Im Wortlaut: Merkel
Es werde keine Steuererhöhungen wegen der Flüchtlingskrise geben, betont Bundeskanzlerin Merkel im Interview mit der Bild-Zeitung. Das ändere aber nichts daran, "dass wir alles tun, um wieder zu einem geordneteren Prozess zu kommen und das schlichte Problem der großen Zahl in den Griff zu bekommen", so Merkel.
- Interview mit Angela Merkel
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Das Interview in Auszügen:
BILD: Frau Bundeskanzlerin, so viel Krise auf einmal war in Ihrer Amtszeit noch nie: Ukraine, Griechenland, jetzt die Flüchtlinge. Denken Sie manchmal: Wie schaffe ich das?
Angela Merkel: Ich stelle mir höchstens manchmal die Frage, ob ich genug Zeit habe für alles. Meine Tage sind sehr voll. Aber ich habe viele hoch motivierte Mitarbeiter.
BILD: Dass die Deutschen die Ankunft von Flüchtlingen beklatschen, scheint lange her zu sein: Hätten Sie damit gerechnet, dass die positive Stimmung so schnell umschlägt?
Merkel: Die Lebenserfahrung lehrt, dass besonders emotionale Momente nie ewig anhalten. Das war ja nicht einmal im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung so. Insofern verwundert mich diese Entwicklung nicht, denn es kommen sehr, sehr viele Flüchtlinge. Und das bringt Probleme, die wir lösen müssen.
Es sind aber immer noch enorm viele Menschen, die mit gutem Willen und großer Tatkraft in der Flüchtlingsbetreuung anpacken. Ich finde, es lohnt sich, sich an die positiven Impulse der Anfangszeit zu erinnern, das kann einen auch heute noch tragen. Und gleichzeitig brauchen wir den realistischen Blick auf die Aufgabe.
BILD: Warum haben immer mehr Deutsche Angst vor dem Flüchtlingsstrom?
Merkel: Die Sorgen sind da, weil täglich viele Menschen kommen. Ich verstehe, wenn Bürger sich fragen, wie viele es noch werden, aber weder ich noch andere können das derzeit seriös vorhersagen. Wohl aber können wir alles tun, um die Entwicklung wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Noch etwas macht vielen Menschen Sorgen: Und das ist die Erfahrung, dass ein Konflikt wie der in Syrien, der von uns in Deutschland weit entfernt schien, nun zu einer Flüchtlingsbewegung bis direkt vor unsere Haustüren führt. Darum müssen wir uns auf die Lösung des Syrien-Konfliktes konzentrieren, also an der Fluchtursache anzusetzen.
BILD: Wir dürfen Sie zitieren: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Ist es richtig, diejenigen Deutschen moralisch zu verurteilen, die angesichts der Hunderttausenden Flüchtlinge, die ins Land kommen, Sorgen und Ängste haben?
Merkel: Nein, das wäre ganz falsch. Wie gerade gesagt, ich verstehe, wie es zu manchen Sorgen und Ängsten kommt. Mein Gedanke ist ein anderer: Für mich gehört es zur grundlegenden Menschlichkeit unseres Landes, dass man einem Flüchtling wie jedem anderen Menschen erst einmal freundlich entgegentritt. Meine Aufgabe als Bundeskanzlerin ist es nicht, den ganzen Tag Sorgen zu verbreiten, sondern den ganzen Tag daran zu arbeiten, dass es Lösungen für Probleme gibt und die Sorgen so weniger werden.
BILD: "Wir schaffen das." - Wie wollen Sie die Bürger von Ihrem Kurs überzeugen, die Bürgermeister, die längst kapitulieren und sagen, wir brechen zusammen unter der Last?
