Rede von Frau Staatsministerin Aydan Özoğuz

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Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz,
sehr geehrter Herr Professor Razum,
liebe Podiumsteilnehmer,
liebe Gäste,

ich freue mich sehr über das große Interesse an der Auftaktveranstaltung zu meinem Schwerpunktjahr „Gesundheit und Pflege“ in der Einwanderungsgesellschaft.

Mit Herrn Bundesminister Gröhe hatte ich mich im vergangenen Jahr über die Themen ausgetauscht und wir sind gemeinsam zu dem Schluss gekommen, dass so ein Schwerpunktjahr der Integrationsbeauftragten einen wichtigen Beitrag zu mehr Vielfalt im Gesundheitswesen leisten kann.

Unser gemeinsamer Ausgangspunkt ist der Koalitionsvertrag. Hier haben wir vereinbart, die interkulturelle Öffnung des Gesundheits- und Pflegewesens zu stärken.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Unterstützung und freue mich gute Zusammenarbeit!

Meine Aufgabe als Integrationsbeauftragte ist es, für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu sorgen. Mein Auftrag ist es, für integrationspolitisch wichtige Themen zu sensibilisieren und Perspektiven aufzuzeigen. Und dazu dient die heutige Veranstaltung mit dem Fokus auf „Gesundheit und Pflege“ in der Einwanderungsgesellschaft.

Gründe für ein Schwerpunktjahr

Wissen Sie, was das „Bosporus-Syndrom“ ist? Ich habe diesen Begriff zum ersten Mal im September 2014 bei einem Fachgespräch mit Medizinern gehört. So nennen viele Ärzte das Syndrom der Wehleidigkeit. Klar: die sentimentalen, emotionalen Türken. Der Begriff wird auch in offiziellen Arztbriefen genannt. Mein Arbeitsstab und ich waren so überrascht, dass wir weiter recherchiert haben. Es gibt auch „türkische Kopfschmerzen“ oder das „Mamma-Mia-Syndrom“ für unsere italienischstämmigen Patienten.

Diese Beispiele stehen vielleicht stellvertretend dafür, dass unser Gesundheitssystem noch den Umgang mit einer vielfältigen Gesellschaft lernen muss. Wir wissen, dass Diskriminierungserfahrungen wie diese sich negativ auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirken.

Und wir wissen von weiteren strukturellen Problemen bei der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Diese werde ich in meinem Themenjahr aufgreifen.

Fünf Herausforderungen möchte ich exemplarisch nennen:

Erstens: Mangelnde Sprachmittlung.

Fehlende Deutschkenntnisse behindern die Behandlung. Im schlimmsten Fall erhält ein Patient keine Behandlung, weil der Arzt die Mitwirkung des Patienten nicht erkennt. Dass das rechtswidrig ist, und dass die Mitwirkung über Sprachmittler sichergestellt werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

Zweitens: Kaum Prävention.

Einwanderer nehmen deutlich seltener Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch. Das betrifft ganz besonders Einwanderer mit kurzen Aufenthaltszeiten.

Drittens: Häufiger Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle.

Beschäftigte mit ausländischer Staatsangehörigkeit, insbesondere türkische Beschäftigte, sind überdurchschnittlich häufig davon betroffen. Die Ursachen sind z.B. gefährdende Arbeitsbedingungen, Tätigkeiten mit hohen Verletzungsrisiken und auch sprachliche Verständigungsprobleme.

Viertens: Seltener Reha-Maßnahmen.

Ausländische Beschäftigte nehmen zweieinhalb Mal so selten Reha-Maßnahmen in Anspruch. Weil die Maß-nahmen einfach nicht bekannt sind.

Fünftens, und aktuell für mich ganz wichtig: Viele Ausländer sind von regulärer Versorgung ausgeschlossen.

Denn sie sind nicht in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung. Und sie können ihr nicht beitreten. Dies betrifft Menschen, die in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität in Deutschland leben. Und auch bestimmte Gruppen von Ausländern, die trotz ihres legalen Aufenthalts derzeit nicht von den Krankenversicherern aufgenommen.
Das schlägt sich auf ihren Gesundheitsstatus nieder. Häufig bleiben Erkrankungen unerkannt und werden verschleppt und chronifiziert. Dann wird eine kostspielige Notfallversorgung erforderlich. Oder es kommt – wie einzelne tragische Geschehnisse in Flüchtlingsunterkünften zeigen – sogar zum Todesfall.

Ich werde auch nicht vergessen, dass zum Beispiel der einmillionste Gastarbeiter einen traurigen Tod starb: Armando Rodrigues de Sà erkrankte an Krebs und musste in Portugal seine gesamten Ersparnisse für seine Behandlung aufbrauchen. Er wusste nicht, dass er Ansprüche aus der gesetzlichen deutschen Krankenversicherung hatte, die er auch in Portugal hätte in Anspruch nehmen können.

