bericht der bundesregierung zur lage der nation im geteilten deutschland - erklaerung der bundesregierung vor dem deutschen bundestag

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bundeskanzler dr. helmut kohl gab in der 173. sitzung
des deutschen bundestages am 8. november 1989
folgenden bericht der bundesregierung zur lage der
nation im geteilten deutschland ab:

i.
frau praesidentin,
meine sehr verehrten damen und herren!

freie selbstbestimmung fuer alle deutschen - das war, ist
und bleibt das herzstueck unserer deutschlandpolitik. freie
selbstbestimmung - das war, ist und bleibt auch der
wunsch, ja die sehnsucht unserer landsleute in der ddr.
wer von uns ist nicht angeruehrt und bewegt angesichts der
bilder der vielen hunderttausenden friedlich versammelten
menschen in berlin, in leipzig oder in dresden, in schwerin,
in plauen und in anderen staedten der ddr? sie rufen: "wir
sind das volkue", und ich bin sicher, ihre rufe werden nicht
mehr verhallen.
unsere landsleute, die taeglich fuer freiheit und demokratie
auf die strasse gehen, legen zeugnis ab von einem
freiheitswillen, der auch nach 40 jahren diktatur nicht
erloschen ist. sie schreiben damit vor den augen der welt ein
neues kapitel im buch der geschichte unseres vaterlandes,
dessen freiheitliche traditionen weder durch krieg noch durch
gewalt und diktatur zerstoert werden konnten.
wir alle stehen ebenso unter dem bewegenden eindruck
der fluchtwelle aus der ddr, ein im europa unserer tage
beispielloser, bedrueckender vorgang. eigentlich sollten die
bilder, wie wir sie aus ungarn, der cssr und polen - aber
auch bei der ankunft der menschen in der bundesrepublik
deutschland - gesehen haben und immer noch sehen, im
europa unserer vorstellung der vergangenheit angehoeren.
die flucht von zehntausenden vor allem juengerer
menschen aus der ddr in den freien teil deutschlands ist vor
aller welt eine "abstimmung mit den fuessen", ein
unuebersehbares bekenntnis zur freiheit und demokratie, zur
rechtsstaatlichkeit, zu einer wirtschafts- und
gesellschaftsordnung, die den menschen einen gerechten anteil
an den fruechten ihrer arbeit sichert.

sie ist zugleich eine eindeutige absage an ein politisches
system, das die grundlegenden rechte des einzelnen, seine
freiheit und sein persoenliches wohlergehen missachtet.
diese ereignisse haben der ganzen welt vor augen gefuehrt,
dass die teilung unseres vaterlandes widernatuerlich ist, dass
mauer und stacheldraht auf dauer keinen bestand haben
koennen. diese bilder haben deutlich gemacht, dass sich die
deutsche frage nicht erledigt hat, weil sich die menschen in
deutschland mit dem bestehenden zustand nicht abfinden
werden.
unsere landsleute in der ddr verlangen die achtung ihrer
buergerlichen und politischen grundfreiheiten. sie bestehen
auf ihrem recht auf selbstbestimmung. sie schweigen nicht
laenger zu dem zwangssystem der einparteiherrschaft.

ii.
wir, meine damen und herren, und mit uns alle in europa
sind zeugen eines grossen umbruchs.

- im westen europas bereiten sich die staaten der
europaeischen gemeinschaft durch fortschreitende integration
auf die herausforderungen des 21. jahrhunderts vor.
durch den grossen europaeischen binnenmarkt, den wir bis
31. dezember 1992 vollenden wollen, wird westeuropa
mit ueber 320 millionen menschen zum groessten
wirtschaftsraum der welt. aber er wird nicht nur der
wirtschaft, sondern - das hoffen und das wollen wir - vor
allem der politischen entwicklung und einigung europas
neue impulse geben.

- im osten unseres kontinents, in mittel-, ost- und
suedosteuropa, vollzieht sich in mehreren staaten ein
grundlegender wandel des politischen und wirtschaftlichen
systems. mit der von generalsekretaer gorbatschow
eingeleiteten politik der umgestaltung verbindet sich
erstmals seit dem ende des zweiten weltkrieges eine
begruendete hoffnung auf die ueberwindung des ost-west-
konflikts.

auch wenn wir erst am anfang einer solchen entwicklung
stehen und niemand von uns die risiken eines scheiterns
und der sich daraus ergebenden gefahren uebersehen oder
unterschaetzen darf: es gibt jetzt eine perspektive fuer einen
wirklichen wandel in ganz europa, eine wirkliche chance fuer
eine europaeische friedensordnung, fuer ein europa der
freiheit und der selbstbestimmung.
wir erleben alle mit grosser sympathie und anteilnahme,

- wie ungarn wieder zur republik geworden ist, wie es dort
in kuerze, in wenigen monaten, erstmals nach vielen
jahrzehnten freie wahlen geben wird,

- wie in polen ein nichtkommunistischer ministerpraesident
gewaehlt werden konnte, der jetzt vor der schweren
aufgabe steht, sein land in eine neue, in eine bessere
zukunft zu fuehren.