Merkel: Ich spreche ja regelmäßig mit Bürgermeistern und Landräten. Ich sehe die enormen Herausforderungen, vor denen sie stehen; ich weiß, dass viele Hauptamtliche und Ehrenamtliche alles geben, was sie können. Ich sage ihnen, wie wir ihnen finanziell helfen, ihre Lasten besser zu tragen. Ich sage ihnen, welche Gesetzesänderungen wir auf den Weg gebracht haben, um Asylanträge schneller zu bearbeiten und auch mehr Menschen, die hier kein Bleiberecht haben, in ihre Heimat zurückzuführen. Aber all das ändert nichts daran, dass wir mit nationalen Regelungen allein das Problem nicht lösen können. Das geht nur mit der Solidarität Europas. Ganz Europa muss sich für die Sicherung der EU-Außengrenzen einsetzen und gleichzeitig die Flüchtlinge fair auf die Mitgliedsstaaten verteilen. Und auch über Europa hinaus muss gehandelt werden. Die Fluchtursachen können wir nur mit globalen Anstrengungen bekämpfen. Denken Sie nur an den Syrienkrieg, vor dem Hunderttausende fliehen.
BILD: Schon jetzt kündigen Kommunen Mietern ihre Wohnungen, wird leer stehender Wohnraum in Hamburg und Berlin beschlagnahmt. Droht ein gnadenloser Kampf um Wohnungen?
Merkel: Das wollen wir unbedingt vermeiden. Wir wissen, dass jetzt zügig mehr gebaut werden muss. Wir haben gerade das Baurecht so geändert, dass die energetischen Standards ausnahmsweise abgesenkt werden können, damit es schneller und günstiger geht. Es ist absehbar, dass in einigen Großstädten mit starker Wirtschaft in Zukunft besonders viele Flüchtlinge leben werden, weil sie dort Arbeit suchen. Hier braucht es ganz gezielten Wohnungsbau, denn der erschwingliche Wohnraum ist so bereits knapp.
BILD: Was sagen Sie Schulkindern, die keinen Sportunterricht mehr machen können, weil Flüchtlinge in den Sporthallen wohnen?
Merkel: Dass so etwas nie eine Dauerlösung sein wird. Für eine gewisse Zeit gibt es sicherlich Verständnis, aber dann wird es schwierig. Deswegen bieten wir ja mithilfe der Bundeswehr so viele Unterbringungsmöglichkeiten wie möglich an. Die Bürgermeister und Landräte, die ich kenne, tun wirklich alles, um Turnhallen auch schnell wieder für den Sport freizubekommen. Ich werde mich persönlich einmal im Monat mit den Vertretern der Kommunen treffen. So erfahre ich, wo die Not am größten ist und wo geholfen werden muss.
BILD: Dem Rentner, der sein Leben lang gearbeitet hat, zahlt die Krankenkasse keine Physiotherapie. Wie erklären Sie ihm, dass Sie für alle Flüchtlinge die Gesundheitskarte wollen?
Merkel: Ich sage ihm, dass kein Beitragszahler Angst zu haben braucht, dass ihm Flüchtlinge bei den Leistungen etwas wegnehmen. Mit der Gesundheitskarte schaffen wir eine Möglichkeit, Ärzte, Krankenhäuser und Ämter von unnötigem Verwaltungsaufwand bei der Krankenbehandlung von Asylbewerbern zu entlasten. Es liegt im Ermessen der Bundesländer, die Gesundheitskarte einzuführen oder auch nicht. An den eingeschränkten Gesundheitsleistungen selbst ändert sich dadurch nichts. Ein Asylbewerber darf in den ersten 15 Monaten grundsätzlich nur bei akuten Erkrankungen behandelt werden. Eine Sanierung der Zähne ist zum Beispiel nicht enthalten. Bezahlt werden die Gesundheitsleistungen der Asylbewerber übrigens nicht von der Krankenkasse, sondern von den Kommunen oder Ländern.
BILD: Eine Flüchtlingsfamilie mit zwei Kindern, die im Flüchtlingsheim Kost und Logis erhält, bekommt bis zu 1.000 Euro finanzielle Unterstützung vom Sozialamt. Wie soll das der deutsche Arbeitnehmer verstehen, der für das gleiche Geld 40 Stunden arbeiten muss?
Merkel: Ich weiß, dass das Taschengeld, das wir Flüchtlingen zahlen, im europäischen Maßstab hoch ist. Länder wie die Niederlande oder Luxemburg zahlen deutlich weniger. Und genau weil wir mögliche Fehlanreize abbauen wollen, wollen wir dazu zurückkehren, in den Erstaufnahmeeinrichtungen wieder überwiegend Sachleistungen zu verteilen und nicht Bargeld auszuzahlen.
