bilanz und perspektiven der politik der bundesregierung - erklaerung des bundeskanzlers vor der bundespressekonferenz in bonn

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Bulletin

  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

bundeskanzler dr. helmut kohl gab vor der
bundespressekonferenz in bonn zu seiner reise in die
sowjetunion am 17. juli 1990 folgende einleitende
erklaerung ab:

herr vorsitzender,
meine damen und herren!

ich moechte heute unmittelbar nach dem abschluss einer
serie wichtiger gipfelbegegnungen - ich nenne den
europaeischen rat in dublin, den nato-gipfel in london,
den weltwirtschaftsgipfel in houston sowie mein treffen
mit dem sowjetischen praesidenten gorbatschow - eine
bilanz ziehen der ersten sechs monate dieses jahres
und, soweit dies moeglich ist, die perspektiven der
weiteren arbeit bis zum ende dieses jahres aus der sicht
der bundesregierung erlaeutern.
i.
die entwicklung der vergangenen sechs monate und die
ergebnisse der gipfelbegegnungen geben mir die
zuversicht, dass wir in diesem jahr eine neue seite der
deutschen und auch der europaeischen geschichte
aufschlagen koennen:
- durch die herstellung der staatlichen einheit
deutschlands,
- durch erhebliche fortschritte in der europaeischen
integration,
- durch die erarbeitung der tragenden elemente einer
dauerhaften und gerechten europaeischen
friedensordnung und damit eines neuen verhaeltnisses
partnerschaftlicher zusammenarbeit in frieden und freiheit
zum wohle aller buerger.
dank intensiver und vertrauensvoller gespraeche und
konsultationen auf allen ebenen, die auch in ihrer dichte
und haeufigkeit beispiellos waren, koennen wir heute von
einem durchbruch auf dem wege zur regelung der
aeusseren aspekte der deutschen einheit sprechen und
zudem die konturen einer kuenftigen europaeischen
architektur klar erkennen.
hierzu hat entscheidend beigetragen, dass wir deutsche
unseren weg zur einheit immer auch im klaren
bewusstsein unserer nationalen und europaeischen pflichten
gehen werden und so gesehen haben.
wir haben von anfang an darauf geachtet, dass der
prozess zur einheit in einem stabilen europaeischen
rahmen eingebettet wird. deutsche einheit und europaeische
einheit sind unaufloeslich miteinander verbunden.
deutsche politik kann nicht gegen, sondern vernuenftigerweise
nur mit unseren partnern und nachbarn vorstellbar und
auch erfolgversprechend sein.
daher von anfang an engste abstimmung im rahmen
der eg und der nato. daher auch die immer wieder von
mir vorgetragene klare absage an einen nationalen
alleingang oder an einen deutschen sonderwegss
daher von anfang an das uneingeschraenkte ja zum
festen buendnis mit den freiheitlichen demokratien
europas und nordamerikas und zur zunehmenden integration
in der europaeischen gemeinschaft.
diese ausrichtung wird auch in zukunft leitlinie meiner
politik sein.
ich glaube, wir haben guten grund - ich selbst vor
allem - dankbar zu sein:
- denen, die geholfen haben, das sind vor allem die
menschen in unserem vaterland, vor allem unsere
landsleute in der ddr,
- den drei verbuendeten, die besondere verantwortung
tragen fuer berlin und deutschland als ganzes,
insbesondere unseren amerikanischen freunden und hier
allen voran praesident bush,
- der eg-kommission und deren praesidenten jacques
delors,
- der weitsicht und dem realitaetssinn von praesident
gorbatschow,
- mit einem wort: unseren verbuendeten und nach-
barn in west und ost, die von anfang an ver-
staendnis und dann auch vertrauen bewiesen haben.