morgen werde ich nach polen reisen, um zusammen mit
ministerpraesident mazowiecki die fundamente - wie wir
hoffen - fuer eine gemeinsame zukunft des deutschen und
polnischen volkes auszubauen. wir sind beide
entschlossen, die neuen chancen fuer einen durchbruch in den
deutsch-polnischen beziehungen beherzt zu ergreifen.
die zeit ist reif fuer eine verstaendigung, ja, fuer eine
dauerhafte aussoehnung zwischen unseren beiden voelkern. wir
schulden ein solches werk des friedens gerade den jungen
menschen, die in guter nachbarschaft und freundschaft
miteinander leben wollen.
ich fuehle mich dieser aufgabe ganz persoenlich verpflichtet.
wir wollen alles tun, um gemeinsam auf diesem weg
voranzukommen.
meine damen und herren, dazu gehoert auch, dass wir auf
beiden seiten ehrlich mit den dunklen kapiteln unserer
geschichte umgehen. wir wollen nichts von alledem
verschweigen, verdraengen oder vergessen - aber es kommt
darauf an, fuer die gestaltung einer friedlichen zukunft die
richtigen lehren aus der vergangenheit zu ziehen.
(zurufe von der spd: eben! -
das unterstreichen sie einmal ganz dick!)
- meine damen und herren, was frieden und ausgleich
betrifft, was unseren friedenswillen und unsere erkenntnis,
dass wir aus der geschichte lernen muessen, betrifft,
brauchen wir, meine politischen freunde und ich, von
niemandem nachhilfeunterricht, auch von ihnen nicht.
aus dieser ueberzeugung gehen wir auch gemeinsam nach
kreisau. dieser ort war eines der zentren des widerstandes
gegen hitler. er stand und steht fuer jenes andere, bessere
deutschland, dessen unverlierbares erbe die
bundesrepublik deutschland hueten und an kuenftige generationen
weitergeben will.
ich bin sicher, dass die chancen fuer das gelingen einer
aussoehnung zwischen beiden voelkern infolge der grossen
politischen veraenderungen in polen heute besser sind als
jemals zuvor in den letzten jahrzehnten.
die grundlagen der politik der bundesregierung sind klar: im
europa der zukunft muss es vor allem um selbstbestimmung
und um menschenrechte gehen, um volkssouveraenitaet,
nicht um grenzen oder um hoheitsgebiete - wie ich schon
vor ueber vier jahren vor dem deutschen bundestag gesagt
habe. denn - so habe ich damals erklaert - nicht souveraene
staaten, sondern souveraene voelker werden den bau europas
dereinst vollenden.
ganz in diesem sinne heisst es in der gemeinsamen
entschliessung des deutschen bundestages vom 17. mai 1972
- ich zitiere -:

mit der forderung auf verwirklichung des
selbstbestimmungsrechts erhebt die bundesrepublik deutschland
keinen gebiets- oder grenzaenderungsanspruch.

wir koennen und wir wollen keine rechtspositionen
veraendern. es bleibt bei den bekannten staats- und
voelkerrechtlichen grundlagen unserer deutschland- und
ostpolitik, und dazu gehoert selbstverstaendlich auch, dass
wir an buchstaben und geist des warschauer vertrages in allen
seinen teilen festhalten.
in diesem vertrag bekraeftigen die bundesrepublik
deutschland und polen unter anderem - ich zitiere -

die unverletzlichkeit ihrer bestehenden grenzen jetzt
und in der zukunft und verpflichten sich gegenseitig zur
uneingeschraenkten achtung ihrer territorialen integritaet.
sie erklaeren, dass sie gegeneinander keinerlei
gebietsansprueche haben und solche auch in zukunft nicht
erheben werden.

gleichzeitig stellen in diesem vertrag beide seiten fest -
auch dies darf nicht verschwiegen werden -, dieser vertrag
beruehre - ich zitiere - "nicht die von den parteien frueher
geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder
mehrseitigen internationalen vereinbarungen".
meine damen und herren, jeder von uns in diesem hause
weiss, was dies bedeutet, weiss, dass wir noch keinen
friedensvertrag haben.
unser ziel ist eine europaeische friedensordnung, die nicht
von einzelnen maechten diktiert, sondern von den voelkern
europas in freier selbstbestimmung eigenhaendig gestaltet
wird. dies war schon die vision konrad adenauers. das
recht aller voelker auf selbstbestimmung ist in der charta
der vereinten nationen anerkannt.
wer unsere forderung nach verwirklichung dieses rechts
auch fuer alle deutschen als "revanchismus" diffamiert, der
stellt sich also in wahrheit gegen dieses grund-gesetz der
voelkergemeinschaft.
meine damen und herren, gerade weil wir geltendes recht
nicht als "formelkram" abtun - wir haben allen grund dazu,
dem recht verpflichtet zu bleiben -, wissen wir um unsere
verantwortung fuer den frieden europas und fuer das wohl
seiner menschen sowie um unsere pflicht, jede chance der
aussoehnung beherzt zu ergreifen. in diesem sinne habe ich
schon 1985 in meinem bericht zur lage der nation im
geteilten deutschland hier erklaert:

in den gebieten jenseits der polnischen westgrenze
leben heute polnische familien, denen diese
landschaften in zwei generationen zur heimat geworden sind.
wir werden dies achten und nicht in frage stellen.

wir wollen den teufelskreis von hass und gewalt, von
unrecht und vertreibung durchbrechen und neue bruecken
der verstaendigung und aussoehnung, der guten
nachbarschaft und der zusammenarbeit zwischen deutschen und
polen bauen. das kann nur gelingen, wenn die rechte der
dort lebenden deutschen auf wahrung ihrer sprachlichen
und kulturellen identitaet gewaehrleistet werden. was wir auf
diesem gebiet jetzt mit polen vereinbart haben, ist ein
entscheidender schritt zur beendigung der diskriminierung
unserer dort lebenden landsleute.
wir wollen und wir werden alle chancen nutzen, um
unseren beitrag fuer ein gelingen der reformprozesse im
oestlichen teil europas zu leisten. diese reformprozesse sind
unmittelbar mit unserem nationalen anliegen verknuepft: mit
unserer forderung nach freiheit, menschenrechten und
selbstbestimmung fuer alle deutschen.
in unserer gemeinsamen erklaerung vom 13. juni dieses
jahres haben generalsekretaer gorbatschow und ich
wesentliche bauelemente eines europas des friedens und
der zusammenarbeit beim namen genannt:

die uneingeschraenkte achtung der integritaet und der
sicherheit jedes staates. jeder hat das recht, das eigene
politische und soziale system frei zu waehlen. die
uneingeschraenkte achtung der grundsaetze und normen des
voelkerrechts, insbesondere achtung des
selbstbestimmungsrechts der voelker.

