„Indem wir hier gemeinsam gedenken, setzen wir ein Zeichen”

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Bundeskanzler Scholz am Rednerpult bei der Gedenkveranstaltung am KZ Neuengamme.

Bundeskanzler Olaf Scholz hielt bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslager Neuengamme.

Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler

„Zu erinnern, das heißt, aus der Vergangenheit zu lernen. Deshalb kann das Erinnern auch nie enden, weil wir die Lehren brauchen, die wir daraus ziehen – heute und in Zukunft!”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz zu Beginn der Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Neuengamme und des Endes des Zweiten Weltkrieges in Hamburg. Deshalb sei eine der ganz zentralen Lehren aus dem von den Deutschen angezettelten Krieg, „dass wir Europäerinnen und Europäer, Krieg zwischen unseren Völkern ein für allemal hinter uns lassen müssen”, betonte Scholz. Nach seiner Rede traf der Kanzler die Überlebende Helga Melmed zum Gespräch.

Am 2. Mai 1945 nahmen britische Truppen das Konzentrationslager ein. Im Hauptlager und in über 85 Außenlagern waren mehr als 100.000 Menschen aus ganz Europa inhaftiert. Das Konzentrationslager Neuengamme wurde 1938 errichtet. Gründe für die Einweisung waren zumeist ihr Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft, Auflehnung gegen Zwangsarbeit oder rassistisch motivierte Verfolgung. Neuengamme ist heute ein internationales Mahnmal. Die Gedenkstätte umfasst ein Ausstellungs-, Begegnungs- und Studienzentrum und wird jedes Jahr von etwa 100.000 Menschen besucht.

Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede:

Sehr geehrte Frau Melmed – es ehrt uns, Sie heute unter uns zu haben,

sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, lieber Peter,

sehr geehrter Herr von Wrochem,

sehr geehrte Frau Letterie,

meine Damen und Herren!

Als heute vor 80 Jahren, mit der kampflosen Übergabe der schwer zerstörten Stadt, für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner Hamburgs der Zweite Weltkrieg endete, gab es hier in Neuengamme niemanden mehr zu befreien. Die britischen Truppen, die das Lager am 4. Mai erreichten, fanden es menschenleer vor. Die Spuren der hier begangenen Verbrechen waren sorgsam verwischt worden. Über die hier geschehenen Menschheitsverbrechen sollte – so der Wunsch der Nationalsozialisten und ihrer Helfershelfer – der Schleier des Vergessens gebreitet werden. Meine Vorredner haben darüber bereits gesprochen.

Die verbliebenen Häftlinge waren zuvor auf Todesmärsche gezwungen oder nach Bergen-Belsen, Sandbostel und Wöbbelin verschleppt worden. Die verbliebenen mehr als 9.000 Frauen und Männer wurden schließlich in heillos überfüllten Passagierschiffen in der Lübecker Bucht zusammengepfercht.

Es ist eines der letzten und zugleich eines der tragischsten Kapitel des von Deutschland gelegten Weltenbrands, dass zwei der Schiffe am 3. Mai durch irrtümliche Flugzeugangriffe der Royal AirForce in Brand gerieten und schließlich sanken. So starben am Tag der Befreiung Hamburgs in der Lübecker Bucht insgesamt beinahe 7.000 Häftlinge aus Neuengamme. Sie verbrannten, ertranken oder wurden beim Versuch, sich zu retten, erschossen.

Wenn wir heute an diesen 3. Mai 1945 erinnern, dann gedenken wir der mehr als 42.900 Menschen, die in den Lagern von Neuengamme, auf Todesmärschen und schließlich in der Lübecker Bucht ihr Leben verloren, die erschlagen, erhängt, erschossen oder durch Giftgas getötet wurden, die verhungerten oder durch unterlassene ärztliche Hilfe starben.

Wir gedenken der sechs Millionen Frauen, Männer und Kinder jüdischen Glaubens, die Opfer wurden der Shoah, dieses von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechens. Ihnen gilt unser bleibendes Versprechen: Nie wieder!

Wir gedenken der Frauen und Männer aus ganz Europa, die unter mörderischen Bedingungen Sklavenarbeit für die Kriegswirtschaft leisten mussten – so wie hier in Neuengamme und seinen mehr als 85 Außenlagern –, bei der Herstellung von Klinkersteinen, bei der Schiffbarmachung der Dove Elbe, in Tongruben, in der Rüstungsproduktion.

Sie gehörten zu den insgesamt mehr als 20 Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten. 20 Millionen – das ist eine monströs-gewaltige Zahl! 20 Millionen – diese Zahl führt jedes „Wir haben doch von nichts gewusst“ ad absurdum. Die nationalsozialistischen Verbrechen fanden vor aller Augen statt – auch hier in Hamburg.