ii.
vor sechs monaten habe ich ihnen von dieser stelle aus
die grundlagen der politik der von mir gefuehrten
bundesregierung in diesem historischen prozess erlaeutert. alle
diese grundlagen sind unveraendert gueltig und sie haben
auch ihren niederschlag in den ergebnissen der
gipfeltreffen gefunden.
erstens: es liegt im interesse von ganz europa, dass
sich die europaeische gemeinschaft als modell des
zusammenschlusses freier voelker, als kern der kuenftigen
europaeischen friedensordnung entschlossen
fortentwickelt. nur so ist sie in der lage, ganz europa den
notwendigen halt zu verleihen.
zweitens: wir brauchen weitere substantielle
fortschritte in abruestung und ruestungskontrolle.
der nato-gipfel in london - das war deutlich in den
gespraechen mit praesident gorbatschow - hat hierfuer
klare, weitreichende signale verabschiedet, die vor allem
auch in moskau verstanden wurden.
das westliche buendnis gestaltet sich um, aendert seine
strategie und struktur und nimmt zu den staaten des
warschauer paktes beziehungen der freundschaft und
zusammenarbeit auf. eine gemeinsame
gewaltverzichtserklaerung wird dies besiegeln.
drittens: unsere politik muss darauf gerichtet sein, dass
sich die in der sowjetunion und in den laendern mittel-
und suedosteuropas eingeleiteten reformen in stabilen
bahnen entwickeln und zum erfolg gefuehrt werden
koennen.
bereits im letzten jahr sind wichtige schritte zur
unterstuetzung der reformen in polen und ungarn angelaufen,
in diesem jahr ist die hilfe fuer weitere laender
hinzugekommen. wesentlich ist gleichermassen die einigkeit
unter den westlichen partnern, dass es auch notwendig
ist, die sowjetunion in diese massnahmen einzubeziehen.

iii.
wenn wir heute auf grund der gipfeltreffen der letzten
vier wochen von einem durchbruch sprechen koennen
und mehr und mehr die konturen des kuenftigen europa
vor uns sehen, wissen wir auch, dass noch ein
schwieriger, ein arbeitsreicher weg vor uns liegt.

1. deutschlandpolitik

seit zwei wochen sind die deutschen in der
bundesrepublik deutschland und in der ddr wieder ohne
trennende grenzen unaufloeslich miteinander verbunden:
das inkrafttreten der waehrungs-, wirtschafts- und
sozialunion war ein entscheidender schritt auf dem weg
zur einheit. dieser schritt ist auch ueberall in der welt so
verstanden worden.
die waehrungsumstellung in der ddr ist nicht zuletzt
dank der vorzueglichen vorarbeit aller beteiligten stellen
reibungslos, ja besser als von vielen zweiflern erwartet,
verlaufen. in der ddr ist eine fuelle von gesetzen in kraft
getreten, die die rechtlichen voraussetzungen fuer die
einfuehrung der sozialen marktwirtschaft schaffen sollen.
jeder weiss, dass die voellige umgestaltung der
lebensverhaeltnisse in der ddr besonders in der anfangszeit zum
teil erhebliche schwierigkeiten mit sich bringt. es wird
viel arbeit erfordern, bis wir wohlstand und sozialen
ausgleich fuer alle deutschen verwirklicht haben.
niemandem werden aber gerade in dieser uebergangszeit
unbillige haerten zugemutet. und wir haben alle chancen, in
einer relativ kurzen zeit unser ziel zu erreichen.

2. ergebnisse der gespraeche mit praesident gorbatschow

ich bin, wie sie wissen - viele von ihnen waren ja mit
dabei - gestern von meiner zweiten reise in die
sowjetunion in diesem jahr zurueckgekehrt. bei meinem ersten
besuch im februar konnte ich berichten, dass wir
deutsche seitens der sowjetischen fuehrung "gruenes licht"
fuer unseren weg zur einheit haben, dass wir auch ueber
ihre form, frist und bedingungen selbst entscheiden
koennen.
heute kann ich die fuer alle deutschen gute nachricht
mitbringen, dass nunmehr auch ueber alle aeusseren
aspekte zwischen uns und der sowjetunion einigkeit
erzielt ist.
wir wollen zukunftsgewandte vertraege, umfassende
zusammenarbeit, vertrauen und nicht zuletzt die breite
begegnung unserer voelker, insbesondere der jungen
generation.
wir wollen damit zugleich unseren beitrag leisten fuer eine
dauerhafte und friedliche entwicklung in europa.
dies alles wird leitmotiv - und darin bin ich mit praesident
gorbatschow einig - eines umfassenden
kooperationsvertrages des vereinten deutschland mit der
sowjetunion sein, der so bald wie moeglich nach der vereinigung
abgeschlossen sein wird.
dieser vertrag wird geschlossen auf der festen
grundlage und im beiderseitigen klaren verstaendnis, dass mit
der deutsch-sowjetischen zusammenarbeit als auch mit
der festen verankerung im westen ein unerlaesslicher
beitrag der stabilitaet in der mitte europas und darueber
hinaus geleistet wird.
auf der grundlage dieser - wie auch praesident
gorbatschow sagte - gemeinsamen philosophie haben
wir die praktischen probleme, die auf dem weg zur
deutschen einheit noch vor uns liegen, geloest.
ich will noch einmal die wichtigsten punkte hier
auffuehren.