das darf nicht ein blosses bekenntnis bleiben. das recht
aller voelker, ihr politisches und gesellschaftliches system
selbst zu waehlen, muss fuer alle menschen und voelker in
mittel-, ost- und suedosteuropa gelten, selbstverstaendlich
auch fuer die deutschen in der ddr.
die ausstrahlungskraft der freiheit, die anziehungskraft der
rechtsstaatlichen demokratie und der elementare wunsch
der voelker nach selbstbestimmung erzeugen eine historisch
zu nennende dynamik, die sich heute in ganz europa bahn
bricht. die zeit arbeitet fuer - und nicht gegen - die sache
der freiheit.

iii.
frau praesidentin, meine damen und herren, wir haben allen
grund, an unseren freiheitlichen zielen in der
deutschlandpolitik festzuhalten. weniger denn je haben wir grund
zur resignation, und weniger denn je haben wir grund, uns auf
dauer mit der zweistaatlichkeit deutschlands abzufinden.
gerade die ereignisse der letzten tage und wochen haben
insbesondere unsere klare und feste haltung in der frage
der einheitlichen deutschen staatsangehoerigkeit fuer
jedermann erkennbar bestaetigt.
die deutschen in der ddr sind und bleiben unsere
landsleute, die wir auf gar keinen fall als auslaender
behandeln wollen und als auslaender behandeln duerfen. alle
empfehlungen, den politischen status quo als endgueltig
anzuerkennen, haben sich als kurzlebig, als kurzsichtig
erwiesen. denn sie haben ein grundgesetz menschlicher existenz,
das streben des menschen nach freiheit, ignoriert.
freiheit und selbstbestimmung sind auch tragende
elemente der ksze-beschluesse, die zum massstab fuer die
west-ost-beziehungen wurden. der ksze-prozess zeigt die
richtung, in der veraenderungen notwendig sind.

was in der sowjetunion geschehen ist und weiter geschieht,
besonders aber die zum teil dramatischen veraenderungen
in ungarn und polen, koennen und - das ist meine
ueberzeugung - werden nicht ohne auswirkungen in den anderen
staaten des warschauer pakts bleiben.
sie haben natuerlich auch konsequenzen fuer die ddr. die
menschen dort fragen jetzt offen und immer draengender,
warum nicht auch bei ihnen endlich politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche reformen eingeleitet werden. sie
sind es leid, gegaengelt zu werden. sie wollen nicht laenger
von politischer mitbestimmung und mitverantwortung
ausgeschlossen sein. sie wollen nicht unter persoenlichen und
wirtschaftlichen bedingungen leben muessen, die ein von
ihnen nicht gewolltes politisches system ihnen auferlegt, ein
system, das ihnen sowohl persoenliche freiheit als auch
einen gerechten lohn ihrer taeglichen arbeit vorenthaelt.
unsere landsleute in der ddr wollen endlich selbst frei
entscheiden koennen. sie wollen selbstbestimmung, und das
heisst zunaechst einmal: endlich frei selbst zum ausdruck
bringen koennen, welchen weg sie in die zukunft gehen
wollen. es kommt darauf an, eine demokratische
willensbildung in der ddr zu ermoeglichen. dazu gehoeren
unbedingt meinungs- und pressefreiheit, freie bildung von
vereinen, gewerkschaftsfreiheit, parteienpluralismus und
schliesslich und selbstverstaendlich freie, gleiche und
geheime wahlen.
die fluchtbewegung aus der ddr, die uns alle aufruettelt
und die aufmerksamkeit der welt findet, ist ein symptom fuer
das grundproblem der ddr: die politische fuehrung dort ist
nicht frei gewaehlt, und deshalb koennen sich viele unserer
landsleute mit diesem staat nicht identifizieren.
das politbuero der sed kann sich in seinen entscheidungen
nicht auf eine in freier wahl zustande gekommene
zustimmung der buerger berufen. nach allem, was wir jetzt jeden
tag erleben, ist deutlich: die menschen in der ddr werden
sich mit dem machtmonopol der sed nicht abfinden, und sie
werden sich auch mit dem blossen austausch von
fuehrungspersonen und dem ruecktritt einiger im fuehrungskader
nicht begnuegen.
der neue sed-generalsekretaer wird sich daran messen
lassen muessen, ob er das tor zu tiefgreifenden reformen in
staat, gesellschaft und wirtschaft wirklich oeffnet. dafuer ist
es hoechste zeit!
die bilder und die aeusserungen der fluechtlinge, die in grosser
zahl zu uns kommen, haben mehr als alles andere deutlich
gemacht, um was es geht: um freiheit. diese ueberwiegend
jungen leute sind ja nicht ahnungs- und willenlose
menschen, die verderblichen sirenengesaengen des
kapitalismus gefolgt waeren. es sind selbstbewusste, tuechtige
leute, die oft genug schweren herzens ihre heimat, ihre freunde
und familien verlassen haben, um im freien teil
deutschlands in einer freiheitlichen demokratie ein neues leben
zu beginnen. sie wissen: nur wo freiheit herrscht, ist auch
sozialer fortschritt moeglich.
frau praesidentin, meine damen und herren, in diesem jahr
haben bisher ueber 200 000 - das sind die neuesten zahlen -
uebersiedler die ddr verlassen. wir nehmen sie in unserer
mitte als deutsche unter deutschen auf. und ich bin sicher,
dass die bereitschaft zu helfen, die die buerger der
bundesrepublik deutschland bisher in so eindrucksvoller weise
gezeigt haben, auch andauern wird, bis diese landsleute
bei uns ihren platz gefunden haben.
dies muss selbstverstaendlich genauso auch fuer die
aussiedler gelten, die aus der sowjetunion und anderen staaten
des warschauer pakts zu uns kommen.
ich weiss auch, dass sich manche bei uns schwertun mit den
neuankommenden. es ist ja auch nicht zu leugnen, dass der
zustrom so vieler in einigen bereichen probleme schafft
oder verschaerft, wie beispielsweise die diskussion ueber die
versorgung mit wohnraum zeigt. andererseits sollten wir
uns immer wieder bewusstmachen, dass es unter den sehr
viel schwierigeren bedingungen der spaeten vierziger und
fruehen fuenfziger jahre moeglich war, viel, viel mehr
fluechtlingen und vertriebenen, die damals kamen, brot,
obdach und arbeit zu geben.
der vergleich mit der damaligen zeit, der vergleich der
schwierigkeiten unserer republik damals und heute zeigt,
dass wir das problem loesen koennen, wenn wir das
gemeinsam wollen.
die materiellen voraussetzungen heute sind viel besser.
was uns oft fehlt, das sind der optimismus und die
lebensbejahung der gruendergeneration unserer republik - jener
generation, der wir ein leben in frieden und freiheit, in
wohlstand und einem hohen mass an sozialer gerechtigkeit
ganz entscheidend verdanken.
meine damen und herren, nicht die materiellen fragen
stehen heute im vordergrund. sie sind nach meiner festen
ueberzeugung prinzipiell loesbar - wenn auch nicht ueber
nacht. entscheidend ist die bereitschaft des einzelnen, im
bewusstsein seiner verantwortung fuer den naechsten und fuer
das ganze mitzudenken und mitzutun.
es geht hier um eine aufgabe von nationalem rang, ueber
die es eigentlich keinen streit geben sollte. ich darf als
bundeskanzler der bundesrepublik deutschland auch heute
von dieser stelle aus an alle appellieren, die in bund,
laendern und gemeinden, in allen bereichen unserer
gesellschaft, unseres staates verantwortung tragen:
vereinigen wir unsere kraefte zum wohl unserer landsleute!
ich will all jenen danken, die in dieser zeit spontane
hilfsbereitschaft, auch als ein zeichen der ermutigung,
gezeigt haben.
ich will an dieser stelle auch den besonderen dank der
bundesregierung fuer die haltung der ungarischen
regierung zum ausdruck bringen, die den fluechtlingen aus der
ddr durch ihre an den grundsaetzen der menschlichkeit und
des voelkerrechts ausgerichteten entscheidungen geholfen
hat.
ich schliesse in diesen dank ausdruecklich die oesterreichische
regierung und die oesterreichischen behoerden ein, die ohne
viel aufhebens wirklich alles getan haben, um unseren
landsleuten zu helfen.
ich finde, wir sollten in diesen dank - neben den offiziellen
stellen - die vielen, vielen einschliessen, die in ungarn, in
oesterreich, in polen, in der tschechoslowakei unseren
landsleuten in schwierigsten situationen selbstlos geholfen
haben.