BILD: Warum kriegen Flüchtlinge so viel Geld bezahlt?
Merkel: Das Bundesverfassungsgericht hat uns in einem Urteil zu realitätsgerecht ermittelten Zahlungen verpflichtet. Die Leistungen für Asylbewerber liegen unter dem Hartz-IV-Satz, aber nahe dran. Dieses Urteil haben wir als Bundesregierung zu respektieren. In unserem neuen Gesetz, das im November in Kraft treten soll, setzen wir auf Sachleistungen für die, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung sind und nur eine geringe Bleibeperspektive haben. Zudem sollen abgelehnte Bewerber, die ausreisepflichtig sind und dem schuldhaft nicht nachkommen, nur noch das unabdingbar Notwendige erhalten. Ich halte das für sinnvoll und vertretbar, auch wenn es dagegen wahrscheinlich wieder eine Verfassungsklage geben wird.
BILD: Müssen wir mit einem Steuer-Soli rechnen, um die Flüchtlingskrise finanziell meistern zu können?
Merkel: Nein. Wir können uns freuen, dass wir seit Jahren gut gewirtschaftet haben und unsere Wirtschaftslage zurzeit gut ist.
BILD: Ihr Wort: Es gibt keine Steuererhöhung im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise?
Merkel: Ja, definitiv.
BILD: Sie selbst haben zugegeben, nicht genau zu wissen, wie viele Millionen Flüchtlinge noch zu uns kommen. Gibt es wirklich keinen Punkt, wo Sie sagen müssen, jetzt ist Schluss?
Merkel: Wer sagen will, jetzt ist Schluss, der muss auch Schluss machen können, und das geht nicht so einfach. Daher arbeite ich daran, dass wir Ordnung in die Situation bekommen. Abgelehnte Asylbewerber müssen schneller das Land verlassen und die Verfahren beschleunigt werden. Das haben wir selbst in der Hand, wenn auch die Bandesländer ihren Teil dazu beitragen. Aber dann geht es eben auch um die EU-Außengrenzen, die wir besser schützen müssen. In Libyen gibt es derzeit keinen wirksamen Staat, dort haben Schlepperbanden leichtes Spiel. Wir werden darauf einwirken, dass wieder staatliche Strukturen entstehen, mit denen wir zusammen gegen die Schlepper vorgehen können. Auch in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei, immerhin zwei Nato-Mitgliedstaaten, machen die Schlepper, was sie wollen. Dort werden wir unsere EU-Grenzschutzmission Frontex stärken und Griechen und Türken zur besseren Zusammenarbeit bringen. Auch der Aufbau von großen Aufnahmezentren, sogenannten Hot Spots, in Griechenland und Italien kann Ordnung in das Geschehen bringen. Und nicht zuletzt werden wir der Türkei auf vielfache Weise helfen müssen, damit die Millionen syrischer Flüchtlinge dort ein besseres Leben haben.
BILD: Was muss passieren, dass aus der Ankündigung "Der Islam gehört zu Deutschland" nicht irgendwann die Feststellung "Deutschland gehört dem Islam" wird?
Merkel: So etwas muss niemand befürchten. Deutschland, das ist und bleibt das Grundgesetz, die soziale Marktwirtschaft, Religions- und Meinungsfreiheit. Wir machen den zu uns kommenden Menschen vom ersten Tag an klar: Hier gelten Gesetze und Regeln des Zusammenlebens, die sie befolgen müssen. Nur so kann Deutschland für sie ein Ort des Schutzes sein. Sie müssen akzeptieren, dass in Deutschland Frauen und Männer die gleichen Rechte haben. Sie werden sich auch von Polizistinnen oder Richterinnen oder Beamtinnen etwas sagen lassen müssen. Und sie werden sehen, dass Verwaltung bei uns nicht so funktioniert, dass man jemanden mit Geld bestechen kann und dann das gewünschte Ergebnis bekommt. Ich bin überzeugt, dass die meisten das alles respektieren und schnell schätzen lernen werden.
BILD: Warum holen Sie sich nicht im Bundestag ein klares Votum - zum Beispiel verbunden mit einer Vertrauensfrage - für die Flüchtlingspolitik?
