Minister Gabriel zur Flüchtlingspolitik
Bundeswirtschaftsminister Gabriel plädiert in einem Zeitungsbeitrag für eine grundlegende Änderung der Flüchtlings- und Integrationspolitik. Er ist überzeugt, dass Deutschland die Herausforderung durch die große Zahl an Flüchtlingen bewältigen kann.
- Ein Beitrag von Sigmar Gabriel
- Die Zeit
In der größten deutschen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, im hessischen Gießen, traf ich vergangene Woche eine fünfköpfige syrische Familie. Sie hatte eine viermonatige Flucht hinter sich. Zwei ihrer Kinder waren in Damaskus geblieben, weil das im Freundes- und Familienkreis zusammengestotterte Geld für die Schlepperorganisation - immerhin fast 10.000 Euro - nur für fünf Mitglieder der Familie reichte. Was immer ich die Familie über einen herbeigerufenen Dolmetscher fragte, die Antwort war: Es ist gut hier, wir sind glücklich, wir wollen neu anfangen - aber wann wird unser Asylantrag entschieden?
Ein anderes Mal begegnete ich einer Mutter aus Albanien. Sie wusste, dass sie aller Voraussicht nach kein Asyl in Deutschland bekommen würde, weil sie aus einem Land kommt, in dem zwar schlimme wirtschaftliche Verhältnisse und Korruption herrschen, aber eben weder Krieg noch politische Verfolgung. Verzweifelt erklärte sie mir, dass sie keine Sozialhilfe oder andere staatliche Unterstützung in Deutschland wolle. Sie sei sicher, dass sie es selbst schaffe, sich Arbeit zu besorgen. Warum sie dann nicht hier bleiben könne?
Eine dritte Begegnung am Frankfurter Hauptbahnhof. Hier kommt ein großer Teil der Flüchtlinge an. Ihr erster Kontakt sind die Bundespolizisten der dortigen Polizeiinspektion und die Bahnhofsmission. In einem kleinen Raum sammeln sich manchmal 30 oder mehr Menschen, die dort von der Bundespolizei namentlich erfasst und auch erkennungsdienstlich - sprich Fingerabdrücke - behandelt werden. Denn natürlich gibt es auch die Sorge, dass manche der Einreisenden zwar in Deutschland Flüchtlinge sind, in ihrer Heimat aber Täter waren.
An einem kleinen Tisch in dieser Bahnhofsmission saß eine kleine afghanische Familie, völlig erschöpft und mit einem offensichtlich fiebrigen Kleinkind auf dem Arm. Daneben war ein neunjähriger Junge am Tisch eingeschlafen. Er hatte während der monatelangen Flucht seine Eltern verloren. Die afghanische Familie hatte sich seiner angenommen.
Laut Vorschrift hätte die Bundespolizei diesen Jungen als "unbegleiteten Minderjährigen" an das Frankfurter Jugendamt abgeben müssen. Aber die jungen Polizisten, manche von ihnen selbst Eltern, setzten sich Gott sei Dank über die Vorschrift hinweg und ließen den Jungen bei der afghanischen Familie. Martialisch aussehende Polizisten, bewaffnet und eigentlich für ganz andere Einsätze ausgebildet, brachten Spielzeug von zu Hause für die Flüchtlingskinder mit. Sie plünderten ihre Kaffeekasse, damit sie in der kleinen Teeküche wenigstens ab und zu Essen für die Ankommenden zubereiten konnten. Und sie wiesen darauf hin, dass ihre Personalstärke bei Weitem nicht ausreicht, um das normale Alltagsgeschehen angemessen zu bekämpfen und gleichzeitig hier die Flüchtlingsaufnahme zu gewährleisten. Besorgt sagte mir einer: "Noch ist ja alles ruhig, aber wenn die Bürger den Eindruck haben, dass keine Polizei mehr für Sicherheit im Alltag sorgt, weil wir hier voll eingebunden sind, dann gibt es doch irgendwann Ärger."
Diese drei Begegnungen der vergangenen Tage zeigen mir, wie schlecht wir auf den Zustrom von Flüchtlingen vorbereitet sind; wie viel Hilfsbereitschaft und Mitgefühl im deutschen Alltag existiert; und worauf wir aufpassen müssen, damit diese Hilfsbereitschaft nicht in Gefahr gerät. Hierfür müssen wir unsere Flüchtlings- und Integrationspolitik grundlegend ändern.
