(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung.)
22 Min. Lesedauer
- Mitschrift Pressekonferenz
- Sonntag, 12. Dezember 2021
MP Morawiecki: Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich weiß es sehr zu schätzen, dass Polen eines der ersten Länder ist, das Sie nach der Übernahme des Amtes besuchen. Das ist ein Signal, ein Zeichen für uns, dass Sie auch sehr eng mit Polen bei der Umsetzung unserer gemeinsamen Projekte zusammenarbeiten möchten, aber auch dafür, dass wir uns den verschiedenen Herausforderungen stellen müssen, die vor uns liegen.
Über diese wichtigen Herausforderungen, über diese Dinge, die für Polen, für Deutschland und für Europa so wichtig sind, haben wir uns heute ausgetauscht. Wir haben über die polnische Ostgrenze gesprochen, die zugleich die Außengrenze der EU und der Nato ist. Ich habe dem Herrn Bundeskanzler dargestellt, was die sich verändernde Taktik des Lukaschenko-Regimes angesichts dieser künstlich hervorgerufenen Migrationskrise und des Missbrauchs von Menschen als lebendige Schutzschilde ist. Wir haben es fast jede Nacht mit Versuchen von illegalen Grenzübertritten zu tun. Die Grenze muss dicht sein, damit die EU sich verteidigen kann und damit die EU selbst über ihr künftiges Schicksal entscheiden kann.
Wir haben auch besprochen, was die künftigen Szenarien in Bezug auf die potenziellen Sanktionen sein könnten, die Gegenstand des nächsten EU-Rates sein werden: Wirtschaftssanktionen gegen das Lukaschenko-Regime, sodass Lukaschenko und auch der Kreml verstehen, dass wir entschlossen sind, diese östliche Grenze der EU zu verteidigen.
Wir haben uns auch über die Situation in der Ukraine unterhalten. Das ist unser direkter Nachbar, und zwar ein Nachbar, der sich in Folge der Eröffnung von Nord Stream 2 in einer viel schlechteren Situation befinden wird. Auch wir befinden uns in einer viel schlechteren Situation. Auch Polen, die Slowakei und die Länder des östlichen Teils der Europäischen Union könnten hier durch Russland erpresst werden. Deshalb bauen wir diese Baltic Pipeline. Wir wollen uns unabhängig machen von Russland. Aber die Ukraine ist in Gänze abhängig, was Gaslieferungen anbelangt, aber auch, was andere Energieträger anbelangt. Wir möchten natürlich nicht, dass die Ukraine seitens der Russischen Föderation erpresst werden kann. Das würde eine Destabilisierung an der östlichen Flanke der Nato und der östlichen Flanke der Europäischen Union bedeuten. Deshalb habe ich dem Herrn Bundeskanzler gesagt, mit welch großen Risiken diese Eröffnung von Nord Stream 2 behaftet ist und wie sehr dieses Szenario in Erfüllung geht, vor dem wir gewarnt haben, dass die Risiken für die Ukraine wirklich bedeutend größer werden können.
Wir haben uns über den Energiemarkt und die Energiesicherheit in der Europäischen Union unterhalten. Ich weiß aus dem Koalitionsvertrag, den Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Koalitionspartnern unterzeichnet haben, dass die Klimapolitik eine absolute Priorität für Deutschland darstellt. Wir weisen auf jene Elemente hin, die heute Probleme für die Menschen, für die Haushalte, für die Verbraucher in der EU darstellen. Die Energie wird immer teurer. Die Gaspreise führen zu einer Steigerung der Inflation und führen zu Preissteigerungen für die normalen Verbraucher und Haushalte. Wir möchten nicht, dass die Menschen in Folge von solchen Veränderungen und Tendenzen leiden.
Diese monopolistischen Praktiken von Gazprom sind das eine. Immer höhere Preise für CO2-Emissionen, das ETS-System, sind die zweite Ursache für die steigenden Energiepreise, worüber wir uns auch ausgetauscht haben. Ich habe dem Herrn Bundeskanzler auch gesagt, dass ich beim nächsten EU-Gipfel vorschlagen werde, dass jene, die diese Emissionszertifikate bekommen müssen, Akteure auf diesem Markt sind, um eben wirklich Spekulationen zu vermeiden.
