern waren die Verabredungen auf dem Londoner Gipfel der G20-Staaten mit der Bereitstellung erheblicher Ressourcen für den IMF, aber insbesondere auch für multilaterale Entwicklungsbanken, für Deutschland in seiner Exportabhängigkeit, wenn Sie so wollen, ein drittes Konjunkturpaket.

Drittens: Die Rückkehr zu einer soliden Haushaltspolitik, auf einen Pfad der Konsolidierung, erfordert verbindliche Festlegungen – zum Beispiel die im Rahmen des Investitions- und Tilgungsfondsgesetzes festgelegte Tilgungsregelung, zum Beispiel die Überarbeitung des Artikels 115 mit einer wirkungskräftigeren Schuldenregelung oder die Unterstützung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von Maastricht.

Dies ist nicht ein Selbstzweck, sondern dies ist notwendige Vertrauensbildung, und zwar nicht nur für Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für die Finanzmärkte und für die Stabilität des Euro.

Viertens: Spätestens mit der wirtschaftlichen Erholung steht uns eine erneute Debatte über den Anteil konsumtiver Ausgaben und investiver Maßnahmen in den öffentlichen Haushalten bevor. Das wird auf schwierige, harsche Verteilungskonflikte hinauslaufen. Das wird sich auch auf das Verhältnis zwischen einer vorsorgenden, investierenden Sozialpolitik einerseits und einer eher fürsorgenden, alimentierenden Sozialpolitik andererseits auswirken.

Fünftens: Für Steuersenkungen in der Größenordnung, die von einigen politischen Wettbewerbern in den Raum gestellt werden, gibt es keinerlei Spielraum angesichts der Staatsverschuldung und des erheblichen Bedarfs an öffentlich zu finanzierenden Zukunftsinvestitionen wie insbesondere Bildung als der Schlüsselkategorie in mehrfacher Hinsicht.

Bildung ist nicht nur ein Schlüssel im Sinne einer vorsorgenden Sozialpolitik, also der Möglichkeit, dass alle Menschen ein eigenverantwortliches Leben führen können und nicht die Solidarität der Gesellschaft in Anspruch nehmen müssen. Ein Schlüssel nicht nur mit Blick auf die Gleichstellung von Mann und Frau; nicht nur mit Blick auf eine Wertevermittlung, sondern auch mit Blick auf die Innovationsfähigkeit und Produktivität unserer Gesellschaft, die älter wird.

Meine Partei, die SPD, hat ganz bewusst nur sehr bezahlbare Steuerversprechen gemacht. Dazu gehört, für viele von Ihnen vielleicht enttäuschend, auch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, um diesen Betrag zu hundert Prozent für Bildungsinvestitionen zu verwenden.

Die Einführung einer Börsenumsatzsteuer und die Bekämpfung der Steuerhinterziehung sind Maßnahmen, um den Eingangssteuersatz auf zehn Prozent zu senken und einen so genannten Lohnsteuerbonus einzuführen, von dem übrigens in der Regel die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Gebrauch machen können.

Denn: die wenigsten von ihnen, jedenfalls in den unteren Einkommenskategorien, haben zusätzliche Einkommen aus Vermietung und Verpachtung oder gewerblichen Tätigkeiten. Sollten sie Kapitaleinkünfte haben, was bei der allein erziehenden Verkäuferin, die mit tausend Euro nach Hause kommt, nicht so verbreitet ist, dann hat sie damit keine Schwierigkeiten, weil es eine Abgeltungssteuer von 25 Prozent an der Quelle dieser Kapitaleinkünfte gibt.

Sechstens: Der Zusammenhalt der EU und die Stabilität des Euro erfordern ein koordiniertes und ein kohärentes Vorgehen der Mitgliedstaaten, der EZB und der Europäischen Kommission. Dieses Verständnis ist unter dem Druck der aktuellen Situation erfreulich gewachsen. Strukturen für ein schnelles Handeln sind gelegt. Bei dieser Bemerkung möchte ich es belassen.

