"Diese Dramatik konnte niemand vorhersehen"

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Im Wortlaut: de Maizière "Diese Dramatik konnte niemand vorhersehen"

Er glaube nicht, dass Deutschland mit der hohen Flüchtlingszahl überfordert sei, so Bundesinnenminister de Maizière in einem Interview. Bund und Länder müssten beide an schnellen Verfahren interessiert sein. "Es geht um eine faire Verteilung der Gesamtlasten."

  • Interview mit Thomas de Maizière
  • Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Bundesminister des Innern, Thomas de Maizière, bei einer Pressekonferenz

De Maizière: diejenigen, die bleiben dürfen, schnell integrieren.

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ): Tausende Flüchtlinge kommen wöchentlich zu uns. Notunterkünfte platzen aus allen Nähten. Haben Sie als Innenminister diese Entwicklung unterschätzt?

Thomas de Maizière: Vor fünf Jahren, als ich das erste Mal Innenminister war, kamen rund 40 000 Menschen zu uns als Asylbewerber. Jetzt haben wir mindestens eine Verzehnfachung. Für 2015 sind wir in unseren Prognosen von 400.000 Menschen ausgegangen, die in unser Land kommen. Das war bereits eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr. Doch seit Juni sind die Zahlen nochmals erheblich gestiegen. Diese Dramatik konnte niemand vorhersehen. Deswegen werde ich in der nächsten Woche eine neue Prognose bekanntgeben.

WAZ: Der bayrische Innenminister spricht von bis zu 600 000 Flüchtlingen bis Ende des Jahres.

De Maizière: Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich die neue Prognose zunächst mit den Bundesländern abstimmen will. Solche Schätzungen sind schwierig.

WAZ: Warum sind die Schätzungen so schwierig?

De Maizière: Wir haben zwei Hauptzugangswege nach Deutschland: die so genannte Südroute über Libyen, das Mittelmeer und Italien und die Westbalkanroute über die Türkei und Griechenland. Bei der Südroute erleben wir eine Zunahme der Flüchtlingszahlen von fünf bis zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Über die Balkanroute sind jedoch etwa 900 Prozent mehr Flüchtlinge gekommen als im vergangenen Jahr. Auch das ist neu. Für die Prognose ist entscheidend, wie wir die weitere Entwicklung auf der Balkanroute einschätzen. Ich will aber keinen Hehl daraus machen, dass wir uns alle auf eine erheblich höhere Zahl an Flüchtlingen einstellen müssen, als wir gedacht hatten.

WAZ: Haben Sie Sorge, dass die Situation unkontrollierbar wird?

De Maizière: Die Lage ist ohne Frage eine echte Herausforderung für uns alle. Aber ich glaube nicht, dass wir in Deutschland überfordert sind. Allerdings müssen wir einige Verhaltensweisen ändern, zum Beispiel, was das Vergabe- und Baurecht bei der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften betrifft.

WAZ: Viele Ruhrgebietsstädte haben den Eindruck, Berlin lasse sie bei der Finanzierung der Flüchtlinge im Stich.

De Maizière: Bereits im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung Ländern und Kommunen geholfen und in diesem Jahr die Mittel für Flüchtlinge noch einmal auf eine Milliarde Euro verdoppelt. Im Juni haben wir gemeinsam mit den Ländern beschlossen, dass sich der Bund ab 2016 dauerhaft, strukturell und dynamisch an den Flüchtlingskosten beteiligen wird. Im September fallen dazu die Entscheidungen.

WAZ: Sie sagen dauerhaft, strukturell und dynamisch. Das bedeutet konkret?

De Maizière: Bisher sind wir alle paar Monate zusammengekommen, haben uns ein bisschen gestritten und uns dann auf eine neue Finanzierung geeinigt. Ich denke, dieses "Schauspiel" können wir angesichts der aktuellen Herausforderungen weder den Bürgermeistern in unseren Städten noch den Bürgern zumuten. Deswegen werden wir uns auf einen Mechanismus verständigen, der nicht immer neu verhandelt werden muss.

WAZ: Was stellen Sie sich vor?

De Maizière: Das könnte eine anteilige Kostenübernahme sein, zum Beispiel mit einer festen Summe pro Flüchtling oder schutzbedürftigem Flüchtling. Bund und Länder müssen beide an schnellen Verfahren interessiert sein. Es geht um eine faire Verteilung der Gesamtlasten.

WAZ: Viele Bürger legen gegenüber Flüchtlingen eine große Hilfsbereitschaft an den Tag.

De Maizière: Ich nehme eine hohe Bereitschaft der deutschen Bevölkerung wahr, Flüchtlingen zu helfen. Das ist eine echte Willkommenskultur. Sie helfen bei Arztgängen und beim Deutsch lernen, sie spenden Kleidung und schenken Kindern Stofftiere. Das ist großartig. Allerdings will ich auch nicht verschweigen, dass die Zahl von Hass-Mails und Angriffen auf Asylbewerber zunimmt.

WAZ: Was ist zu tun, damit die Aufnahmebereitschaft hoch bleibt?

De Maizière: Wir müssen klar abgrenzen zwischen denjenigen, die schutzbedürftig sind und denen, die es nicht sind. Wichtig dabei ist, dass wir darüber jeweils schnell entscheiden. Diejenigen ohne Schutzbedürfnis - wie aus dem Balkan - müssen unser Land schnell verlassen. Und diejenigen, die bleiben dürfen, sind schnell zu integrieren. Das heißt auch, dass wir diese Menschen schnell in Lohn und Brot bringen. Vielleicht müssen wir da auch den ein oder anderen Kompromiss machen und mit Blick auf die Arbeitsbefähigung Menschen mit Basiskenntnissen in Deutsch in die Arbeit bringen. Je länger man nicht arbeitet, umso schwieriger ist die Integration.

WAZ: Wird das zu einer Bewährungsprobe für den Zusammenhalt im Land?

De Maizière: Ja. Und eine Bewährungsprobe für Europa. Die hohen Zahlen seit Juni empfinde ich als eine Art Weckruf für uns alle. Wir sollten kleinkarierte politische Debatten vermeiden und stattdessen in die Hände spucken, um diese Herausforderung zu meistern.

Das Interview führten Andreas Tyrock und Michael Kohlstadt für die WAZ