wir alle wissen, dass ein massenexodus aus der ddr weder
im interesse der menschen in deutschland liegt noch das
ziel einer vernuenftigen deutschlandpolitik sein kann. unsere
besondere achtung und sympathie gehoeren genauso jenen,
die in der ddr bleiben und darauf hoffen, dass sich die
verhaeltnisse jetzt auch dort zum besseren veraendern.
ich moechte in diesem zusammenhang auch eindringlich
davor warnen, sich hier bei uns als richter ueber jene
aufspielen zu wollen, die sich dafuer entschieden haben, aus
der ddr zu uns zu kommen, oder ueber jene, die sich
entschieden haben, dort zu bleiben.
in beiden faellen verdienen sie unsere sympathie und auch
unser verstaendnis. ziel unserer politik, meine damen und
herren, muss es sein, zu einer entwicklung in der ddr
beizutragen, die den wuenschen der menschen dort
entspricht, das heisst, ihnen zu freiheit und selbstbestimmung
zu verhelfen.
meine damen und herren, angesichts mancher
diskussionen moechte ich auch sagen: wir koennen und wollen
dabei keine patentrezepte anbieten. unsere landsleute in
der ddr wissen, was sie wollen. sie wollen aus eigener
verantwortung handeln. sie zeigen - jeder kann dies
beobachten - ein neues, ein kraftvolles selbstbewusstsein.
sie sprechen in einer offenen und klaren sprache ueber ihre
wuensche, ueber ihre befindlichkeit und ueber ihre
forderungen. es stimmt nicht mehr - wie immer gesagt wurde -
dass sie sich am liebsten in private nischen zurueckziehen und
von politik nichts wissen wollen. sie brauchen ueberhaupt
keine vormuender. sie wollen selber entscheiden.
was wir tun koennen, ist vor allem, dass wir sie ermutigen und
in der hoffnung bestaerken, dass sich auch in der ddr ein
prozess demokratischer veraenderungen in absehbarer zeit
vollziehen wird. wir sollten und wir muessen einen solchen
prozess, wenn er beginnt, aktiv foerdern. dazu sind wir, wenn
noetig, auch mit eigenen anstrengungen bereit.

iv.
die bundesregierung wird alles in ihren kraeften stehende
tun, um den prozess einer oeffnung in der ddr zum wohle
unserer landsleute zu unterstuetzen. sie bleibt deshalb
entschlossen, in ihrer bisherigen politik der praktischen
zusammenarbeit mit der ddr im interesse der menschen auf
beiden seiten fortzufahren. bei der wirtschaftlichen
zusammenarbeit bemuehen wir uns um dauerhafte und
weitreichende verbesserungen fuer die menschen in der ddr.

