Zum 70. Geburtstag von Ignatz Bubis - Empfang in Frankfurt - Rede des Bundeskanzlers

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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hielt bei dem Empfang des Zentralrats der Juden
in Deutschland zu Ehren von Ignatz Bubis zu dessen 70. Geburtstag am 13.
Januar 1997 in Frankfurt am Main folgende Rede:


Lieber Herr Bubis, liebe Frau Bubis,
meine Herren Ministerpräsidenten,
Frau Oberbürgermeisterin,
meine Damen und Herren Abgeordneten,
meine sehr verehrten Damen und Herren

und, für die vielen Gäste von außerhalb unserer Staatsgrenzen, ein ganz, ganz
herzliches Wort des Willkommens an unseren Freund Teddy Kollek!

Ich darf Ihnen, lieber Herr Bubis, sehr herzlich gratulieren zu Ihrem 70.
Geburtstag, Ihnen danken für guten Rat, für Hilfe und Unterstützung, für Ihr
patriotisches Denken und Handeln.

Schon in einer normalen Biographie sind 70 Jahre ein Zeitraum, der einen
großen Teil der Höhen und Tiefen menschlicher Existenz umfaßt. Wer am 12.
Januar 1927 in Breslau geboren wurde und Ignatz Bubis heißt, für den umfassen
diese sieben Jahrzehnte noch ganz andere Dimensionen: An einem solchen Tag –
ich will das hier nicht ins Private, lieber Herr Bubis, überführen, aber jeder
von uns spürt es doch in diesem Saal –, an einem solchen 70. Geburtstag gehen
Gedanken zurück: an den Vater, an den Bruder, an die Schwester, an die vielen
aus der eigenen Familie und an die vielen Freunde und Bekannten, die ermordet
wurden.

Die Gedanken gehen zurück an eine schreckliche barbarische Zeit, wie man sie
1927 in Deutschland nicht für möglich gehalten hat. Deswegen darf ich Ihnen
auch dafür danken, daß Sie etwas vollbracht haben, worauf wir als Nichtjuden
keinen Anspruch haben: nämlich nicht zu vergessen, aber in den Jahrzehnten
nach dem Holocaust und nach dem Ende der Nazibarbarei Brücken zu bauen in die
Zukunft für eine neue Generation, für unser Land.

Ich sagte, wir haben keinen Anspruch darauf. Um so mehr sind wir dankbar, daß
Sie mit Ihrer Gattin, Ihrer Tochter und Ihrem Freundeskreis diesen Weg unseres
Landes gemeinsam mit vielen anderen gegangen sind und damit überhaupt erst
möglich gemacht haben. Sie sind nach Kriegsende wieder nach Deutschland
zurückgekehrt. Sie haben sich eine erfolgreiche unternehmerische Existenz
aufgebaut und sich sehr bald, wie Sie das als Ihre Pflicht erkannten, in der
jüdischen Gemeinde – wir haben es eben gehört –, hier in Frankfurt engagiert.

Sie wurden Mitglied des Direktoriums des Zentralrats der Juden in
Deutschland, 1987 stellvertretender Vorsitzender der Zentralen
Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, später dann Stellvertreter von
Heinz Galinski. Nach dessen Tod sind Sie zum Nachfolger gewählt worden – zum
Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Daß dieses Amt zu einem
Begriff wurde, zu einer wichtigen Institution in unserem Land – das ist auch
Ihr ganz persönliches Verdienst. Wir haben es in den Eröffnungsreden von Frau
Oberbürgermeisterin Roth und Herrn Ministerpräsident Eichel gehört: Sie sind
ein bewußter Bürger dieser Stadt Frankfurt, dieses Landes Hessen, dieser
Bundesrepublik Deutschland.

Wer ist dieser Mann, der nach einem solchen Lebenslauf diese Wirkung, diese
Beliebtheit erreicht? Er macht sich ja nicht auf vordergründige Weise beliebt,
indem er jedem nach dem Mund redet; sondern er ist beliebt, gerade weil er
niemandem einfach nach dem Mund redet, weil er in einer ganz eigenen,
unverwechselbaren Weise seine Meinung sagt: sehr spontan, sehr jugendlich,
manchmal jugendlicher als viele Jüngere von heute. Es geht ihm nicht in erster
Linie darum, sofort Zustimmung zu erhalten, sondern vor allem darum, einen
klaren Standpunkt zu vertreten, eben weil er Standpunkte hat.

