„Mit Indien verbinden uns die grundlegenden Werte der Demokratie“

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Interview des Bundeskanzlers mit der Times of India „Mit Indien verbinden uns die grundlegenden Werte der Demokratie“

Für Bundeskanzler Scholz sind die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Indien von großer Bedeutung. In einem Interview mit der Times of India beleuchtet er die vielfältigen Potenziale für eine verstärkte Zusammenarbeit.

6 Min. Lesedauer

Bundeskanzler Scholz steigt in Neu-Delhi aus dem Regierungsflugzeug aus und läuft auf dem roten Teppich an indischen Frauen in traditioneller Kleidung vorbei.

Bundeskanzler Scholz bei seiner Ankunft am Flughafen in Neu-Delhi. Vor seiner Reise nach Indien hat er der Times of India ein Interview gegeben. 

Foto: Bundesregierung/Kugler

Herr Bundeskanzler, das ist Ihr erster Besuch in Indien seit Ihrem Amtsantritt. Welche Bereiche wollen Sie im Hinblick auf die bilateralen Beziehungen in den Mittelpunkt stellen, und gibt es bestimmte Ergebnisse, die Sie sich von diesem Besuch erhoffen?

Bundeskanzler Olaf Scholz: Ich bin dankbar, hier in Indien zu sein, und freue mich, Premierminister Modi wiederzusehen. Indien ist die größte Demokratie der Welt, zählt gemeinsam mit Deutschland zu den fünf führenden Volkswirtschaften weltweit und ist ein starker und mächtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Union. Wir wollen unsere bilateralen Beziehungen mit Indien und unsere Zusammenarbeit in globalen Fragen weiter verstärken, beispielsweise beim Kampf gegen den Klimawandel und bei einer gerechten, grünen und nachhaltigen Umgestaltung unserer Volkswirtschaften.

Das Potenzial für eine verstärkte Zusammenarbeit ist enorm in Sektoren wie erneuerbare Energien, Wasserstoff, Mobilität, der Pharmaindustrie und der Digitalwirtschaft, aber auch in vielen anderen Bereichen. Wir können viel voneinander lernen. Ohne Schlüsselländer wie Indien werden wir es nicht schaffen, den weltweiten Temperaturanstieg so weit zu begrenzen, dass das 1,5-Grad-Ziel des Übereinkommens von Paris in Reichweite bleibt, und den grünen Wandel zu meistern. Wir wollen außerdem unsere wirtschaftlichen Beziehungen vertiefen, weshalb ich auch von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet werde.

In diesem Sinne hoffen wir, dass mit einem zukünftigen ausgewogenen, ehrgeizigen und umfassenden Handels- und Investitionsabkommen zwischen Indien und der EU, das von gegenseitigem Nutzen ist, beide Seiten noch mehr profitieren würden. Deshalb konzentrieren wir uns auch auf dieses Thema und unterstützen die laufenden Verhandlungen mit aller Kraft. 

Ihr Besuch findet während der indischen G20-Präsidentschaft statt. Was erwarten Sie vom indischen Vorsitz in einer Zeit, in der die Welt noch immer von den Nachwirkungen der Pandemie und dem andauernden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine erschüttert wird? 

Scholz: Ich gratuliere Indien zur Übernahme der G20-Präsidentschaft. Die G20 ist ein zentrales Forum der multilateralen Zusammenarbeit und der internationalen Ordnungspolitik. Deutschland steht bereit, den indischen Vorsitz dabei zu unterstützen, ehrgeizige und konkrete Ergebnisse im Hinblick auf zentrale globale Herausforderungen zu erzielen, beispielsweise die Sicherstellung eines kraftvollen und nachhaltigen Wachstums, die Bekämpfung des Klimawandels und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung.