Wir haben uns auch über die Gefahren ausgetauscht, die sich aus der geopolitischen Situation im Zusammenhang mit Migration ergeben, über technologische Gefahren, die Cybersicherheit und die Gefahren seitens der Russischen Föderation. Das waren auch sehr wichtige Elemente.
Polen und Deutschland gehören zu den wichtigsten Akteuren in der Europäischen Union. Wir haben uns auch der Problematik der Europäischen Union gewidmet. Wir möchten hier gemeinsam den Wunsch äußern, strittige Fragen mögen möglichst schnell beigelegt werden. Wir haben hier einen gewissen Konflikt mit der Europäischen Kommission. Ich habe dem Herrn Bundeskanzler unsere Perspektiven und Lösungen vorgestellt. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt.
Ein ganz wichtiges Thema, das wir beide im Rahmen unserer bilateralen Beziehungen auch angesprochen haben, waren die Fragen der gleichberechtigten Behandlung im Bereich des Polnischunterrichts in Deutschland und des Deutschunterrichts in Polen für die Minderheiten sowie die Narben aus der Vergangenheit, die noch nicht ganz verheilt sind. Darüber sprechen wir sehr viel und tauschen uns aus. Das ist ein sehr trennendes Thema, ein sehr lebendiges Thema, das im Zusammenhang mit unseren bilateralen Beziehungen steht.
Wir öffnen heute ein neues Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen, denn wir haben auf deutscher Seite eine neue Bundesregierung. Das ist ein symbolträchtiger Augenblick für uns. Wir werden in Polen am 13. Dezember, also in einigen Stunden, den 40. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts begehen. Ein Kriegsrecht, das von der überwiegenden Mehrheit der Polen negativ bewertet wird. Die Polen wissen, welche schlimmen Dinge dieses Kriegsrecht mit sich gebracht hat: unerfüllte Träume, die zerstörte Solidarność und dass wir die nächsten acht Jahre auf die Freiheit warten mussten, die dann endlich 1989 gekommen ist und in deren Anschluss es zur Wiedervereinigung als ein symbolträchtiges Datum gekommen ist.
Wir treffen uns hier heute nicht zum ersten Mal. Wir haben uns schon einige Male vorher getroffen. Aber in dieser Eigenschaft sind wir zum ersten Mal zusammengekommen. Ich bin überzeugt, dass wir diese weiteren Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungen mit positiven Inhalten und Worten füllen können und dass dies auch eine sehr gute Zusammenarbeit für die gesamte Europäische Union sein wird.
Vielen herzlichen Dank, Herr Bundeskanzler, dass dieses Treffen zustande kommen konnte. Es ist eines von vielen Treffen, die noch vor uns liegen. Ich danke für diesen guten Willen, die Sympathie und die Unterstützung für Polen. Ich meinerseits möchte hier sagen, dass wir ähnlich denken. Wir möchten, dass Europa stark ist, dass Europa diese Herausforderungen bewerkstelligen kann und dass es gegenüber anderen Regionen der Welt wie China, die USA und Indien konkurrenzfähig ist. Wir möchten, dass vor Europa eine große Zukunft liegt. Ich glaube, größtenteils hängt das auch davon ab, wie diese Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen realisiert wird.
BK Scholz: Ich freue mich, dass ich heute hier sein kann und so herzlich hier in Polen willkommen geheißen wurde, an einem solchen Tag, an einem Sonntag, am dritten Advent und - das will ich ausdrücklich sagen - auch am Vorabend eines schlimmen Ereignisses, an das sich in Polen alle erinnern: Das ist der 40. Jahrestag des Militärrechts und der aktiven Verfolgung der Gewerkschaft Solidarność. Ich bin sehr froh, dass wir heute, 40 Jahre später, hier zusammen als Vertreter demokratischer Staaten, die miteinander in der Europäischen Union vereint sind, stehen können. Es ist eine Demokratie, die von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes selbst erkämpft worden ist. An diesem Vorabend hier sein zu können, ist nicht nur eine wichtige Erinnerung an die Bedeutung der Demokratie und daran, wer ihre Feinde sind, sondern es ist auch ein erhebender Moment.