800.000 Flüchtlinge werden voraussichtlich in diesem Jahr Deutschland erreichen. Eine gewaltige Zahl. Sie wird unser Land ebenso herausfordern wie die EU, in der fast zwei Millionen Menschen Schutz vor Gewalt, Verfolgung und Krieg suchen und sich eine bessere Zukunft aufbauen wollen. Die Lage in den Herkunftsländern wird sich nicht schnell ändern, sodass wir auch in den kommenden Jahren mit ähnlich vielen Zuwanderern rechnen müssen. Deutschland und Europa werden sich - ob wir es wollen oder nicht - verändern. Und je eher wir das verstehen und selbst in die Hand nehmen, desto besser werden wir diese Herausforderung bestehen. Mehr noch: desto besser werden wir gemeinsam mit denen, die zu uns kommen, die Chancen nutzen, die auch in dieser Zuwanderung stecken.
Erst wenn man direkt mit Flüchtlingen und Helfern spricht, wird einem klar, wie groß die Herausforderung ist. Ich habe dabei gelernt, dass wir zu lange nur über die technisch-administrative Bewältigung der Flüchtlingswelle gesprochen haben. Dabei geht es doch viel mehr darum, was unsere Gesellschaft, was Europa ausmacht: die Idee von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Oder ganz einfach: Mitmenschlichkeit.
Die Menschen, die zu uns kommen, suchen nach Freiheit und Sicherheit. Sie hoffen auf eine bessere Gesellschaft, in der Gerechtigkeit und Solidarität real sind. Also auf all das, was wir in Deutschland gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn nach vielen Kriegen und Kämpfen als Grundlage des Zusammenlebens vereinbart haben. Angesichts unseres relativ großen Wohlstands neigen ja gerade wir Deutschen gelegentlich dazu, Frieden und Sicherheit für selbstverständlich zu halten. Die Flüchtlinge erinnern uns an den Schatz, den wir besitzen. Wir sollten lernen, ihn zu teilen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin weder der Meinung, dass wir über Jahre hinweg eine unbegrenzte Zahl an Flüchtlingen aufnehmen können, noch unterschätze ich die Konflikte, die mit der hohen Zahl an Zuwanderern in kurzer Zeit bei uns auch entstehen werden. Ich glaube darum auch nicht, dass wir ganz auf restriktive Maßnahmen verzichten können.
Ich bin dafür, Asyl für Verfolgte in großer Zahl und dauerhaft zu ermöglichen, aber das bedeutet auch, diejenigen zur Rückkehr in ihre Heimatländer zu bewegen, denen weder Verfolgung noch Krieg oder Bürgerkrieg drohen. Allerdings sollten uns auch dabei Humanität und Verständnis leiten. Denn wer von uns würde sich nicht auch auf den Weg machen, um seinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, wenn wir in so hoffnungslosen Lebensumständen leben müssten wie viele Angehörige der Roma in manchen Staaten Osteuropas? Was soll also der verächtliche Hinweis, dies seien doch "nur Wirtschaftsflüchtlinge"?
Wer aus einem der Staaten des Westbalkans kommt und einen Arbeitsvertrag zu den bei uns herrschenden sozialen Mindeststandards vorweisen kann, dem sollten wir deshalb einen Zuzug nach Deutschland ermöglichen. Damit würden wir einen legalen Zugang zu Europa eröffnen und den meist nicht erfolgreichen Weg über Asylanträge entlasten. Arbeit und Ausbildung statt Asyl - das ist hier die richtige Antwort. Der Mutter aus Albanien, die in Gießen bangend der zu erwartenden Abschiebung entgegensieht, böte dies eine faire Alternative.
Flucht ist eines der großen und drängenden Themen unserer Zeit. Umso ärgerlicher ist es, wie lange die Flüchtlingsbewegung verdrängt oder zur rein administrativen Aufgabe verniedlicht wurde.
Machen wir uns nichts vor: Auch wenn wir derzeit in Deutschland eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft erleben, für die wir nicht dankbar genug sein können - uns drohen auch soziale und kulturelle Spannungen. Wir müssen unsere Gesellschaft zusammenhalten - nicht zuletzt, um rechtsradikalen Hetzern keine Grundlage für ihre Propaganda zu geben. Eine so große Zahl von Zuwanderern aus zum Teil anderen Kulturen aufzunehmen wird nicht konfliktfrei bleiben. Das sollten wir offen ansprechen und uns darauf vorbereiten.