So haben Sie sich Autorität erworben, und Sie sind ein gutes Beispiel dafür,
daß "autoritär" nicht mit "Autorität" verwechselt werden sollte – wie dies
immer noch häufig geschieht. Autorität ist in jeder Gemeinschaft notwendig.
Sie setzen dabei Ihre Fähigkeit zum Moderieren voll ein. Aber Sie sind nicht
zum Moderator geworden – Gott sei Dank, füge ich hinzu, denn Moderatoren haben
wir in Deutschland genug, und manche von ihnen werden ganz zu Unrecht auch
noch hoch dafür bezahlt.

Wir brauchen Menschen, die handeln. Handeln setzt Verständigung, setzt
Gespräch voraus. Ignatz Bubis ist ein Mann des echten Gesprächs. Gespräch
heißt, einander Auge in Auge gegenüberzusitzen, einander zuzuhören, sich in
den anderen hineinzuversetzen. Was der andere vielleicht noch gar nicht
ausdrücken kann, was nur zwischen den Zeilen anklingt – auch das macht ein
Gespräch aus. Sie können moderieren, weil Sie auch Humor und Schlagfertigkeit
besitzen. Ich sage bewußt Humor, denn es geht ja nicht darum, andere
lächerlich zu machen. Humor kommt aus dem Herzen, nimmt den anderen ernst und
ist auch ein Geschenk.

Ihr beispielhaftes Engagement ist hier schon geschildert worden. Die
Bi-Lokalität können Sie nicht für sich in Anspruch nehmen, die hat
Hans-Dietrich Genscher bereits mit Beschlag belegt. Aber vielleicht
übertreffen Sie ihn sogar in dieser Kunst. Allerdings habe ich selbst das nie
so empfunden, denn Sie sind immer ganz bei der Sache, Sie nehmen sich Zeit für
Ihre Gesprächspartner. Ich empfinde das als ein Stück gelebte Menschlichkeit:
Da ist einer, der diesen langen Weg über Abgründe gegangen ist und der die
Brücke in die Zukunft gefunden hat.

So danke ich Ihnen auch ganz besonders dafür, daß Sie zu jenen gehören – ich
weiß, daß in Israel manche anders darüber denken; damit müssen wir leben –,
die immer dafür eingetreten sind, daß jüdische Bürgerinnen und Bürger wieder
in Deutschland leben, daß es in Deutschland wieder eine lebendige jüdische
Gemeinschaft gibt. Sie haben das ganz einfach formuliert: "Würden alle Juden
Deutschland verlassen, gäbe man Hitler nachträglich recht." Ich halte diesen
Satz für sehr wichtig. Frauen und Männern wie Ihnen ist es wesentlich zu
verdanken, daß wir wieder lebendige Gemeinden hier haben, daß Synagogen nicht
nur Stätten historischer Erinnerung, sondern lebendige Orte jüdischer
Gegenwart sind.

In Deutschland umfaßt die jüdische Gemeinschaft inzwischen nahezu 60000
Menschen. Das ist eine Entwicklung, die noch vor zehn Jahren kaum jemand für
möglich gehalten hat. Und es ist nicht nur meine Meinung als Privatperson,
sondern ich darf hier für viele, die in der deutschen Politik Verantwortung
tragen, sprechen: Wir sind glücklich darüber, daß diese Entwicklung so
gekommen ist. Wir danken dafür Ihnen ganz persönlich und all denen in der
jüdischen Gemeinschaft, die dazu beigetragen haben. Die Erinnerung an den
Holocaust bleibt, aber ich habe die Hoffnung, daß sich aus dem neuen
Miteinander von Juden und Nichtjuden in Deutschland viel Gutes entwickeln wird.

Es liegt für mich ein Stück Symbolik darin, daß Sie jetzt hier wohnen und
Bürger der Stadt Frankfurt sind, vor allem daß wir diesen Geburtstag hier in
Frankfurt feiern können, denn diese Stadt steht mehr als viele andere deutsche
Städte auch für ein beispielhaftes Miteinander von Juden und Nichtjuden in
Deutschland; sie steht für eine große Geschichte, die uns durch die
Nazibarbarei verlorengegangen ist.

Ich werde jedesmal bei meinen Besuchen im Leo-Baeck-Institut in New York
daran erinnert, wenn ich beim Betrachten der vielen Portraits am
Treppenaufgang dort sehe, was diese Gemeinsamkeit in und für Deutschland
bedeutet hat. Gerade deshalb setze ich mich dafür ein, daß wir im Rahmen der
Möglichkeiten unserer Zeit und unserer Generation und im Blick auf kommende
Generationen trotz allem, was geschehen ist, versuchen, jüdisches
Gemeindeleben in Deutschland auf- und auszubauen.

