allermeisten
Deutschen nahmen damals an, dass die Teilung noch Jahrzehnte
fortbesteht. Wären die Menschen in der DDR 1989 nicht zu
Hunderttausenden auf die Straße gegangen, würde ich wahrscheinlich
immer noch darauf warten, als Rentnerin einigermaßen frei reisen zu
können. Die Wiedervereinigung war zwar – rechtlich gesehen – ein
Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, aber politisch war
es eine ganz bewusste und gewollte Vereinigung. Die übergroße
Mehrheit der Menschen, die an den einzigen freien Volkskammerwahlen
teilgenommen haben, wollte die Einheit sehr rasch. Dass dieser
Wunsch in Erfüllung ging, ist dem diplomatischen Geschick von
Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Außenminister Hans-Dietrich
Genscher zu verdanken, aber auch dem Fleiß und der Weitsicht der
Politiker, die die Währungsunion und den Einigungsvertrag binnen
kürzester Zeit ausgehandelt haben.
dpa: Gibt es eine Errungenschaft der DDR, die
mit der Wiedervereinigung untergegangen ist und besser hätte
erhalten werden sollen?
Merkel: Manches, was heute als "Errungenschaft" gilt,
versehe ich mit einem dicken Fragezeichen. Denn man muss immer
wissen: Was immer die SED an Strukturen geschaffen hat, es war
ideologisch motiviert und sollte dazu dienen, den Sozialismus zu
festigen. Im Erziehungswesen war das besonders spürbar. Dass es
trotzdem einige praktische Einrichtungen gab wie die Polikliniken,
bestreite ich nicht. Und die sind in Form der Ärztehäuser ja heute
in ganz Deutschland anzutreffen.
dpa: Was ist der größte Gewinn für den Osten
und für den Westen?
Merkel: Für alle Deutschen ist es ein ungeheurer Gewinn, in
einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und in Frieden mit
allen Nachbarstaaten leben zu können. Das ist das erste Mal in der
ganzen deutschen Geschichte und hat für mich einen unschätzbaren
Wert.
dpa: Welche wichtige Aufgabe/wichtiges Ziel
ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht erfüllt? Wie
lange ist der Solidaritätsbeitrag noch
nötig?