Es war mir auch wichtig, heute, in der ersten Woche meiner Tätigkeit, einen Antrittsbesuch bei dem Nachbarn Polen zu haben und zu meinem Amtskollegen Mateusz Morawiecki zu kommen. Wir beide haben uns schon wiederholt bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen und erst vor Kurzem in Deutschland miteinander sehr ausführlich zu zweit miteinander diskutiert. Deshalb ist es umso besser, dass wir das heute fortsetzen konnten, nun allerdings beide als Regierungschefs, und damit auch die Grundlage für die gute Zusammenarbeit legen, die wir uns für die Zukunft unserer Länder vorstellen.
Deutsche und Polen sind Nachbarn und Freunde. Wir sind Partner in der Europäischen Union und Alliierte in der Nato. Das verbindet uns auf viele Weise miteinander. Ich persönlich empfinde es immer noch als ein sehr großes Glück, dass wir hier als Freunde und Nachbarn so nebeneinander stehen können. Denn die gemeinsame Geschichte mit Deutschland beinhaltet auch sehr düstere Kapitel, in denen Deutsche großes Leid über Polen gebracht haben. Das wissen wir, und deshalb fühlen wir uns umso glücklicher, dass wir heute gemeinsam und als Freunde die Zukunft gestalten können.
Unsere Beziehungen haben auch eine Qualität im Rahmen unseres deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, dessen 30-jähriges Jubiläum wir in diesem Jahr gefeiert haben. Trotzdem geht es darum, dass wir diese Beziehungen immer weiter vertiefen und alles dafür tun, dass wir unsere gemeinsame Verantwortung für eine gute Zukunft in Europa wahrnehmen. Das bleibt - das will ich an dieser Stelle sagen - unsere große Herausforderung.
Die Welt, in der wir bald leben werden, wird sich völlig von der heutigen unterscheiden. Es wird viele, viele Mächte auf der Welt geben. Die Bürgerinnen und Bürger Europas werden nur knapp 400 Millionen in einer Welt von 10 Milliarden Menschen sein, die auf der Erde leben. Daher ist es umso wichtiger, dass wir das, was uns hier in Europa miteinander verbindet, voranstellen und ausbauen und dass wir deshalb auch gemeinsam Stärke entwickeln.
Das bedeutet auch, auf Herausforderungen zu reagieren. Die eine große aktuelle Herausforderung, vor der wir alle stehen, ist die Politik des Regimes in Minsk. Denn es sind ja die dort Regierenden, es ist Lukaschenko, der Flüchtlinge missbraucht, um seine eigene Politik verfolgen zu können. Das ist menschenverachtend; man kann es gar nicht anders sagen. Wir haben die gemeinsame Aufgabe, das zurückzuweisen. Ich bin sehr froh darüber, dass die sehr entschlossene gemeinsame Handlung vieler Staaten, aber auch der Europäischen Union insgesamt dazu beigetragen hat, dass die Flüge in der Art und Weise, wie wir es anfangs erlebt haben, die die Flüchtlinge nach Belarus gebracht haben, um sie dann zu missbrauchen und an die Grenze zu Polen zu fahren, nicht mehr stattfinden. Deshalb wird es auch weiterhin so sein, dass wir solidarisch mit Polen gegen diesen unangemessenen Weg einer hybriden Kriegsführung - anders kann man das gar nicht sagen - vorgehen und dass wir Polen dabei unterstützen, dass es sich hier nicht erpressen lassen muss. Denn es geht ja um uns alle hier in Europa.
Wir haben uns auch über die Situation der Ukraine unterhalten. Das ist auch richtig und notwendig. Denn wir wissen, dass es besorgniserregende neue Aktivitäten jenseits der ukrainischen Grenze gibt, wo Truppen zusammengezogen worden sind. Deshalb ist es ganz wichtig und klar, dass Europa gemeinsam deutlich macht, dass wir das nicht akzeptieren werden und dass wir mit dem, was dort gegenwärtig passiert, nicht einverstanden sind. Wir gemeinsam als Europäische Union, Deutschland und Polen, betonen die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und die Tatsache, dass sich alle darauf verlassen können, dass wir eine Verletzung dieser Grenzen nicht einfach akzeptieren werden.