Mein besonderer Wunsch an Sie, lieber Herr Bubis, ist, daß Sie gerade in
dieser Frage nicht nachlassen. Sie sind hervorragend als Botschafter in
anderen Teilen der Welt dazu geeignet – ob in Jerusalem, Tel Aviv oder New
York –, obwohl mancher Ihrer Gesprächspartner dort dies so nicht ohne weiteres
verstehen mag. Sie mögen die Formulierung "Juden und Deutsche" nicht, und das
zu Recht. Wir alle sind Bürger eines Landes, ob Christen oder Juden, ob
religiös gebunden oder nicht. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung als
Bürger: für unsere Heimatstädte und -gemeinden, für unser jeweiliges
Bundesland und für das wiedervereinigte Deutschland, das jetzt dabei ist, im
Haus Europa einen wesentlichen und wichtigen Teil an Verantwortung zu
übernehmen.

Was ich immer wieder bewundere, ist, wie Sie sich als Pädagoge hervorgetan
haben. Das hat Sie jung gehalten. Mit wie vielen Schulklassen, mit wieviel
Tausenden von Schülern haben Sie in diesen Jahren diskutiert! Man kann nur
ahnen, wieviel Geduld und Energie dazu gehört, immer wieder mit Schülerinnen
und Schülern zu diskutieren, die eine Vielzahl von Meinungen, aber auch
Vorurteile des Elternhauses und ihres Umfelds in eine solche Diskussion mit
hineinbringen. Sie zeigen hier eine großartige Begabung. Für die jungen
Menschen sind Sie nicht zuletzt deshalb glaubwürdig, weil sie ohne erhobenen
Zeigefinger zu ihnen sprechen.

Während der Serie fremdenfeindlicher Ausschreitungen und Anschläge zu Beginn
der 90er Jahre haben Sie in einer ungewöhnlich überzeugenden Weise
Bürgerrechte und -pflichten deutlich gemacht – die Pflicht zum Kampf gegen
jede Form von Rassismus, Extremismus und politisch motivierter Gewalt. Sie
haben damals auch, was ich gern in dieser Stunde hervorhebe, davor gewarnt,
voreilige Vergleiche mit Weimar zu ziehen. Es ist wichtig, daß ein Mann wie
Sie in Israel, in den USA und anderswo darauf hinweist, daß die Bundesrepublik
Deutschland des Jahres 1997 in nichts mit der Weimarer Republik vergleichbar
ist. Dies ist keine Herabsetzung jener großartigen Männer und Frauen, die
damals ihr Bestes gegeben haben bei dem schließlich gescheiterten ersten
Versuch, eine deutsche Demokratie zu errichten.

Sie sind ein streitbarer Liberaler. Wir stimmen in politischen Fragen
natürlich nicht immer überein. Aber immer können wir miteinander reden – und
pfälzisch würde man sagen, wir sagen uns auch einmal die Meinung, natürlich
mit gegenseitigem Respekt.

Für mich ist entscheidend: Ich bin in all diesen Jahren bei meinen
Begegnungen mit Ignatz Bubis einem verläßlichen, einem zuverlässigen Mann
begegnet. Wenn man am Ende eines Gesprächs mit ihm etwas vereinbart, dann gilt
das auch. Vor allem bin ich in ihm immer einem Mann begegnet, der nicht nur
sein Gegenüber achtet und respektiert, sondern auch bemüht ist – und dies
spürt man –, sich in die Schwierigkeiten des Partners hineinzuversetzen. Dies
habe ich vorhin eigentlich mit "Moderieren" gemeint: nicht die vorhandenen
Schwierigkeiten wegreden zu wollen, sondern die Frage nach einem fairen
Kompromiß immer wieder zu stellen und nach einem vernünftigen Ausgleich zu
streben.

Das ist, im besten Sinne des Wortes, demokratisches Denken: eine eigene
Position zu haben und dafür kämpferisch einzutreten, aber zugleich im Respekt
vor dem anderen immer zu bedenken, auch der andere könnte mit seiner Meinung
Recht haben. Deswegen danke ich Ihnen besonders für diese sehr persönliche
Möglichkeit des Sprechens und Diskutierens miteinander, das dann in
gemeinsames Handeln mündet.

Vielen Dank – ich sage es noch einmal – für so manchen
guten kameradschaftlich-freundschaftlichen Rat. Ich wünsche Ihnen, Ihrer
Gattin, Ihrer ganzen Familie noch viele gute, erfüllte Jahre und Gottes Segen.