erstens:
die einigung deutschlands umfasst die bundesrepublik
deutschland, die ddr und ganz berlin.

zweitens:
mit der herstellung der einheit deutschlands werden die
vier-maechte-rechte und -verantwortlichkeiten in bezug
auf deutschland als ganzes und berlin beendet. das
vereinte deutschland erhaelt zum zeitpunkt seiner
vereinigung seine volle und uneingeschraenkte souveraenitaet.

drittens:
das geeinte deutschland kann in ausuebung seiner vollen
und uneingeschraenkten souveraenitaet frei und selbst
entscheiden, ob und welchem buendnis es angehoeren will.
dies entspricht dem geist und dem text der
kszeschlussakte.
ich habe als auffassung der bundesregierung erklaert,
dass das geeinte deutschland mitglied des atlantischen
buendnisses sein moechte, und ich weiss, dass dies auch
dem wunsch der ddr entspricht. herr ministerpraesident
de maiziere hat das gestern in seinem kommentar
deutlich gemacht. wir haben uns auch heute frueh noch
einmal in unserem gespraech in diesem sinne klar
ausgesprochen.

viertens:
das geeinte deutschland schliesst mit der sowjetunion
einen zweiseitigen vertrag zur abwicklung des
truppenabzugs aus der ddr, der, wie die sowjetische fuehrung
erklaert hat, innerhalb von drei bis vier jahren beendet
sein soll.
was ich hier so einfach vortrage, "drei bis vier jahre",
meine damen und herren, heisst, dass die sowjetischen
truppen spaetestens 1994 deutsches gebiet verlassen.
und ich will noch einmal darauf hinweisen: das bedeutet,
dass 50 jahre nach dem tag, an dem sowjetische
truppen zum ersten mal das damalige deutsche
reichsgebiet im kampf im zweiten weltkrieg betreten haben, die
letzten sowjetischen soldaten aus deutschland abziehen
werden.
ferner soll fuer diesen zeitraum ein ueberleitungsvertrag
ueber die auswirkungen der einfuehrung der d-mark
abgeschlossen werden.

fuenftens:
waehrend der dauer der anwesenheit sowjetischer
truppen auf dem territorium der heutigen ddr werden keine
strukturen der nato auf dieses gebiet ausgedehnt.
artikel 5 und 6 des nato-vertrages finden sofort mit der
vereinigung auf das gesamte gebiet des vereinten
deutschland anwendung.

sechstens:
nicht integrierte verbaende der bundeswehr, dass heisst
verbaende der territorialen verteidigung, koennen ab sofort
nach der vereinigung deutschlands auf dem gebiet der
heutigen ddr und in berlin stationiert werden.

siebtens:
fuer die dauer der anwesenheit sowjetischer truppen auf
dem gebiet der heutigen ddr sollen nach unseren
vorstellungen die truppen der drei westmaechte in berlin
verbleiben. die bundesregierung wird die drei
westmaechte darum ersuchen und ihnen einen
entsprechenden vertrag vorschlagen. fuer den aufenthalt der
westlichen streitkraefte muss eine rechtsgrundlage durch
vertrag zwischen der regierung des vereinten deutschlands
und den drei maechten geschaffen werden. wir gehen
davon aus, dass selbstverstaendlich die zahl und die
ausruestung dieser truppen nicht staerker sein soll als heute.

achtens:
nach abzug der sowjetischen truppen aus dem gebiet
der heutigen ddr und aus berlin koennen in diesem teil
deutschlands auch der nato angegliederte truppen
stationiert werden, allerdings ohne fuer atomwaffen
verwendbares abschussgeraet. auslaendische truppen und
atomwaffen sollen nicht dorthin verlegt werden.

neuntens:
die bundesregierung erklaert sich bereit, noch in den
laufenden wiener verhandlungen eine
verpflichtungserklaerung abzugeben, die streitkraefte eines
geeinten deutschlands innerhalb von drei bis vier jahren auf
eine personalstaerke von 370000 mann zu reduzieren. diese
reduzierung soll mit inkrafttreten des ersten wiener
abkommens beginnen. dies bedeutet: legt man die
bisherige sollstaerke von bundeswehr und nationaler
volksarmee zugrunde, so werden die streitkraefte des
kuenftigen geeinten deutschlands um 45 prozent
vermindert.