Es ist wichtig, dass wir die Möglichkeiten für eine Entspannung der Situation nutzen. Dazu zählt insbesondere das Normandie-Format, das auch weiterhin für gute Zusammenarbeit, als Perspektive und als ein Instrument für das Gespräch miteinander genutzt werden muss. Es ist schade, dass diese Entwicklungen in den letzten Jahren nicht so vorangekommen sind, wie viele es sich erhofft haben. Aber es muss darum gehen, dass wir das alles in der Zukunft wieder aktivieren. Deshalb werden wir diese Fragen auch gemeinsam besprechen, wenn der Europäische Rat zusammenkommt.
Wir haben uns natürlich auch mit den anderen Themen des Europäischen Rates befasst, insbesondere mit der Frage, wie wir gemeinsam weiter vorgehen, um die COVID-19-Pandemie gemeinsam zu bekämpfen. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, wie wir den Energiemarkt voranbringen können. Wir sehen steigende Energiepreise, die natürlich etwas mit steigenden Rohstoffpreisen zu tun haben, aber auch mit vielen anderen Phänomenen, die miteinander diskutiert werden müssen.
Europa ist eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Uns verbinden die Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Deshalb wäre es sehr gut und hilfreich, wenn die Diskussionen und Gespräche zwischen der Europäischen Union, der Kommission und Polen bald zu einer sehr guten pragmatischen Lösung führen könnten. Wir jedenfalls würden es sehr begrüßen, wenn ein gemeinsames Verständnis von Polen und Kommission erreicht werden kann und wir uns deshalb eben auch weiterhin als Europäische Union um diese Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbunden wissen.
Schönen Dank!
Frage: An den Herrn Premierminister: Wie würden Sie den europäischen Teil des Koalitionsvertrages bewerten? Der stellvertretende Premierminister Kaczyński nannte das eine Vorbereitung auf das Vierte Reich. Ist das auch die Position der polnischen Regierung?
Haben Sie mit dem Herrn Bundeskanzler auch über die Entschädigungen gesprochen?
An Bundeskanzler Scholz: Sind Sie bereit zu Verhandlungen über Reparationen mit der polnischen Regierung, und welche Bedingungen aus Sicht der Bundesregierung vonseiten Polens erfüllt werden müssten, damit die blockierten Mittel im Streit um die Rechtsstaatlichkeit freigegeben werden können?
MP Morawiecki: Der erste Teil der Frage von Ihnen bezog sich auf verschiedene Inspirationen und Aspirationen des Koalitionsvertrages der Partner in der Bundesregierung. Ich habe das gelesen, da gibt es auch eine Bestimmung über die Föderation in Europa, also einen bürokratischen Zentrismus. So würden wir das in Polen aufnehmen, das ist die Wahrnehmung hier. Sie haben gerade angesprochen, was ich dem Herrn Bundeskanzler vor einer Stunde auch in unserer Diskussion gesagt habe; ich habe erwähnt, wie wir das sehen: Europa wird ganz stark sein, wenn es ein Europa souveräner Staaten ist, ein Europa der Vaterländer. Es wird dann stark sein, wenn alle Länder sich auf Verschiedenes spezialisieren, so wie man sich auch in verschiedenen Branchen spezialisiert und wie das auch heute ist. Gleichschaltung ist keine gute Methode für das Funktionieren von Europa. Ich habe auch hervorgestrichen, dass wir unsere Souveränität und Unabhängigkeit sehr zu schätzen wissen. Europa hat einen enormen Erfolg erreicht, weil es größtenteils seine wirtschaftlichen Bereiche integriert hat.
