"Ein gemeinsames Erlebnis über Grenzen hinweg"

Interview mit Künstler Olafur Eliasson "Ein gemeinsames Erlebnis über Grenzen hinweg"

Jede Stimme wird gehört - "Earth Speakr" heißt das interaktive Kunstwerk, das Olafur Eliasson für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft geschaffen hat. Dafür arbeitet er mit den jüngsten Bürgerinnen und Bürgern Europas zusammen. Wir haben den Künstler zum Interview getroffen.

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Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson hat für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ein interaktives Kunstwerk mit Kindern aus ganz Europa geschaffen

Portrait des Künstlers Olafur Eliasson

Foto: Brigitte Lacombe

Herr Eliasson, Sie wurden gebeten, ein Kunstwerk für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft zu schaffen. Was waren Ihre wichtigsten Überlegungen, als Sie diese Idee entwickelten?

Olafur Eliasson: Für mich war Earth Speakr eine Gelegenheit, Ideen zusammenzuführen, die ich schon seit vielen Jahren verfolge. In vielen meiner Kunstwerke setze ich mich damit auseinander, wie flüchtig unsere Wahrnehmung ist. Ich interessiere mich für die Natur, aber auch für unsere Psychologie, die unsere Wahrnehmung einfärbt. "Wie geht es denn der Natur wirklich?"  Diese Frage beschäftigt mich immer mehr. Wenn wir uns den Weg der Menschheit anschauen, dann erkennen wir heute: Die, mit denen wir den Planeten teilen, müssen auch Rechte haben.

Als ich eingeladen wurde, dieses Kunstwerk für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft zu entwickeln, wollte ich ein gemeinsames Erlebnis über Grenzen hinweg schaffen. Es war der richtige Zeitpunkt, sich einigen der wichtigsten Fragen unserer Zeit zu stellen. Die Klimabewegung, die junge Menschen ins Leben gerufen haben, führt uns deutlich vor Augen, dass die Jugendlichen eine aktive Antwort wollen, wenn es darum geht, die Zukunft – ihre Zukunft – zu schützen. Mich hat auch das allgemeine Gefühl inspiriert, dass die Dringlichkeit des Anliegens nicht erkannt wird, dass die Politikerinnen und Politiker auf der ganzen Welt nicht genug für das Klima tun.

Wem gehört die Zukunft? Gehört sie den Politikerinnen und Politikern von heute? Oder vielmehr den Kindern, die in dreißig Jahren in der Politik arbeiten werden? Wie können wir diese unterschiedlichen Perspektiven zusammenführen?

Kinder spielen eine zentrale Rolle in diesem Kunstwerk. Warum stehen sie im Zentrum?

Olafur Eliasson:   Als Erwachsene verstricken wir uns oft in den Herausforderungen, die mit einem Wandel verbunden sind. Wir erkennen die Schwierigkeiten, die vor uns liegen, die Kompromisse, die wir vielleicht eingehen müssen. Dies wirkt wie ein Filter, durch den wir die Welt sehen. Kinder und Jugendliche haben eine ganz andere Betrachtungsweise. Die Klimakrise wird uns alle betreffen und die jungen Menschen wissen das. Ich sage nicht, dass die eine Perspektive richtig ist und die andere falsch. Aber ich will zeigen, dass die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche die Welt sehen, einzigartig und wertvoll ist. Wir können so viel lernen, wenn wir uns öffnen und ihnen zuhören. 

Bei Earth Speakr war für mich dabei entscheidend, etwas mit Kindern zu machen, nicht für sie. Die gesamte Entwicklung des Projekts stand für mich unter dem Vorzeichen, die Kinder dort abzuholen, wo sie sind, und sie auf ihre Weise sprechen zu lassen. Frei und kreativ, ohne dass sie ihre Ideen in Erwachsenensprache übertragen müssen.

"Ich will zeigen, dass die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche die Welt sehen, einzigartig und wertvoll ist. Wir können so viel lernen, wenn wir uns öffnen und ihnen zuhören."

Sie wollten mit Ihrem Projekt Earth Speakr Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Dies scheint in einer Reihe zu stehen mit anderen ihrer Kunstwerke. Auf Ihrer Webseite steht, dass Sie die Anliegen der Kunst der ganzen Gesellschaft nahebringen möchten. Welchen Beitrag leistet Kunst im öffentlichen Raum?

Olafur Eliasson: Ich habe Earth Speakr dezentral angelegt, weil ich den wahren Wert des Engagements der Menschen für Kunst verstehen will. Ich glaube an Kunst und den öffentlichen Raum als eine gemeinsam erschaffene Erfahrung. Earth Speakr könnte als öffentlicher Raum betrachtet werden, ein Zusammenspiel von Ideen und Erfahrungen, die in einer gemeinsamen Umgebung zusammentreffen. Was ist der öffentliche Raum? Wer definiert ihn?

Diese Fragen sind heute sehr präsent in Europa. Sie hängen mit Migration und den Polarisierungstendenzen in unseren Gesellschaften zusammen. Kultur und Kunst können unser Verlangen nach einer gemeinsamen Erfahrung erfüllen. Sie führen uns Beispiele für Engagement und Kommunikation vor Augen, die uns inspirieren können. Ein Raum ist nur dann wirklich öffentlich, wenn wir daran glauben, zivilgesellschaftlich etwas bewirken zu können. Haben wir das Gefühl, dass wir mit unseren Handlungen die gesellschaftlichen Systeme, deren Teil wir sind, mitgestalten? Spiegelt mich der öffentliche Raum wider?