Der brutale und ungerechtfertigte Angriffskrieg Russlands und die groß angelegte Invasion in die Ukraine stellen eklatante Verstöße gegen die regelbasierte internationale Ordnung und die Charta der Vereinten Nationen dar und untergraben das Fundament der auf Rechtsstaatlichkeit beruhenden internationalen Ordnung. Dieser Krieg betrifft uns alle: Stellen Sie sich nur einmal vor, in ein Nachbarland einzumarschieren würde zur akzeptierten Norm werden! Auf dem letzten G20-Gipfel auf Bali im November 2022 hat die G20 in dieser Hinsicht ein starkes Signal gesendet. Es wird wichtig sein, während der indischen G20-Präsidentschaft darauf aufzubauen. Die G20 muss insbesondere weiterhin Antworten auf die weltweiten Auswirkungen des russischen Angriffskriegs finden. 

Indien möchte für den Globalen Süden sprechen, da die Entwicklungsländer am stärksten von den Engpässen bei Lebensmitteln, Treibstoffen und Düngemitteln betroffen sind, die aufgrund des Konflikts bestehen. Premierminister Modi hat vor Kurzem ein virtuelles Treffen mit Entwicklungsländern geleitet, bei dem über deren Sorgen und Nöte beraten wurde. Wie beurteilen Sie diese Initiative Indiens und welche Art von Unterstützung kann Indien von Deutschland erwarten, wenn es darum geht, die Auswirkungen der globalen Lebensmittel- und Energiekrise abzufedern?

Scholz: Wir sind überzeugt, dass eine umfassende internationale Zusammenarbeit und Geschlossenheit von entscheidender Bedeutung sind, um die Folgen des russischen Angriffskriegs zu bewältigen. Ich würdige daher die Initiative von Premierminister Modi, besonders betroffene Länder zusammenzubringen. Die G20 kann unter dem indischen Vorsitz dieses Jahr eine entscheidende Rolle in dieser Hinsicht spielen – auch, indem unsere Partner außerhalb der G20 miteinbezogen werden.

Unter der G7-Präsidentschaft Deutschlands wurde letztes Jahr das Bündnis für globale Ernährungssicherheit ins Leben gerufen, das bereits Unterstützung für diejenigen Länder zur Verfügung stellt, die besonders stark von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Auch über die Themen Lebensmittel und Energie hinaus gibt es viel Gesprächs- und Handlungsbedarf – beispielsweise mit Blick auf die globale Finanzarchitektur, Handel, Gesundheit und Bildung. Um diese Herausforderungen anzugehen, müssen wir gemeinsam nach vorne schauen. Indien ist zum Beispiel führend bei der Transformation von Ernährungs- und Landwirtschaftssystemen, auch auf internationaler Ebene, und hier können wir viel von Indien lernen.

Deutschland wiederum nimmt eine Vorreiterrolle bei den globalen Bemühungen ein, Dekarbonisierung und wirtschaftliche Entwicklung gleichzeitig voranzutreiben und dabei auch für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Bei diesen Bemühungen ist Indien ein wichtiger Partner und nimmt eine Führungsrolle ein, auch wenn es darum geht, weltweite Unterstützung zu mobilisieren. Wir sind bereit, unsere bestehende Zusammenarbeit noch weiter zu vertiefen.

Die Unterschiede zwischen Indien und Europa im Umgang mit Russland haben zugenommen. Sie haben gesagt, dass um den Jahrestag des Ukrainekriegs herum neue Sanktionen geplant sind. Indien möchte keine Sanktionen, die die Weltwirtschaft noch stärker belasten könnten. Russland hat sich zudem zum führenden Öllieferanten Indiens entwickelt. Besteht nicht das Risiko, dass weitere Sanktionen zu noch größeren wirtschaftlichen Schwankungen führen? Und wie beurteilen Sie die Haltung Indiens gegenüber Russland?