Merkel: Ich bin für vier Jahre gewählt und habe den Auftrag, im Dienste unseres Landes zu arbeiten. Ich versuche, den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder zu erläutern, was meine Ziele sind und wie ich sie umsetze - so wie jetzt im Interview mit Ihnen.
BILD: Nicht nur Horst Seehofer, sondern auch Bundespräsident Gauck hat sich von Ihnen abgesetzt: "Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich." Die Aufnahmekapazität Deutschlands sei begrenzt. Das hat gar nichts mit Ihrer Haltung "Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze" zu tun. Fühlen Sie sich vom Bundespräsidenten im Stich gelassen?
Merkel: Ich kommentiere die Reden des Bundespräsidenten grundsätzlich nicht - das ist guter Brauch zwischen den Verfassungsorganen. Der Bundespräsident hat die Macht des Wortes, meine Funktion ist operativ, also handelnd. Das heißt, dass ich die Probleme lösen muss. Meine Herangehensweise lautet: Wir schaffen das, weil wir ein starkes Land sind und weil wir gleichzeitig in Europa und außerhalb Europas Lösungen suchen, die die Zahl der zu uns kommenden Flüchtlinge abnehmen lassen, weil sie an den Ursachen ansetzen.
BILD: "Diejenigen, die nicht vor politischer Verfolgung oder Krieg flüchten, sondern aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen, werden nicht in Deutschland bleiben können." Das sagen Sie immer wieder! Warum sind dann über 600.000 Menschen vom Balkan immer noch bei uns und nicht längst abgeschoben?
Merkel: Das ist in der Tat unbefriedigend. Wir werden in dieser Frage schnell entscheiden und haben dafür extra vier Zentren aufgebaut, die diese sogenannten Altfälle überprüfen sollen. Diejenigen, die gut integriert sind, auch Arbeit haben, und deren Kinder schon jahrelang hier zur Schule gehen, bekommen wohl auch eine Bleibeperspektive. Jetzt neu ankommende Menschen ohne Bleibeperspektive werden direkt zurückgeführt. Dies macht zum Beispiel Bayern bereits sehr konsequent. Wir wollen, dass diese Menschen künftig so lange in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben, bis das Asylverfahren durchgeführt und wenn nötig die Ausreise angeordnet werden kann. Sie haben recht: Bei den Rückführungen müssen wir noch konsequenter und schneller werden. Ich sehe erste Fortschritte, wir denken aber jetzt gemeinsam mit Ländern und Kommunen darüber nach, wie wir uns weiter verbessern können. Ein Problem sind die vielen ärztlichen Krankschreibungen von Ausreisepflichtigen. Eine weitere Schwachstelle ist, dass Rückführungstermine bisher angekündigt wurden. Das führte nicht selten dazu, dass die Person abtauchte. Also sollen diese Termine demnächst nicht mehr angekündigt werden.
BILD: Spricht der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban nicht eine Wahrheit aus, wenn er sagt: "Es gibt kein Recht auf ein besseres Leben"?
Merkel: Es gibt ein Recht auf Schutz vor Krieg und Verfolgung. Es steht für politisch Verfolgte in unserem Grundgesetz und für Kriegsflüchtlinge in der Genfer Flüchtlingskonvention, die in allen Staaten Europas gilt. All denen, die diesen Schutz nicht beanspruchen können, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen kommen, sagen wir klar, dass sie unser Land wieder verlassen müssen, so schwer das auch für sie sein mag.
BILD: Wie wollen Sie den Rest von Europa dazu bekommen, tatsächlich Flüchtlinge fair zu verteilen? Zum Beispiel den britischen Premierminister Cameron, der im kommenden Jahr ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU zu bestehen hat und seinen Landsleuten versprochen hat, jeder weiteren Immigration den Riegel vorzuschieben?