Umso mehr schmerzt es, wie unwürdig mit der Geschichte dieses Ortes über lange Zeit umgegangen wurde – auch durch die spätere Nutzung als Gefängnis. Das Konzentrationslager laste „wie ein Fluch auf Hamburgs Gewissen, seiner Ehre und seinem Ruf“, so formulierte es die Hamburger Gefängnisbehörde in einem Brief an den Senat im Jahr 1947. Die Nutzung als Gefangenenanstalt biete die Gelegenheit, diese Erinnerung – und das ist ein Zitat – „auszulöschen“.

Es sind Worte, die einen erschaudern lassen. Aber sie zeigen, dass nicht nur in Hamburg, sondern an vielen Orten in Deutschland in den Nachkriegsjahren Schuld und Verbrechen aus der Erinnerung gelöscht, verdrängt und vergessen wurden. Doch zum Glück gab und gibt es Frauen und Männer, die sich gegen den Versuch des Auslöschens, des Verdrängens und Vergessens der Schuld und der Verbrechen stellen, die das Gedenken an die Opfer wachhalten.

Dass heute hier nicht nur eine Gedenkstätte, sondern ein moderner Ausstellungs-, Begegnungs- und Studienort für junge Menschen entstanden ist, ist das Verdienst vieler. Das ist das Ergebnis ihres teils jahrzehntelangen Ringens – gegen viele Widerstände.

Ganz zentral waren und sind die Bemühungen des Dachverbandes der ehemaligen Häftlinge und ihrer Angehörigen, der Amicale Internationale KZ Neuengamme – seit ihrer Gründung in den 1950er Jahren eine wahrhaft paneuropäische Bewegung für die Verteidigung der Würde der Opfer – gegen das Vergessen, gegen jedes Relativieren.

Es berührt mich sehr zu sehen, wie viele von Ihnen aus dem Ausland, heute, 80 Jahre später, hierher nach Hamburg gekommen sind – aus Frankreich, aus Spanien, aus Belgien, aus den Niederlanden, aus Dänemark, aus Polen, aus der Ukraine, aus Israel und weiteren Ländern. Sie sind gekommen, um gemeinsam mit uns zu erinnern. Dafür sage ich Ihnen auf tiefstem Herzen: Vielen Dank! 

Zu erinnern, das heißt, aus der Vergangenheit zu lernen. Deshalb kann das Erinnern auch nie enden, weil wir die Lehren brauchen, die wir daraus ziehen – heute und in Zukunft!

Eine der ganz zentralen Lehren aus dem von Deutschen angezettelten Krieg, aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, aus dem Mord an Millionen unschuldigen Frauen, Kindern und Männern, ist unsere tiefe Überzeugung, dass unser Kontinent, dass wir Europäerinnen und Europäer, Krieg zwischen unseren Völkern ein für allemal hinter uns lassen müssen.

Umso tragischer ist, dass der russische Präsident den Krieg zurück nach Europa gebracht hat und mit ihm die todbringende Absicht, Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Wir dürfen und wir werden uns damit nicht abfinden.

Als ich vor zehn Jahren bereits einmal hier in Neuengamme eine Rede halten durfte, da wurde hier der Buchenwald-Überlebende und spätere französische Bildungsminister Pierre Sudreau zitiert. Sein Ausspruch ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Er lautet: „In den Konzentrationslagern wurde ich zum Europäer“.

Meine Damen und Herren! In diesen Worten steckt ein großes Vermächtnis, und eine Aufforderung – vor allem an mein Land, an Deutschland –, die Aufforderung nämlich, unser geeintes und weiter zusammenwachsendes Europa zu schützen, zu verteidigen und zu bewahren. Denn dieses Europa ist der lebende und atmende Gegenentwurf zu den mörderischen Gräueln des Krieges.

Die Werte, auf denen unser Europa errichtet ist – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit –, sie sind mit kriegerischem Imperialismus, mit dem Denken in Einflusssphären, mit der Verachtung für das internationale Recht nicht vereinbar. Und so ist es kein Wunder, dass Autokraten, Extremisten und Populisten weltweit und auch in unseren Ländern dieses friedliche und vereinte Europa angreifen und zerstören wollen.

Wir dürfen das nicht zulassen. Gerade Deutschland darf das nicht zulassen, weil wir um die Abgründe wissen müssen, die mit Imperialismus, Entrechtung und Rassenhass einhergehen.

Meine Damen und Herren! Neuengamme ist ein Ort des Schreckens, ein Ort der Schuld und der immerwährenden Verantwortung Deutschlands. Doch indem wir hier zusammenkommen, indem wir hier gemeinsam gedenken, setzen wir ein Zeichen, dass die tiefen Gräben der Kriege und jahrhunderterlanger Feindschaft überwunden werden können: in einem Europa der Versöhnung, der Freiheit und der Demokratie, in Gesellschaften, die Antisemitismus und Rassismus bekämpfen und die Würde des Menschen – die Würde jedes Menschen – schützen.

Schönen Dank.