Auch in meinem Vorwort hier in dieser Erklärung habe ich ganz am Anfang unterstrichen, dass ich sehr aufgebaut bin, dass sich die deutsch-polnischen Beziehungen - die wirtschaftlichen Beziehungen, die Businessbeziehungen, die Handelsbeziehungen, die Investitionen - so gut entwickeln. Es gibt immer mehr Kontakte der Kleinen und mittelständischen Unternehmen. Das ist sehr positiv. Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner. Wir sind an vierter oder fünfter Stelle für Deutschland, und die ganz Visegrád-Gruppe ist ja mit Abstand der erste Handelspartner für Deutschland. Das zeigt das Gewicht und die eigentliche Bedeutung dieser Länder und auch die Bedeutung Polens in diesen Handelsbeziehungen. Es ist wichtig, dass wir diese Beziehungen weiterentwickeln. Verschiedene Konzepte eines Zentralismus, eines bürokratischen Zentralismus, sind eine Utopie und auch gefährlich.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Wir haben auch dieses Thema der Entschädigungen und der großen Leiden, die Polen im Zweiten Weltkrieg erlitten hat, erwähnt. Das ist nicht nur ein ganzes Tränenmeer unserer Mütter und ein Blutmeer unserer Väter, sondern das sind verlorene Chancen, vergeudete Chancen, eine verlorene Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit, also verlorene Entwicklungschancen. Darüber haben wir uns auch im Geiste der heutigen Beziehungen ausgetauscht.
BK Scholz: Wie Kollege Morawiecki schon gesagt hat, hatten wir ein sehr freundschaftliches, gutes Gespräch miteinander, das in der Tat angeknüpft hat an Gespräche, die wir beide auch schon vorher geführt haben. Deshalb ist es sehr wichtig, das hier noch einmal zu sagen. Die Zeit, die wir hier hatten, konnten wir nutzen, um die verschiedenen Fragen anzusprechen, und es ist immer in dieser Atmosphäre von Freundschaft und guter Zusammenarbeit geblieben, was ich sehr wichtig finde.
Wenn man den Koalitionsvertrag der jetzt regierenden Parteien in Deutschland anschaut, dann sieht man, dass der eigentlich nur ausdrückt, was viele Bürgerinnen und Bürger Deutschlands denken, nämlich dass Europa unsere Zukunft ist. Deutschland ist eine sehr pro-europäische Nation, das kann man sicherlich sagen. Wir fühlen uns verantwortlich dafür, dass Europa insgesamt gelingt, dass wir eine bessere Union bekommen, und wir wollen uns auch als solche begreifen, die verhindern, dass es Konflikte gibt zwischen Nord und Süd, West und Ost, dass irgendwelche Dinge zwischen verschiedenen Regionen Europas übertrieben zu Konflikten hochstilisiert werden, die es gar nicht sind.
Wir konzentrieren uns auf unsere gemeinsame Zukunft. Wenn die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands über Europa nachdenken, wenn die Abgeordneten des Bundestages das tun, wenn die Regierung das macht, dann geht es immer darum, dass wir diese Verantwortung auch wahrnehmen. Es wird also keinen deutschen Regierungschef geben, der in Deutschland vor Fernsehkameras tritt und sagt, was er alles von Brüssel will, um dann hinterher in Brüssel irgendwie zu verhandeln und hinterher zu sagen, was er alles erreicht hat. Unsere Aufgabe ist vielmehr, mit dafür verantwortlich zu sein, dass das Miteinander auch funktioniert. Deutschland als großes Land mitten in Europa mit seinen vielen Einwohnern und seiner starken Wirtschaftskraft muss diese Rolle des Verantwortlichseins für eine gute gemeinsame Zukunft wahrnehmen und wird das auch tun. Das ist, glaube ich, im Interesse aller hier in Polen, aber auch in vielen anderen Ländern.
Ansonsten haben wir für das, was in der nächsten Zeit und unmittelbar ansteht, natürlich Vorstellungen, über die man diskutieren kann. Wie können wir es schaffen, dass Europa in der Frage der Außenpolitik oder in Fragen von Finanz- und Steuerpolitik einfacher mit einer Stimme sprechen kann? Sie kennen die entsprechenden Vorschläge. Das aber, glaube ich, wird in Europa gut und freundschaftlich weiter diskutiert werden, und ich gehe auch davon aus, dass uns das gelingen wird.
Wir sollten nicht vergessen, dass es wirklich so ist, wie ich eben in meiner Eingangsbemerkung gesagt habe: Die Welt, in der wir leben, kennt viele Bürgerinnen und Bürger, viele mächtige Länder, und es werden noch manche dazutreten; aber Europa wird auch in Zukunft immer nur ungefähr 400 Millionen Einwohner haben. Das sollten wir immer im Blick haben, wenn wir darüber diskutieren, wie wir unsere Kräfte bündeln.