zehntens:
das geeinte deutschland wird auf herstellung, besitz
und verfuegung der abc-waffen verzichten und mitglied
des nichtverbreitungsvertrages bleiben.
ich gehe selbstverstaendlich davon aus, dass die drei
westmaechte ebenso wie die regierung der ddr, mit der
ich in der persoenlichkeit des ministerpraesidenten heute
bereits gesprochen habe, auch diese
einigungsvorstellung unterstuetzen werden.
meine damen und herren, ein weiterer schwerpunkt
meiner gespraeche mit praesident gorbatschow, aber
auch der gespraeche von bundesfinanzminister waigel
mit seinen sowjetischen partnern war eine
zukunftsgewandte wirtschaftlich-finanzielle zusammenarbeit.
auf grund der drei westlichen gipfel von dublin, london
und houston konnte ich der sowjetischen fuehrung und
vor allem praesident gorbatschow verdeutlichen, dass der
westen auf den erfolg der perestroika setzt und ihn nach
besten kraeften foerdern will. dies ist nach dem ergebnis
meiner vielen gespraeche der wunsch und das anliegen
unserer westlichen freunde und partner.
noch ende dieser woche wird der praesident der
egkommission, jacques delors, nach moskau reisen und
auf der grundlage des vom europaeischen rat in dublin
erteilten mandates das gespraech aufnehmen.
praesident gorbatschow hat mir noch mitgeteilt, dass er
noch vor seinem urlaub mit dem amtierenden praesidenten
der gemeinschaft, mit dem ministerpraesidenten
italiens, giulio andreotti, das gespraech in dieser frage
sucht.
die hauptarbeit - und dabei gab es zwischen uns beiden
volle uebereinstimmung - ist jedoch in der sowjetunion
selbst zu leisten. praesident gorbatschow bereitet mit
seinen mitarbeitern ein umfassendes
marktwirtschaftliches reformprogramm vor, das er im september
dem obersten sowjet vorlegen will und das nach seinem
willen alsbald in kraft gesetzt wird. dies - und darin
waren wir uns einig - ist die entscheidende
voraussetzung fuer eine wirkliche und wirksame westliche
abstuetzung dieser politik.
meine damen und herren, dieser kurze ueberblick ueber
einige wesentliche themen und fragestellungen der
naechsten monate zeigt, dass wir bereits mitten in
grundlegenden weichenstellungen fuer unsere gemeinsame
europaeische zukunft stehen.
ich will aus diesem grunde auch darauf hinweisen, dass
allein die terminuebersicht bis zum dezember deutlich
macht, in welcher fahrt das ganze vonstatten geht:
- mein treffen mit dem amtierenden praesidenten des
europaeischen rates, ministerpraesident andreotti, am
10. september steht in dieser reihe.
- ich nenne die deutsch-franzoesischen
gipfelkonsultationen am 17. und 18. september in muenchen.
- das sondertreffen des europaeischen rates am
3. november 1990 in rom.
- das ksze-gipfeltreffen vom 19. bis 21. november
1990 in paris - das ist fuer uns besonders wichtig, weil
ja bei dieser gelegenheit das abschlussdokument
"zwei-plus-vier" praesentiert werden soll.
- ich nenne dann den europaeischen rat vom 13. bis
15. dezember 1990 in rom - das ist ein ganz
wichtiges datum, weil ja bei dieser gelegenheit die beiden
regierungskonferenzen eroeffnet werden sollen: die
regierungskonferenz ueber die vollendung der
wirtschafts- und waehrungsunion in der europaeischen
gemeinschaft und die regierungskonferenz - ich will
sie einmal so nennen - zur weiteren entwicklung der
politischen einheit in europa.
ich hoffe, dass wir dieses jahr so gut zu ende fuehren
koennen und dass das, was im ersten halben jahr
begonnen wurde, dann auch fortgefuehrt werden kann.
ich selbst und die von mir gefuehrte bundesregierung
wird alles daran setzen, dazu ihren beitrag zu
leisten.
wie sie entdeckt haben, habe ich ein anderes, ganz
wichtiges datum hier nicht erwaehnt: die bundestagswahl,
die gesamtdeutschen wahlen im dezember. ich gehe
davon aus, dass es wohl der erste dezembersonntag sein
wird nach den jetzt in der diskussion befindlichen daten.
sie haben sicherlich verstaendnis dafuer, dass ich zum
schluss zum ausdruck bringe, dass ich die absicht habe,
diese wahl zu gewinnen.