der umweltschutz ist hierfuer ein gutes beispiel. er hat
fuer die menschen in beiden staaten in deutschland grosse
bedeutung. es geht dabei gleichermassen um die
verbesserung der lebensbedingungen von heute und um das wohl
kuenftiger generationen.
wir haben bereits in diesem jahr mit der ddr konkrete
projekte zur luft- und gewaesserreinhaltung vereinbart. die
finanziellen beitraege der bundesregierung fliessen eben
nicht an die ddr, sondern ausschliesslich an unternehmen
im bundesgebiet, die dorthin anlagen zur durchfuehrung von
pilotprojekten liefern.
das geld kommt also auch unserer wirtschaft zugute,
und zugleich helfen wir damit bei der loesung massiver
umweltprobleme in der ddr. so wird zum beispiel die fuer
hamburg und die nordsee schwerwiegende quecksilber-
belastung der elbe um etwa ein drittel - als zielsetzung -
reduziert.
verhandlungen ueber massnahmen zur verminderung der
luftschadstoffe und massnahmen auf dem gebiete des
naturschutzes sind angelaufen. gespraeche ueber den
strahlenschutz haben erfreuliche fortschritte in der
praktischen zusammenarbeit erbracht. nach jahrelangen
schwierigkeiten zeigt sich die ddr jetzt auch zur
zusammenarbeit bei der bekaempfung des
drogenmissbrauchs bereit.

wir werden auch die chancen, die das
kulturabkommen von 1986 eroeffnet hat, zielstrebig nutzen.
wechselseitige ausstellungen, konzerte, theatergastspiele
und begegnungen von wissenschaftlern wecken grosse
aufmerksamkeit und interesse fuer den jeweils anderen teil
deutschlands. sie tragen dem bewusstsein auch der
kulturellen verbundenheit und der gemeinsamen geschichte bei
und geben vielfaeltige anstoesse zur auseinandersetzung mit
den fragen unserer zeit.
die bisherige bilanz ist positiv. besonders erfreulich in den
innerdeutschen kulturbeziehungen ist die in diesem
sommer erfolgreich abgeschlossene rueckfuehrung kriegsbedingt
verlagerter kulturgueter. zahlreiche staedte und museen
diesseits und jenseits der innerdeutschen grenze verfuegen
jetzt wieder ueber ihr angestammtes archivgut, ihre gemaelde,
ihre wissenschaftlichen sammlungen und bibliotheken. das
beispiel zeigt: mit gutem willen und sachbezogener arbeit ist
ein interessenausgleich moeglich - auch und gerade in einer
zeit der veraenderungen, wie sie sich jetzt in der ddr
abzeichnen.
von ganz grosser bedeutung ist auch die verbesserung
der kontakte zwischen den hochschulen. meine damen
und herren, es sollte und muesste gelingen, die zahl der
hochschulpartnerschaften und wissenschaftlichen
einzelkontakte auszubauen, besonders aber die wechsel-
seitigen arbeitsaufenthalte von jungen wissenschaftlern zu
steigern.
natuerlich - auch das gehoert zu diesem bericht - gibt es
ebenfalls im kulturbereich nach wie vor defizite. das gilt vor
allem fuer die volks- und laienkunst und fuer die begegnung
von auszubildenden und schuelern. wir werden auch
weiterhin alles versuchen, dass die fuehrung der ddr in
diesem bereich ihre spuerbare zurueckhaltung aufgibt.
dies gilt in gleicher weise fuer den breiten- und
jugendsport. die ddr verschliesst sich nach wie vor
den vielfaeltigen moeglichkeiten, die es hier gibt. die
bundesregierung wird sich weiterhin darum bemuehen, den
innerdeutschen sportkalender ueber die daten des reinen
spitzensports hinaus zu erweitern.