Siebtens: Das Paradigma der Deregulierung auf den Finanzmärkten hat abgewirtschaftet. Es wird keine Rückkehr geben. Vielleicht mühsam, gelegentlich langwierig, aber unter dem Druck der Krise letztlich erfolgreich sind wichtige Entscheidungen zur Regulierung von Finanzmärkten getroffen worden, und die Umsetzung auch des Action-Plans aus dem Treffen in Washington ist in vollem Gange.

Achtens und letztens: Die antagonistische Betrachtung von Markt und Staat in Deutschland verstellt gelegentlich den Zugang zu pragmatischen und problemadäquaten Lösungen. Die Philosophie einer entfesselten Konkurrenz, dieser von manchen beförderten Kultur des Egoismus, ist die Vorstellung eines neuen, wie immer ungeschriebenen Gesellschaftsvertrages gegenüber zu stellen, nach dem sich individuelle Freiheiten und unternehmerischer Geist auf das Gemeinwohl verpflichtet sehen.

Eigentum verpflichtet! Anderenfalls wird sich diese entfesselte Konkurrenz, der Exzess, die Übertreibung, die wir erlebt haben, eine politische Antithese schaffen, die unser Staats- und Gesellschaftssystem durchaus erschüttern kann. Das Erstaunlichste ist, dass diese Dynamik nicht von Revolutionären, nicht von Systemveränderern, sondern von den Protagonisten und Bevorteilten dieses Systems in Gang gesetzt worden sind.

Noch kann niemand den genauen Verlauf, das Ausmaß und auch das Ende dieser Finanz- und Wirtschaftskrise ermessen. Ich kann es nicht. Wenn Sie jemanden kennen, dann geben Sie mir bitte seine Telefonnummer. Und noch überblicken wir auch nicht alle Implikationen dieser Zäsur. Gewiss ist, dass sie Gefahren für die ökonomische, soziale und demokratische Stabilität ganzer Staaten birgt.

Deshalb kann sich unser Zukunftsentwurf zum Beispiel für das neue Jahrzehnt auch nicht auf die simple Wohlstanderneuerung beschränken. Es geht um eine Richtungsänderung, in der die Regeln und die Form unseres Wirtschaftens stärker auf gesellschaftliche Werte verpflichtet werden.

Der Kampf gegen die Krise braucht mehr als nur die Hoffnung, darüber hinweg zu kommen. Aus dieser Krise keine Lehren zu ziehen für die Zeit danach, wäre nicht nur schreiende Dummheit, sondern auch blanker Zynismus gegenüber denjenigen, die gerade verlieren. Wenn man sich neu orientieren muss, versucht man immer zu begreifen, was schief gelaufen ist. Ja, man versucht, so etwas wie einen Sinn im Scheitern zu erkennen. Man fragt, wozu das alles möglicherweise am Ende doch noch irgendwie gut sei, was wir da gerade durchleben.

Der Sinn, den ich in diesem epochalen Ereignis erkenne, ist, dass wir den Irrsinn erkennen, der dazu geführt hat. Den Irrsinn zum Beispiel, der dazu geführt hat, dass Herr oder Frau Mustermann ihre Arbeit verlieren oder ihr Erspartes verloren haben, weil andere viel zu hohe Risiken eingegangen sind, für die sie nicht einmal bezahlen müssen.

Wenn diese Krise eine Wende bewirkt zu einem nachhaltigeren Wirtschaften, zu einem gerechteren Umgang gerade mit nachfolgenden Generationen, zu mehr Zukunftschancen durch Bildung und Arbeit, zu einer stabileren Weltwirtschaftsordnung, dann ist das aktuelle Geschehen immer noch sehr schmerzhaft, aber immerhin der Beginn von etwas Besserem. Und weniger als das sollte eine solche Zäsur nicht sein.