Mir ist es daher sehr wichtig, das Gespräch mit jenen Bürgern zu suchen, die angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen ängstlich und besorgt sind, die Konkurrenz am Wohnungs- und Arbeitsmarkt fürchten oder die sich ohnehin von "der Politik" allein gelassen fühlen. So wie im sächsischen Heidenau. Wir Politiker müssen uns überall im Land um diese verunsicherte Mitte kümmern - so anstrengend und mitunter unangenehm das für uns sein mag.
Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich Anfang des Jahres in Dresden bei einer Veranstaltung mit Pegida-Gegnern und Pegida-Befürwortern war, von denen Letztere noch nicht auf die Seite der Rechtsradikalen gewechselt waren. Als sich Ende des vergangenen Jahres Freunde und Bekannte von mir von Pegida distanzierten, um dann im gleichen Atemzug ähnlich klingende Sorgen mit Blick auf den Zuzug von Ausländern vorzutragen, wusste ich, dass wir kein Problem am Rand der Gesellschaft haben - sondern in der Mitte. Schon bei Thilo Sarrazins Polemik gegen die Muslime waren es die Gutsituierten, die in seine Vorträge strömten und jubelten.
Wir müssen nicht mit dem brauen Stammtisch reden, das ist zwecklos. Aber was zu Hause an den Frühstückstischen diskutiert wird, das müssen wir wissen. Demokraten müssen um jede erreichbare Seele kämpfen.
Einer der Orte, an denen wir die Stabilität unserer Gesellschaft stärken können, sind unsere Städte und Gemeinden. Wenn sie immer mehr Geld für die Flüchtlingsunterbringung aufwenden müssen und daher die dringend notwendige Sanierung in Kitas oder Schulen unterbleibt - oder wenn die Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum wächst -, dann sind soziale Spannungen absehbar. Unsere Kommunen leisten ungeheuer viel, und sie können vor Ort vieles besser, als Länder und Bund es könnten. Aber ihre Integrationsaufgaben - Kitas und Schulen erweitern, Wohnungen bauen, soziale und kulturelle Angebote entwickeln und ihre Stadtgesellschaften für die Zuwanderer öffnen - können sie kaum mehr erfüllen, wenn sie alle finanzielle Kraft für die Kosten der Unterbringung der Flüchtlinge einsetzen müssen. Der Bund muss deshalb die Kommunen von den Kosten der Flüchtlingsaufnahme dauerhaft entlasten. Angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen sind dafür inzwischen wohl eher 3 Milliarden Euro als 2 Milliarden Euro notwendig.
Dahinter steckt für mich weit mehr als eine Frage der Finanzverteilung: Die meisten Menschen brauchen Orte, an denen sie sich sicher aufgehoben fühlen. Meine ganz persönliche Erfahrung in den letzten 25 Jahren: Es gibt bei einer immer größer werdenden Zahl von Menschen ein - in Politik, Wirtschaft und Medien weitgehend ignoriertes - Bedürfnis nach sicherem Grund unter den Füßen. Je rasanter die Welt, das Arbeitsleben, die persönlichen Lebensumstände sich ändern (und häufig ändern müssen), desto mehr wächst die Sehnsucht nach dem Überschaubaren, dem Bekannten und dem Berechenbaren. Wenn das Große - die Globalisierung und Europa - wichtiger wird, gewinnt das Kleine an Bedeutung: Die Orte, an denen wir wohnen, leben und arbeiten. Je sicherer sich Menschen dort aufgehoben fühlen, desto besser werden sie die täglich neuen Verunsicherungen bewältigen. Umgekehrt heißt das für mich: Verwahrloste Städte und Gemeinden erzeugen verwahrloste Köpfe und Seelen.
Wir haben für vieles, was wir jetzt anpacken müssen, keine Bilderbuchlösungen parat, die morgen bereits Wirkung zeigen. Und wir werden auch Konflikte und Rückschläge erleben. Und trotzdem: Wer, wenn nicht dieses ebenso starke wie mitfühlende Land Deutschland, sollte das schaffen?