Uns Erwachsenen sind die Probleme der Anderen und globale Fragen oft fremd. Kunst kann das ändern, indem sie dafür sorgt, dass man die Welt fühlt. Und dieses Gefühl kann das Denken anregen. Es kann uns anspornen, uns mit Dingen auseinanderzusetzen und etwas zu tun. Wenn es eine Aufgabe für Kunst im öffentlichen Raum gibt, und hier möchte ich ein wenig verallgemeinern, dann wäre es die: die Atmosphäre im öffentlichen Raum zu bereichern. Diese Atmosphäre meint letztendlich ein Gefühl der Gastlichkeit. Wie sehr fühlen wir uns an einem Ort willkommen?

Was genau wollen Sie mit dem Earth-Speakr-Projekt erreichen?

Olafur Eliasson: Einen Perspektivwechsel. Kinder laden die Earth-Speakr-App herunter und zeichnen ihre Ideen und Gedanken zu unserem Planeten auf. Sie sehen im wahrsten Sinne des Wortes ihr eigenes Spiegelbild in ihrer Umgebung, wenn die App Objekte mit ihrem Gesichtsausdruck animiert. Gedanken werden in Taten umgesetzt. Auf Earth Speakr können auch Erwachsene von passiv auf aktiv umschalten: Jeder kann zuhören, was Kinder in ganz Europa und überall auf der Welt sagen, und diese Nachrichten teilen, ihnen ihre Reichweite vergrößern.

Wo finde ich "Earth Speakr"?
Seit Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft am 1. Juli kann das Kunstwerk in der App und unter earthspeakr.art bestaunt und mitgestaltet werden. Zusätzlich wird es beim Rat der Europäischen Union, im Europäischen Parlament in Brüssel und im Auswärtigen Amt in Berlin präsentiert.

Wie können sie den Einsichten der Kinder Gehör verschaffen?

Olafur Eliasson: Auf der Webseite von Earth Speakr kann man Loud Speakrs kreieren und so zeigen, dass die Nachrichten gehört werden. ‘Loud Speakrs’ sind Sammlungen von Kinder-Nachrichten, die man an unterschiedliche Orte auf eine virtuellen Landkarte übertragen kann –  an öffentliche Plätze, Parks, Gebäude politischer Einrichtungen – um so andere zu ermuntern ebenfalls zuzuhören, im echten Leben mit Hilfe von Augmented Reality. Ich ermutige Politikerinnen und Politiker zuzuhören, was künftige Wähler zu sagen haben und zu überlegen, wie sie auf deren Themen am besten eingehen können.

Es gibt natürlich unterschiedliche Antworten darauf, was Earth Speakr als Kunstwerk erreichen kann. Wie können unzählige Perspektiven aus verschiedenen Teilen Europas und anderen Gebieten der Erde nebeneinander bestehen? Ihre Koexistenz kann ein Erfolg sein. Und wie steht es mit den Maßnahmen für den Klimaschutz, die Entscheidungsträger - inspiriert von den Ideen der Kinder - getroffen haben? Vielleicht wird das Kunstwerk die Art und Weise, wie Kinder und Erwachsene miteinander umgehen, verändern. Vielleicht wird es neue Formen des Dialogs in Familien und über die Generationen hinweg schaffen.

"Mir wäre es wichtig, dass die Öffentlichkeit in Europa neu gedacht wird als ein Raum, den wir offen gemeinsam gestalten - wie Earth Speakr. Ein Ort, an dem Vertrauen, an dem die Werte, die für unser Leben wichtig sind, in die Tat umgesetzt werden."

Was kann die Kunst beitragen, um eine lebendige Öffentlichkeit in Europa zu schaffen? Wie würde diese aussehen?

Olafur Eliasson: Kunst und Kultur sind so wichtig, weil sie für ihr Publikum arbeiten, aber nicht auf seine Kosten. So betrachte ich beispielsweise Menschen, die kulturelle Einrichtungen besuchen, als Produzenten, nicht als Konsumenten. Mir wäre es wichtig, dass die Öffentlichkeit in Europa neu gedacht wird als ein Raum, den wir offen gemeinsam gestalten - wie Earth Speakr. Ein Ort, an dem Vertrauen, an dem die Werte, die für unser Leben wichtig sind, in die Tat umgesetzt werden. Wo es eine starke Übereinstimmung zwischen dem gibt, was wir glauben, und dem, was wir tun.

Der bildende Künstler Olafur Eliasson (*1967) wuchs in Island und Dänemark auf. 1995 gründete er das Studio Olafur Eliasson in Berlin, in dem er mit einem interdisziplinären Team mit Skulptur, Malerei, Fotografie, Film, Installationen und digitalen Medien arbeitet. Er ist international vor allem für seine oft großformatigen Kunstwerke im öffentlichen Raum sowie in institutionellen Kontexten bekannt. Naturphänomene – wie Wasser, Licht, Eis, Nebel und Reflexionen – spielen dabei eine wichtige Rolle und spiegeln die kritische Auseinandersetzung mit der Natur und den Folgen des Klimawandels sowie soziale Fragen wider.