Was die weiteren Fragen betrifft, die Sie angesprochen haben, so kennen Sie die deutsche Haltung dazu. Wir haben Verträge geschlossen, die gültig sind und die Fragen für die Vergangenheit und die Entschädigungsleistungen geregelt haben. Es ist sehr gut, dass das gelungen ist. Trotzdem fühlen wir uns weiter verpflichtet, auch im Hinblick auf die moralischen Konsequenzen der vielen Zerstörungen, die Deutsche in Polen und auch an vielen anderen Orten der Welt angerichtet haben. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir uns einig sind, dass wir in Berlin einen Ort der Erinnerung errichten werden und dass der Deutsche Bundestag dazu die notwendigen Entscheidungen getroffen hat und dieses Projekt jetzt mit großer Kraft vorangetrieben wird.
Ansonsten ist das eben ein Grund mehr, dass Deutschland bereit und gewillt ist und auch weiter bereit und gewillt sein wird, sehr, sehr hohe Beiträge zur Finanzierung des Haushaltes der Europäischen Union zu leisten, wovon die meisten Mittel ja in viele andere Länder fließen und gar nicht nach Deutschland zurückkommen. Das hat die Entwicklungen im Süden Europas ermöglicht, das hat den großen wirtschaftlichen Aufschwung - der ja noch lange nicht beendet ist - im Osten Europas ermöglicht. Das freut uns, denn nur dann, wenn wir gleichwertige Lebensverhältnisse auch in Europa herstellen können und wenn Möglichkeiten der Konvergenz zwischen vielen Ländern gelingen können, wird das auch eine glückliche gemeinsame Zukunft. Deshalb ist es richtig so, dass Deutschland seinen hohen finanziellen Beitrag für Europa leistet, und das wird es auch weiter tun.
Frage: Eine Frage an beiden Herren zu Nord Stream 2: Herr Morawiecki hat die polnische Haltung vorgestellt. Was ist die Haltung der Bundesregierung, was ist Ihre Haltung, Herr Bundeskanzler, im Kontext der Gefahren seitens Russlands mit Blick auf die Ukraine? In einem Interview nach der Amtsübernahme haben Sie gesagt, dass es eine Art von Druck gegen Russland geben könnte. Haben Sie diese Haltung aufrechterhalten, möchten Sie diese Haltung aufrechterhalten?
BK Scholz: Vielen Dank für Ihre Frage. Zunächst einmal möchte ich einen Punkt in den Mittelpunkt beziehungsweise an den Anfang meiner Ausführungen stellen, den, glaube ich, wenige beachten: Deutschland hat sich entschieden, klimaneutrales Industrieland sein zu wollen. Wir werden also in knapp 25 Jahren eine weltweit wettbewerbsfähige Industrie haben, die CO2-neutral wirtschaftet, die klimaneutral wirtschaftet. Das wird uns nur gelingen mit einem massiven Ausbau der Stromproduktion in Deutschland.
Wir haben heute etwa 600 Terrawattstunden Strom, die wir nutzen. Es wird eher das Doppelte bis Dreifache werden, was wir in so kurzer Zeit im Wesentlichen aus erneuerbaren Energiequellen, also Windkraft auf hoher See und an Land sowie Sonnenenergie, produzieren werden. Das wird auch ein leistungsfähiges Stromnetz zur Voraussetzung haben, damit das gelingt.
Das heißt, all diejenigen, die sich jetzt Gedanken über diese Zeit machen, sollten im Blick haben, dass Deutschland sehr aktiv und sehr intensiv auf eine Situation zustrebt, in der für viele Prozesse, für die heute Gas, Öl und Kohle eingesetzt werden, in Zukunft Strom aus erneuerbaren Energiequellen oder Wasserstoff eingesetzt werden. In 25 Jahren, was nicht lange hin ist, wird in der Welt also die Frage des Gastransports nach Deutschland oder Europa eine ganz andere Rolle als heute spielen, weil es eben kein Brenn-, Heiz- und Treibstoff mehr geben wird, der für das ökonomische Geschehen in unserem Land noch relevant ist.