ein zentrales anliegen unserer politik fuer den
zusammenhalt der nation bleiben die menschlichen begegnungen.
dazu dient vor allem der reiseverkehr, bei dem es
1989 eine weiterhin positive entwicklung gegeben hat.
jeder sechste erwachsene unterhalb des rentenalters in
der ddr konnte im vergangenen jahr zu uns reisen.
dieser verbesserung der kontakte dienen auch die
staedtepartnerschaften. zwischen staedten in der
bundesrepublik deutschland und der ddr sind bereits mehr als
60 solcher partnerschaften vereinbart oder angebahnt worden.
sie eroeffnen vielfaeltige moeglichkeiten, menschen
zueinander zu bringen und persoenliche kontakte zu knuepfen.
ganz wichtig ist schliesslich der jugendaustausch,
der sich trotz mancher schwierigkeiten langsam
weiterentwickelt.
vergessen wir nicht: mehr als die haelfte der deutschen
in ost und west ist nach dem krieg geboren und kennt
den jeweils anderen teil deutschlands nicht aus eigener
anschauung. ueberdies ist in der ddr seit dem bau der
mauer eine ganze generation herangewachsen, die auf
grund der einschneidenden reisebestimmungen der
ddr bisher kaum gelegenheit hatte, die bundesrepublik
deutschland zu besuchen, land und leute hier
kennenzulernen.
es ist ein unbestreitbarer erfolg unserer deutschlandpolitik,
dass inzwischen ein nennenswerter teil - auch juengerer -
menschen aus der ddr zu uns zu besuch kommen, die
lebenswirklichkeit der beiden staaten miteinander
vergleichen und nicht zuletzt auch die informationen der
ddr-medien einer kritischen pruefung unterziehen konnte.
das alles dient dem zusammenhalt unserer nation.
die neue ddr-fuehrung ist jetzt entschlossen, eine neue
reiseregelung zu erlassen, die auf die bisher noch
bestehenden beschraenkungen weitgehend verzichtet. sie
will damit allem anschein nach der tatsache rechnung
tragen, dass die fehlende freizuegigkeit ein ganz wesentlicher
anlass zur unzufriedenheit der menschen und uebrigens in
vielen faellen auch ein wichtiger grund fuer den wunsch war,
die ddr ganz zu verlassen.
fuer eine abschliessende bewertung der neuregelung, deren
entwurf soeben veroeffentlicht wurde und jetzt zur diskussion
steht, ist es noch zu frueh. pruefstein wird auch hier die
praxis, die wirklichkeit sein. vor allem wird es darauf
ankommen, ob die neuregelung und deren handhabung den wuenschen
und den erwartungen unserer landsleute tatsaechlich
entsprechen.
wenn sie zu wirklicher reisefreiheit fuehrt, werden auch
diejenigen zu uns kommen koennen, die bisher nicht
kommen konnten, weil sie hier keine verwandten oder
bekannten haben. wir wuerden damit eine neue dimension des
reiseverkehrs erhalten, die auch uns in der bundesrepublik
deutschland vor neue aufgaben stellt. wir koennen nicht alle
lasten uebernehmen, aber wir muessen und werden uns
bemuehen, denen, die zu uns kommen, gute gastgeber zu
sein.
fuer eine uebergangszeit wird die bundesregierung im
zusammenwirken mit kirchen und karitativen einrichtungen
versuchen, unterbringungsmoeglichkeiten fuer solche
besucher zur verfuegung zu stellen, die keine privaten
unterkuenfte finden. zur finanziellen seite werden ueberlegungen
angestellt werden muessen. ueber dieses thema ist natuerlich
auch noch mit der regierung der ddr zu sprechen.
dabei muss jedoch beruecksichtigt werden, dass die ddr
ihrerseits aus dem innerdeutschen reiseverkehr -
insbesondere durch den mindestumtausch - erhebliche
deviseneinnahmen erzielt. kein anderer staat des warschauer
pakts verfuegt laufend ueber derartige deviseneinnahmen. es
waere deshalb nicht mehr als recht und billig, wenn die
fuehrung der ddr einen erheblichen teil dieser einnahmen
unmittelbar zum nutzen unserer landsleute aufwenden und
sie auch mit angemessenen reisedevisen ausstatten wuerde.
langfristig, meine damen und herren, wird die ddr auf
jeden fall dafuer sorgen muessen, dass die menschen mit
eigenem geld reisen koennen. das wird nur bei einer
erheblichen verstaerkung der wirtschaftlichen leistungskraft
der ddr moeglich sein. wir sind bereit, durch zusammenarbeit
dabei zu helfen.
aber die ddr muss selber durch reformen die
voraussetzungen dafuer schaffen, dass diese zusammenarbeit
auch tatsaechlich fruechte tragen kann. dazu gehoeren
insbesondere

- ein abbau zahlreicher massnahmen, die den
innerdeutschen handel behindern und erschweren,

- eine erweiterung der wirtschaftlichen kooperation auf
allen ebenen,

- die zulassung von direktkontakten zwischen betrieben
beider seiten und vor allem

- die schaffung einer fortschrittlichen joint-venture-
gesetzgebung.

im innerdeutschen handel scheint der abwaertstrend
der letzten jahre erfreulicherweise gebrochen zu sein. fuer
1989 duerfte wieder ein gesamtumsatz von 15 milliarden
verrechnungseinheiten erreicht werden. es muss jedoch,
meine damen und herren, das bestreben beider seiten
bleiben, diesen handel nach struktur und niveau in
einer weise zu entwickeln, wie es zwischen zwei
hochindustrialisierten partnern angemessen waere.
gerade angesichts der dringend notwendigen reformen in
der ddr auch im wirtschaftlichen bereich sehe ich auf den
innerdeutschen handel neue aufgaben und neue
entwicklungen zukommen. im zusammenhang mit einer breit
angelegten wirtschaftlichen zusammenarbeit koennen von hier
wesentliche anstoesse fuer eine weitere entwicklung unserer
beziehungen ausgehen.

v.
frau praesidentin, meine damen und herren, die
bundesregierung haelt an ihrem kurs in der deutschlandpolitik
fest. sie geht dabei unveraendert von den bekannten staats- und
voelkerrechtlichen grundlagen aus. insbesondere haelt sie an
dem in der praeambel unseres grundgesetzes verankerten
ziel fest, "in freier selbstbestimmung die einheit und
freiheit deutschlands zu vollenden".
dabei ist uns die reihenfolge der ziele unserer politik durch
das grundgesetz vorgegeben. voraussetzung fuer die
wiedervereinigung in freiheit ist die freie ausuebung des
selbstbestimmungsrechts durch alle deutschen.
unsere landsleute haben keine belehrungen noetig - von
welcher seite auch immer. sie wissen selbst am besten,
was sie wollen. und ich bin sicher: wenn sie die chance
erhalten, werden sie sich fuer freiheit und einheit
entscheiden.

fuer uns in der bundesrepublik deutschland ist es eine
selbstverstaendliche nationale pflicht, bei unseren nachbarn
und partnern in der welt fuer das recht aller deutschen auf
selbstbestimmung zu werben. denn ein votum aller
deutschen fuer die einheit ihres vaterlandes wird niemand in
ost und west ignorieren koennen. wir alle, meine damen und
herren, schulden staatspraesident mitterrand grossen dank
dafuer, dass er sich am vergangenen freitag genau in diesem
sinne zum selbstbestimmungsrecht aller deutschen
bekannt hat.
wir haben in vielen bereichen - gerade in den letzten
jahren - beachtliche fortschritte erzielt. aber, meine
damen und herren, wir sind uns auch bewusst, dass es sich
dabei nur um schritte zu weitergesteckten zielen handeln
kann.
in nahezu allen bereichen der innerdeutschen beziehungen
sind die moeglichkeiten fuer die von den menschen dringend
gewuenschten verbesserungen noch lange nicht
ausgeschoepft. es gibt ein breites feld der zusammenarbeit,
der oeffnung und der gemeinsamen anstrengungen, das bislang
brachlag.
wenn die beziehungen zwischen den beiden staaten in
deutschland wirklich eine neue qualitaet bekommen sollen,
dann muessen jetzt dafuer die notwendigen voraussetzungen
in der ddr selbst geschaffen werden. es geht um einen