Ziele und Schwerpunkte

Die Punkte zeigen, dass die Gestaltung unseres Gesundheitssystems in der Einwanderungsgesellschaft eine große Herausforderung für uns alle ist. Wir haben Handlungsbedarf, und mir sind folgende Punkte in meinem Schwerpunktjahr besonders wichtig:

  1. Wir müssen sicherstellen, dass alle Menschen – egal welcher Herkunft – gleichermaßen vom hohen Standard unseres Gesundheitswesens profitieren. Es gibt rund zehn Millionen Kranken- und Pflegeversicherte mit Einwanderungsgeschichte. Viele dieser Versicherten finden sich im Gesundheitswesen gut zurecht. Aber allein im sprachlichen Bereich haben rund 20% Verständigungsprobleme: Mit dem Arzt, mit dem Pflegepersonal oder bei Informationsangeboten. Vor allem Neuzuwanderer und ältere Menschen haben große Schwierigkeiten. Wenn sich Patient und Arzt nicht verstehen, gibt es Probleme. Das folgende Beispiel einer Dolmetscherin im Klinikum München finde ich sehr eindrücklich. Sie sagt: „Ich dolmetsche als Krankenschwester für meine Landsleute aus Kroatien. Viele deutsche Kollegen denken erst mal, dass das nicht nötig ist. Die meisten der älteren Kroaten sind schon lange als Gastarbeiter in München und können sich ganz gut in Deutsch verständigen. Aber nur im Alltag. Für die Situation krank zu sein und im Krankenhaus zu liegen, fehlt ihnen die Sprache. Sie haben eine riesengroße Angst vor allem und verstehen nur einen Teil von dem, was man ihnen sagt.
  2. Neue Einwanderer müssen in unserem Gesundheitswesen integriert werden. Allein im letzten Jahr sind 1,2 Millionen Menschen eingewandert. Weil wir wirtschaftlich attraktiv sind. Und weil es weltweit dramatische Flüchtlingsbewegungen gibt. Asylbewerber und geduldete Ausländer erhalten nur eine eingeschränkte Gesundheitsversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Immerhin werden die Leistungen künftig nur noch 15 Monate eingeschränkt. Ich setze mich dafür ein, dass auch in diesen Zeitraum die in Bremen und Hamburg eingeführte Chipkarte auch in anderen Bundesländern eingeführt werden kann. Die Chipkarte ermöglicht Arztbesuche ohne vorherige Beantragung eines Krankenscheins beim Sozialamt.
  3. Es wird mehr ältere Menschen mit Einwanderungsgeschichte geben. Und sie werden mehr Angebote brauchen, die kulturell und sprachlich passen: Mehr ambulante und stationäre Angebote, mehr Angebote für Selbsthilfe und Angehörige. Auch heute noch versuchen viele Familien mit Einwanderungsgeschichte, die Pflege der Großeltern ganz alleine, ohne ambulante oder stationäre Unterstützung, zu meistern. Weil die Kosten der Pflege das Einkommen vieler Familien mit Einwanderungsgeschichte übersteigen. Und weil ihnen die Zugänge zu den Leistungen, z.B. zu den Pflegestufen, gar nicht bekannt sind. Das bestätigte mir sehr eindrucksvoll die Leiterin des ersten deutsch-türkischen Seniorenheims in Berlin. Sie musste in den ersten Monaten nach Eröffnung den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, über das Gesundheitssystem und die Pflegestufen aufzuklären. Vielleicht ist das gar nicht so verwunderlich, denn solche Fragen können viele Menschen ohne jegliche Einwanderungsgeschichte nicht beantworten.
  4. Beim medizinischen und pflegerischen Personal haben wir den Bedarf, mehr junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen. Hier haben wir ein großes Potential von jungen Menschen mit Einwanderungsgeschichte im Land. Wichtig ist, dass Mehrsprachigkeit als Ressource genutzt wird und sie eine fachliche Qualifizierung ihrer sprachlich-kulturellen Kompetenzen erhalten. Denn wir wissen: Ein „Migrationshintergrund“ ist weder Garant für perfekte Mehrsprachigkeit, noch für Kultursensibilität.
  5. Wichtig ist mir auch die Gesetzgebung. Hier haben wir bereits erste Verbesserungen erreicht: Im Dezember 2014 hat die Bundesregierung das Präventionsgesetz und das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen. Dort sind nun endlich migrationsrelevante Aspekte berücksichtigt worden. Der Gesetzgeber hat „Migrantinnen und Migranten“ als Zielgruppe von Leistungen zur primären Prävention und Gesundheitsförderung explizit aufgenommen. Bei der Besetzung der „Nationalen Präventionskonferenz“ werden nun auch Fachmigrantenorganisationen berücksichtigt. Darüber hinaus soll der geplante Innovationsfonds der Krankenkassen auch Möglichkeiten zur Verbesserung der Versorgungseffizienz bei Personen mit Migrationshintergrund prüfen. Das sind erste, kleine Erfolge!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere gemeinsame Aufgabe ist es, eine sprachlich, kulturell und religiös vielfältige Gesellschaft gerecht zu gestalten. Unser Gesundheits- und Pflegewesen ist dabei zentral. Ich hoffe, mit meinem Schwerpunktjahr hier einen Beitrag leisten zu können. Und darum bin ich sehr gespannt auf die heutigen Beiträge und Gespräche.

Gerne möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich Ihnen heute die druckfrische Broschüre „Das kultursensible Krankenhaus“ mitgebracht habe. Der bei meinem Amt angesiedelte Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit hat sie erstellt. Die Broschüre beschreibt umfassend die Bedürfnisse von Patienten mit Einwanderungsgeschichte im Krankenhaus. Und die Broschüre erfreut sich großer Beliebtheit: Sie ist in fünfstelliger Auflage und trotzdem immer schnell vergriffen! Sicherlich ein Hinweis, wie wichtig das Thema ist.

Liebe Frau Widmann-Mauz, insbesondere freue ich mich, dass Sie uns heute die Leitlinien und Vorhaben Ihres Ministeriums vorstellen. Und dann im Anschluss die Charta der Vielfalt für Ihr Ministerium unterzeichnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!