In der jetzigen Zeit hat unser Land viele Quellen, aus denen es Gas bezieht - aus Skandinavien, den Niederlanden und der Nordsee. Das europäische Gasnetz nutzt selbstverständlich auch verschiedene Pipelines, die aus Russland Gas nach Europa und eben teilweise auch nach Deutschland bringen. Unter diesen Pipelinestrukturen, die wir heute haben, ist eben auch die Leitung, die durch die Ukraine geht. Wir fühlen uns dafür verantwortlich. Deshalb hat Deutschland schon in der Vergangenheit, in der letzten Regierung - darüber hatte ich mit der damaligen Kanzlerin immer ein großes Einvernehmen -, alles dafür getan, dass zum Beispiel der Transitvertrag weiterhin verlängert wird. Wir hatten einen eigenen Beauftragten eingesetzt, damit die verschiedenen Beteiligten - Russland, Ukraine, Europäische Union -, die interessierten Kreise in den USA und in Deutschland, dafür Sorge tragen können, dass das klappt. Das haben wir auch gemacht. Wir fühlen uns auch in der Zukunft weiter dafür verantwortlich, dass das Gastransitgeschäft ein erfolgreiches Geschäft der Ukraine ist und werden dafür Sorge tragen.
Das Gleiche gilt im Übrigen im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten. Zu den Verständigungen, die wir ja auch mit der amerikanischen Regierung gefunden haben, aber die wir auch selber richtig finden, gehört auch, dass wir der Ukraine helfen werden, ein Land zu sein, das eine große Quelle für die erneuerbaren Energien sein wird und für die Produktionsnotwendigkeiten, die sich daraus ergeben. Ich knüpfe an das an, was ich eingangs gesagt habe. Da sind wir in konkreten Gesprächen, wie wir solche Entwicklungen möglich machen können.
Zurückkommend auf die aktuelle Situation wiederhole ich gern, was ich eingangs gesagt habe. Wir beobachten die Truppenbewegungen entlang der ukrainischen Grenze mit großer Sorge, und wir machen sehr klar, dass es nicht sein kann, dass die Grenzen in Europa verletzt werden. Wir halten die Integrität der Grenzen und der Länder für unverzichtbar. Niemand sollte denken, dass man sie einfach verletzen könnte, ohne dass dies harte Konsequenzen hätte.
MP Morawiecki: Unsere Haltung zu Nord Stream 2 hat sich seit vielen Jahren nicht geändert. Es ist immer die gleiche Position. Nach unserer Auffassung erhöht Nord Stream 2 die Möglichkeiten, seitens des Kremls auf die Ukraine und die EU Druck auszuüben. Es könnte ein Instrument für Preisdiktate sein. Noch vor Öffnung von Nord Stream 2 beobachten wir auch derartige Phänomene. Umso mehr beunruhigt uns, was möglich sein wird und welche Szenarien wohl nach einer eventuellen Öffnung von Nord Stream 2 eintreten werden. Wir weisen auf diese Risiken hin.
Wir weisen auf die Möglichkeit der Erpressung hin ebenso wie auf die Möglichkeit, dass diese politische und Energieschlinge enger um unseren östlichen Nachbarn, die Ukraine, gezogen werden könnte, was wiederum zu weitgehenden politischen Konsequenzen für Polen, aber auch für die Europäische Union führen könnte.
Wir weisen auf diese Risiken hin und versuchen, hier auch mit unseren deutschen Partnern Lösungen auszuarbeiten, die dann auf diese Risiken antworten würden. Das Beste wäre, eine Öffnung von Nord Stream überhaupt nicht zuzulassen. Diese Risiken sind ja noch nicht ganz erkannt, die mit dieser Öffnung im Zusammenhang stehen. Das kann dann von dem russischen Präsidenten eventuell angewandt werden, wenn diese Pipeline eröffnet wird. Wir warnen davor, und unsere Meinung bleibt seit Jahren unverändert.
Frage: Die Frage bezieht sich auf die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze. Herr Premierminister, was erwarten Sie diesbezüglich von der neuen Bundesregierung? Herr Bundeskanzler, welche konkreten Angebote in dieser Sache können Sie der polnischen Regierung machen? Wie können Sie Hilfe anbieten? Steht vielleicht eine Aufnahme von Flüchtlingen im Raum?