- wirklich offenen austausch von informationen und
meinungen,

- um einen raschen und umfassenden abbau der
beschraenkungen im reiseverkehr,

- um die abschaffung jeglicher zensur und

- um mehr austausch und zusammenarbeit im bereich der
wissenschaft, der hochschulen und der beruflichen bildung.

es geht um effektive und weitreichende gemeinsame
anstrengungen in allen bereichen des umweltschutzes, der
von den menschen in beiden staaten in deutschland als
eine der wichtigsten aufgaben fuer die erhaltung einer
lebenswerten zukunft angesehen wird.
bei all diesen aufgaben, meine damen und herren, gilt die
feststellung: so wie die gegenwaertigen probleme ihre
ursachen allein in der ddr haben, so koennen auch nur dort
die voraussetzungen fuer ihre loesung geschaffen werden.
in dieser situation koennen deshalb weder globale
wirtschaftliche hilfen noch gar sanktionen von unserer seite
weiterhelfen.
es liegt letztlich an der fuehrung der ddr, den menschen
dort eine lebenswerte perspektive zu bieten. nur so koennen
auch jene, die jetzt noch mit dem schritt der uebersiedlung
ringen, zum bleiben in ihrer heimat bewogen werden.
meine damen und herren, es darf dabei nicht nur an
symptomen kuriert werden. es muessen sich sichtbare und
spuerbare reformen vollziehen, die den menschen politische
mitbestimmung, achtung der menschenrechte und vor allem
eine konkrete hoffnung auf bessere materielle
lebensbedingungen bringen.
ein wandel ist ueberfaellig. das sagen uns die ereignisse der
letzten tage und wochen. sie widerlegen all jene stimmen,
die uns in der vergangenheit einreden wollten, dass nicht
eine veraenderung hin zu mehr freiheit zu mehr stabilitaet
fuehre, sondern die zementierung der bestehenden
verhaeltnisse. diese auffassung hat sich eindeutig als falsch
erwiesen.
wir erleben jetzt, dass nur rasche und umfassende reformen
weiterhelfen koennen. wir in der bundesrepublik deutschland
koennen nur versuchen, diese entwicklung zu foerdern.
das erfordert den dialog mit allen politischen kraeften in
der ddr, auch jenen, die jetzt dort politische verantwortung
tragen.
ich erklaere gegenueber der neuen ddr-fuehrung meine
bereitschaft, einen weg des wandels zu stuetzen, wenn sie
zu reformen bereit ist. kosmetische korrekturen genuegen
nicht.
meine damen und herren, wir wollen nicht unhaltbar
gewordene zustaende stabilisieren. aber wir sind zu umfassender
hilfe bereit, wenn eine grundlegende reform der politischen
und wirtschaftlichen verhaeltnisse in der ddr verbindlich
festgelegt wird.
die sed muss auf ihr machtmonopol verzichten, muss
unabhaengige parteien zulassen und freie wahlen verbindlich
zusichern. unter dieser voraussetzung bin ich auch bereit,
ueber eine voellig neue dimension unserer wirtschaftlichen
hilfe zu sprechen.
dabei ist auch klar, dass ohne eine grundlegende reform
des wirtschaftssystems, ohne den abbau buerokratischer
planwirtschaft und den aufbau einer marktwirtschaftlichen
ordnung wirtschaftliche hilfe letztlich vergeblich sein wird.
einen grundlegenden politischen und wirtschaftlichen
wandel in der ddr zu foerdern ist unsere nationale aufgabe.
darueber hinaus haben alle freien staaten des westens ein
interesse daran, dass der prozess des politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen wandels in mittel-, ost-
und suedosteuropa voranschreitet. deshalb sind auch alle in der
westlichen staatengemeinschaft - namentlich die mitglieder
der europaeischen gemeinschaft und unsere partner in der
atlantischen allianz - aufgerufen, diesen prozess durch
kooperationsbereitschaft zu foerdern.