Scholz: Die Welt wird zunehmend multipolar. In Zukunft wird es zahlreiche mächtige Nationen geben. Wenn wir gemeinsam erfolgreich an globalen Herausforderungen arbeiten wollen, brauchen wir eine robuste, verlässliche und regelbasierte internationale Ordnung. Angriffe auf Nachbarländer, das gewaltsame Besetzen von Hoheitsgebiet, das Begehen schrecklicher Kriegsverbrechen – das können wir nicht hinnehmen. Wenn wir uns dem nicht entgegenstellen, könnte jedes Land als nächstes an der Reihe sein. 

Mit Indien verbinden uns die grundlegenden Werte der Demokratie und die Achtung des Völkerrechts. Gemeinsam stehen wir für die Souveränität von Staaten und die friedliche Beilegung von Konflikten weltweit ein. Wir stehen fest hinter der Botschaft, dass der Neo-Imperialismus nicht siegen wird – die Geschichte hat dies schon mehrfach bewiesen. 

Gemeinsam mit vielen internationalen Partnern haben wir aus zwei Gründen Sanktionen gegen Russland verhängt: Erstens, um Russlands Fähigkeit, diesen brutalen Angriffskrieg fortzuführen, einzuschränken. Und zweitens, um die Kosten dieses Krieges denen aufzuerlegen, die ihn ermöglichen und von ihm profitieren. Wir achten sehr sorgfältig darauf, dass unsere Sanktionen sich nicht nachteilig auf die Weltwirtschaft auswirken und insbesondere nicht die Lebensmittel- und Energieexporte in Drittstaaten treffen. Im Gegensatz dazu setzt Russland Nahrungsmittel- und Energiepreise als Waffe ein, unter anderem durch die gezielte Zerstörung von Landwirtschaftsbetrieben, Häfen und Straßen in der Ukraine. 

Indien hat Europa vorgeworfen, dem indopazifischen Raum nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken, und das in einer Zeit, in der die Region sich großen sicherheitspolitischen Herausforderungen vonseiten eines zunehmend selbstbewussten Chinas gegenübersieht. Inzwischen gibt es eine deutsche Indopazifik-Politik, doch wie weit ist Deutschland denn bereit zu gehen, um einen freien, offenen und integrativen indopazifischen Raum sicherzustellen, insbesondere in Bezug auf eine politische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit?

Scholz: Deutschland baut seine Partnerschaft mit dem indopazifischen Raum aus, so wie es in den Leitlinien der Bundesregierung zum Indopazifik festgelegt ist. Es ist kein Zufall, dass mich meine erste Reise in die Region als Bundeskanzler im April 2022 nach Japan führte. Im Mai fanden dann Regierungskonsultationen mit Indien statt. Indien und Indonesien zählten zu den Partnerländern beim G7-Gipfel in Deutschland im Juni letzten Jahres, und im November 2022 bin ich in Begleitung einer großen Wirtschaftsdelegation nach Vietnam und Singapur gereist. 

Deutschland teilt das Interesse Indiens an freien Seewegen und der Achtung des Völkerrechts in der Region und darüber hinaus. Um dies zu unterstreichen, haben wir 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren eine Fregatte in die indopazifische Region entsandt. Letzten Sommer hat unsere Luftwaffe an von Australien geführten Manövern teilgenommen und so unsere Interoperabilität mit Partnern in der Region unter Beweis gestellt. Wir werden diese Einsätze fortführen und auf diese Weise militärische Präsenz in der Region zeigen und in verschiedensten Formaten mit gleichgesinnten Partnern wie Indien zusammenarbeiten. Deutschlands Engagement im indopazifischen Raum war noch nie so groß wie heute. 

Wir wissen auch zu schätzen, dass wir bei der internationalen Klimapolitik und bei der Energiewende für die gleichen Ziele eintreten. Ich würde diese Zusammenarbeit gerne vertiefen: durch einen offenen und kooperativen Klimaclub und indem wir neue Partnerschaften für eine gerechte Energiewende schaffen, darunter mit Indien und anderen Ländern in der asiatisch-pazifischen Region.