MP Morawiecki: Hier arbeiten wir sehr eng zusammen. Ich habe dem Bundeskanzler detailliert die Situation an unserer östlichen Grenze vorgestellt. In nächster Zukunft beabsichtigen wir, eine solche Infrastruktur aufzustellen und einen Zaun wie zwischen Griechenland und der Türkei zu errichten. Wir möchten natürlich aufs Engste mit unseren östlichen Nachbarn zusammenarbeiten, aber nicht angesichts einer solchen Situation, in der die Migranten als lebendige Waffen eingesetzt werden. Deshalb ist die Grenze dicht zu machen. Wir haben einige tausend Soldaten dort aufgestellt. Auch Beamte des Grenzschutzes und der Polizei bewachen diese Grenze.
Stellen Sie sich vor, diese Grenze würde geöffnet werden. Dann würden die allermeisten Migranten aus dem Nahen Osten dort ankommen, und Hunderte, vielleicht sogar Millionen von Menschen, würden dort über die Grenze nach Deutschland oder Holland weiter wandern wollen. Wir verteidigen die Ostgrenze der EU und verteidigen somit auch die deutsche Grenze und eine offene Schengen-Grenze, also freien Warenverkehr im Schengener Raum. Aber wir beschützen diese Grenze und verbessern unsere Möglichkeiten dort an der Grenze. Ich danke Ihnen, Herr Bundeskanzler, für die eindeutigen Worte der Unterstützung diesbezüglich. Bitte sehr, Herr Bundeskanzler.
BK Scholz: In der Tat. Es ist wirklich furchtbar, was der Regierungschef von Belarus, Lukaschenko, dort veranstaltet. Er benutzt Menschen für seine politischen Zwecke. Er missbraucht sie, ihr Schicksal, ihre Not. Deshalb war es richtig und bleibt es richtig, dass viele Staaten Europas, aber auch die Europäische Union als Ganzes, nicht nur mit konkreten Sanktionen reagiert haben, sondern dass auch ganz konkret die Gespräche mit Fluggesellschaften, Flughäfen und Ländern gesucht wurden, aus denen die Flüchtlinge hergelockt wurden, damit dieser Transport nach Belarus nicht mehr stattfindet. Wir sehen große Erfolge dieser Intervention.
Es ist auch ein gutes Zeichen, dass schon eine größere Zahl derjenigen, die nach Belarus geflogen sind, sich jetzt schon wieder auf dem Rückweg befinden. Das werden wir auch weiter unterstützen, weil das dann für diejenigen, die das machen, eine gute Auflösung dieser Situation mit sich bringt.
Ansonsten wissen wir, welche große Herausforderung Polen wegen dieses aggressiven Aktes hat. Anders kann man das ja gar nicht sagen. Wir sind deshalb auch solidarisch mit Polen. Außerdem haben wir unsererseits ja auch gemeinsame Aktivitäten mit unseren entsprechenden Behörden auf den Weg gebracht. Sie wissen, dass es gemeinsame Grenzstreifen zwischen Polen und Deutschland gibt. Das ist ein gutes Zeichen der Kooperation.
Frage: Ich möchte fragen, ob unter den Themen auch der Aufbauplan, der Rettungsplan nach der Pandemie, war. Wie sieht es Deutschland, dass das immer noch nicht verabschiedet worden ist?
MP Morawiecki: Ja, wir haben uns darüber ausgetauscht. Ich habe unsere Postulate vorgestellt. Unsere Wahrnehmung des gesamten Problems, der nationale Wiederaufbauplan, sollte möglichst schnell bestätigt werden. Da liegt die Kompetenz auf Seiten der EU-Kommission. Es wäre gut, wenn alle Mitgliedstaaten sich gleichermaßen gut entwickeln könnten. Das war ein gemeinsamer Plan. So war es gedacht, als gemeinsamer Plan für Europa. Ich habe das stark unterstützt, damit das ganze Europa nach der Pandemie wiederhergestellt werden kann. Dieser Plan sollte 2022 gleichermaßen überall aktiviert werden.
Wir haben heute eine ziemlich hohe Inflation in ganz Europa. Alle entsprechenden Impulse müssen also im Rahmen einer breit angelegten Makropolitik erwogen werden. Aber etwas anderes ist es, Projekte zu starten, und etwas anderes ist es, das hier juristisch und politisch abzusegnen und zu bestätigen.