vi.
reisefreiheit, freizuegigkeit und zusammenarbeit werden
- davon bin ich ueberzeugt - dazu fuehren, dass die teilung
europas ueberwunden wird. damit waeren auch die tage der
mauer in berlin gezaehlt. dieses abstossende symbol der
unmenschlichkeit muss verschwinden.
meine damen und herren, das freie berlin bleibt in
jedem fall ein pruefstein fuer die verstaendigungsbereitschaft
und den guten willen der ddr - ebenso wie der
sowjetunion und ihrer anderen buendnispartner. die bindungen
dieser stadt zur bundesrepublik deutschland, ihre
aussenvertretung durch die bundesrepublik deutschland und die
volle einbeziehung berlins in alle entwicklungen und
vereinbarungen im west-ost-verhaeltnis muss ohne wenn
und aber gewaehrleistet sein.
bis in die allerjuengste vergangenheit musste immer wieder
viel energie aufgewendet werden, um mit berlin
zusammenhaengende probleme zu loesen. diese energie liesse sich
viel konstruktiver fuer eine zusammenarbeit zum wohle der
menschen in deutschland und in europa nutzen.
fuer die bundesregierung - ich habe dies wiederholt erklaert,
ich will es auch heute wiederholen - wird es keine
deutschlandpolitik ohne berlin oder um berlin herum geben.
freiheit und lebensfaehigkeit des westlichen teils der stadt
zu wahren und seine anziehungs- und ausstrahlungskraft
zu foerdern bleibt eine unserer wesentlichen aufgaben.
hierzu tragen das engagement der drei westlichen
schutzmaechte ebenso bei wie eine dynamische entwicklung der
bindungen zwischen berlin und dem bund. im interesse der
stadt muessen diese bindungen auch bei allen kontakten
des senats mit der ddr beachtet werden. nur sie
gewaehrleisten, dass die stadt an der entwicklung des freien
teils deutschlands wie in den vergangenen jahren voll teilhat.
meine damen und herren, die bundesregierung hat die
juengsten verbesserungen im berliner reise- und
besucherverkehr nachdruecklich begruesst, sie standen seit
langem auf der "wunschliste" von bundesregierung und senat. nicht
nur fuer die berliner, sondern generell bei reisen in die ddr
gibt es freilich noch erheblichen nachholbedarf: vor allem
der mindestumtausch und die einreiseverweigerungen fuer
bestimmte personengruppen passen nicht in diese
entwicklung.
die entwicklungen in der ddr bedeuten auch fuer berlin
neue herausforderungen. der westteil berlins wird durch
einen freieren reiseverkehr verstaerkt anziehungspunkt und
anlaufstelle fuer viele besucher, auch fuer viele hilfesuchende
aus der ddr und dem ostteil der stadt werden. in gewisser
hinsicht wird dies auch fuer die grenznahen regionen in der
bundesrepublik deutschland gelten, deren foerderung
immer ein besonderes anliegen der bundesregierung war -
und auch bleiben wird.
berlin wird dadurch aber wegen seiner besonderen lage
und probleme moeglicherweise vor aufgaben gestellt sein,
bei denen es unsere besondere unterstuetzung braucht. wir
sind dazu bereit.

vii.
frau praesidentin, meine damen und herren, die deutsche
frage ist eine frage von freiheit und selbstbestimmung.
bewahren wir, so schwer uns - und vor allem auch unseren
landsleuten in der ddr - dies fallen mag, die beharrliche
geduld, auf den weg evolutionaerer veraenderung zu setzen,
an dessen ende die volle achtung der menschenrechte
und die freie selbstbestimmung fuer alle deutschen stehen
muessen.
vergessen wir auch nicht, dass die loesung der deutschen
frage nicht die deutschen allein angeht. uebersehen wir
nicht, dass sich ein scheitern der reformen in polen und
ungarn auch auf die chancen fuer einen wandel in der ddr
auswirken wuerde.
hueten wir uns vor der annahme, eine loesung der deutschen
frage mit einem drehbuch und einem terminkalender in der
hand vorherbestimmen zu koennen. die geschichte - das
zeigen gerade die letzten zwoelf monate - haelt sich nicht
an kursbuecher. historische entwicklungen laufen nicht nach
fahrplaenen ab. die enormen veraenderungen im oestlichen
teil unseres kontinents belegen dies einmal mehr auf
eindrucksvolle weise.
es kommt deshalb jetzt entscheidend darauf an, dass wir
unseren prinzipien treu bleiben:

- freiheit und demokratie, rechtsstaat und soziale
marktwirtschaft bleiben die grundpfeiler unserer politischen
und gesellschaftlichen ordnung.

- die feste und dauerhafte verankerung der
bundesrepublik deutschland im atlantischen buendnis und in
der wertegemeinschaft der freien voelker des westens ist
unwiderruflich. sie folgt aus den bitteren lehren unserer
geschichte und entspricht den entscheidungen fuer
freiheit, demokratie und rechtsstaat im innern.
nur auf dieser basis koennen wir ein verlaesslicher partner
sein und erwarten, dass wir fortschritte bei der loesung der
deutschen frage und damit im interesse der menschen in
deutschland erreichen.
meine damen und herren, wir sind keine wanderer
zwischen ost und west, und wir haben aus der geschichte
dieses jahrhunderts gelernt.
wiedervereinigung und westintegration, deutschlandpolitik
und europapolitik sind wie zwei seiten derselben
medaille. sie bedingen einander. ohne die dynamik des
westeuropaeischen einigungsprozesses wuerden heute die
verkrusteten strukturen in mittel-, ost- und suedosteuropa
nicht aufbrechen.
und ohne die feste verankerung in der
wertegemeinschaft der freien voelker haetten wir nicht das
vertrauen unserer westlichen partnerlaender, die uns in unseren
deutschlandpolitischen bemuehungen stets unterstuetzt
haben.
ich danke hier stellvertretend vor allem dem
franzoesischen staatspraesidenten francois mitterrand und
praesident george bush, die dies in den letzten tagen
wieder deutlich ausgesprochen haben.

- die aktive beteiligung der bundesrepublik deutschland
am prozess der europaeischen einigung bleibt ein
tragendes element unserer politik. heimat - vaterland und
europa: dieser dreiklang entspricht der sehnsucht der
menschen nach vertrautheit und geborgenheit, nach
offenheit, nach gemeinschaft und freundschaft, auch im
verhaeltnis zu den nachbarn.

- die zukunft deutschlands liegt in einer uebergreifenden
friedensordnung, die die menschen und voelker unseres
kontinents in gemeinsamer freiheit zusammenfuehrt. die
europaeische dimension der deutschen frage bedeutet fuer
uns: nationale einheit und europaeische einigung. aus
gutem grund verpflichtet uns das grundgesetz, unsere
verfassung, auf beides.
dabei sind wir uns sehr wohl bewusst, dass die
europaeische gemeinschaft nur ein anfang und nicht das ganze
europa ist. bei uns darf niemals die erinnerung daran
verblassen, dass warschau und budapest, dass prag, dass
rostock, leipzig und dresden selbstverstaendlich zu
diesem gemeinsamen europa gehoeren.
wir streben an - und das bleibt ziel unserer politik, wie
konrad adenauer es einmal formuliert hat -: "in einem freien
und geeinten europa ein freies und geeintes deutschland."