Merkel: Großbritannien nimmt genau wie Irland und Dänemark nicht am europäischen Asylsystem teil. Sie können freiwillig mitmachen, müssen es aber nicht. Insofern hat das Referendum mit den Verteilungsfragen erst einmal nichts zu tun. Was die faire Verteilung angeht, so bewegen wir uns langsam, aber sicher voran. Noch im August hatten wir überhaupt keinen Verteilmechanismus. Jetzt haben wir beschlossen, insgesamt 160000 Flüchtlinge solidarisch über die Mitgliedsstaaten zu verteilen, in den nächsten Tagen läuft das an. Luxemburg nimmt Syrer aus Griechenland auf und Schweden Flüchtlinge aus Italien. Das sind immerhin die ersten Anfänge; nur ein erster Schritt, wenn wir unsere Gesamt-Flüchtlingszahlen sehen, aber auf dem kann man aufbauen.
BILD: Warum trifft uns dieser Exodus - aus dem Nahen Osten, aus Afrika und den vielen anderen Krisenländern - so unvorbereitet? War das nicht alles absehbar, wenn man den Syrienkonflikt sieht und wenn man sieht, wie viele Flüchtlinge bereits in der Türkei waren und gewartet haben?
Merkel: Wenn man Geschichte im Rückblick betrachtet, scheint sie vorhersehbarer als sie ist. Manche haben auch nach 1989 gefragt, warum einen eigentlich der Fall der Mauer so überraschend traf. Warum hatte eigentlich keiner einen Masterplan in der Schublade, wo man doch schon 40 Jahre darauf gewartet hatte, dass die deutsche Einheit endlich kommt, und wo doch der RIAS jeden Morgen deutlich gemacht hat, dass die DDR nicht ewig bestehen werde.
BILD: Aber Millionen Flüchtlinge waren bereits seit Jahren in der Türkei. Und der Syrien-Konflikt hat sich immer weiter verschärft ...
Merkel: Das ist richtig, und doch war ein solcher Exodus nach Europa, wie wir ihn jetzt erleben, auch für mich wie für meine europäischen Kollegen nicht absehbar. Noch im Frühjahr haben wir uns auf die überfüllten Boote konzentriert, die von Libyen nach Italien unterwegs waren. Dann wurde die Verzweiflung der Menschen in Syrien durch das Vorrücken des IS und Assads Bomben immer größer, die Lage in den Flüchtlingslagern um Syrien herum verschlechterte sich immer mehr und Zigtausende verließen die Türkei in Richtung Europa. Parallel dazu setzten sich auch Tausende von Flüchtlingen aus dem Irak in Bewegung.
BILD: Sie sprechen den Syrien-Konflikt an: Hat der Westen dort komplett versagt?
Merkel: Die Diplomatie des gesamten Westens - aber auch der arabischen Staaten, Russlands und der regionalen Mächte - hat bis jetzt in Syrien überhaupt keinen Erfolg gehabt. Das ist die bittere Wahrheit. Daraus folgt nicht, aufzugeben, sondern im Gegenteil: Wir müssen jetzt umso mehr nach einem Einstieg in eine politische Lösung suchen und gleichzeitig unseren erheblichen Beitrag für die Stabilität der Nachbarländer fortsetzen. Das Flüchtlingsproblem zeigt es uns tagtäglich, dass Syrien vor der Haustür Europas liegt.
BILD: Wie fühlt es sich an, von Flüchtlingen in Lagern auf der ganzen Welt als "Angel Merkel", also Engel Merkel, gefeiert zu werden?
Merkel: Damit beschäftige ich mich ehrlich gesagt nicht. Deutschland ist ein Land der Humanität und des Rechts. Wer hier Schutz sucht, wird ordentlich behandelt. Darauf können wir stolz sein. Das ändert aber nichts daran, dass wir alles tun, um wieder zu einem geordneteren Prozess zu kommen und das schlichte Problem der großen Zahl in den Griff zu bekommen.
(...)
BILD: Wären Sie persönlich bereit, bei sich zu Hause Flüchtlinge aufzunehmen?
Merkel: Auch wenn ich großen Respekt für die Menschen habe, die das tun, könnte ich mir das für mich derzeit nicht vorstellen. Ich sehe es außerdem als meine Aufgabe an, alles zu tun, dass der Staat dieser Aufgabe so vernünftig wie möglich nachkommen kann.
Das Interview führten Kai Diekmann, Paul Ronzheimer und Kiki Kausch für die BILD.