Bundesregierung

 

"Deutschlands Stimme hat Gewicht"

Di, 28.09.2010
 
Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit sei ein großes Glück, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Daraus ergebe sich international auch eine große Verantwortung.
dpa: Das wiedervereinigte Deutschland hat nach Ihren Worten eine Verantwortung für die Freiheit in der Welt. Wie kann die Bundesrepublik diesem Anspruch gerecht werden? Wo liegt der Schwerpunkt, oder gibt es auch hier einen "Mix" – etwa aus Wirtschaftsförderung, Militäreinsätzen und Entwicklungshilfe?
 
Merkel: Aufgrund seiner Größe, seiner Lage, seiner Geschichte und seiner Wirtschaftskraft hat das wiedervereinigte Deutschland eine große Verantwortung. Die Welt erwartet von uns, dass wir Position beziehen. Dafür kann es für uns als Deutsche – nach allem, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben – nur eine Basis geben: Freiheit und Menschenrechte. Dem Frieden in der Welt zu dienen, wie es in der Präambel des Grundgesetzes heißt, bedeutet nach meiner Überzeugung, sich immer wieder für die Freiheit stark zu machen. Dies tun wir gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union und in der NATO. In der Entwicklungshilfe geht es in vielen Fällen leider immer noch für viele Menschen in den ärmsten Ländern der Welt um das nackte Überleben. Im Vordergrund steht für Deutschland grundsätzlich die Hilfe zur Selbsthilfe. Dazu gehört – neben vielem anderem – natürlich auch der Einsatz für faire Handelsbeziehungen, die Menschen in Entwicklungsländern Chancen eröffnen, ihre Lebensbedingungen frei zu gestalten.
 
dpa: Wird Deutschland in der Welt entsprechend seiner Bedeutung anerkannt? Wie wichtig ist da ein nichtständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat?
 
Merkel: Deutschland ist heute ein sehr anerkanntes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, wie ich in den vergangenen fünf Jahren immer wieder erfahren durfte. Deutschlands Stimme hat Gewicht – in Europa, aber auch in der Gruppe der 20 stärksten Industrie- und Schwellenländer. Wir haben unser internationales Engagement in den vergangenen Jahren erheblich ausgebaut und zunehmend Verantwortung übernommen. In den Vereinten Nationen sind wir ein wichtiger Akteur und auch drittstärkster Beitragszahler. Der Sicherheitsrat trägt die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens. Wir wollen uns dort für Frieden und Sicherheit einsetzen, für wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung und für die Überwindung globaler Herausforderungen wie Klimawandel und Nahrungsmittelknappheit. Gleichzeitig treten wir für Effizienz und Transparenz in der Arbeit der Vereinten Nationen ein. Als Mitglied des Sicherheitsrats könnten wir dieses Ziel noch besser verfolgen. Deshalb kandidiert Deutschland für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat für die Jahre 2011/2012.
 
dpa: Vor allem Ostdeutsche beklagen, dass die DDR der Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist und es keine echte Vereinigung gegeben habe. Was ist für Sie das größte Versäumnis bei der Wiedervereinigung gewesen?
 
Merkel: Ich halte es für ein großes Glück, dass uns die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit gelungen ist. Dieallermeisten Deutschen nahmen damals an, dass die Teilung noch Jahrzehnte fortbesteht. Wären die Menschen in der DDR 1989 nicht zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen, würde ich wahrscheinlich immer noch darauf warten, als Rentnerin einigermaßen frei reisen zu können. Die Wiedervereinigung war zwar – rechtlich gesehen – ein Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, aber politisch war es eine ganz bewusste und gewollte Vereinigung. Die übergroße Mehrheit der Menschen, die an den einzigen freien Volkskammerwahlen teilgenommen haben, wollte die Einheit sehr rasch. Dass dieser Wunsch in Erfüllung ging, ist dem diplomatischen Geschick von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu verdanken, aber auch dem Fleiß und der Weitsicht der Politiker, die die Währungsunion und den Einigungsvertrag binnen kürzester Zeit ausgehandelt haben.
 
dpa: Gibt es eine Errungenschaft der DDR, die mit der Wiedervereinigung untergegangen ist und besser hätte erhalten werden sollen?
 
Merkel: Manches, was heute als "Errungenschaft" gilt, versehe ich mit einem dicken Fragezeichen. Denn man muss immer wissen: Was immer die SED an Strukturen geschaffen hat, es war ideologisch motiviert und sollte dazu dienen, den Sozialismus zu festigen. Im Erziehungswesen war das besonders spürbar. Dass es trotzdem einige praktische Einrichtungen gab wie die Polikliniken, bestreite ich nicht. Und die sind in Form der Ärztehäuser ja heute in ganz Deutschland anzutreffen.
 
dpa: Was ist der größte Gewinn für den Osten und für den Westen?
 
Merkel: Für alle Deutschen ist es ein ungeheurer Gewinn, in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und in Frieden mit allen Nachbarstaaten leben zu können. Das ist das erste Mal in der ganzen deutschen Geschichte und hat für mich einen unschätzbaren Wert.
 
dpa: Welche wichtige Aufgabe/wichtiges Ziel ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht erfüllt? Wie lange ist der Solidaritätsbeitrag noch nötig?
 
Merkel: Es gibt zwischen neuen und alten Ländern nach wie vor einige strukturelle Unterschiede, was beim Blick auf die Arbeitsmarktdaten Monat für Monat deutlich wird. Deshalb brauchen wir den bis 2019 geltenden Solidarpakt, und deshalb brauchen wir auch noch den Solidarbeitrag, den allerdings nicht nur die westdeutschen, sondern alle Steuerpflichtigen zahlen. Das Ziel ist eine selbsttragende Wirtschaft in den neuen Ländern. In den vergangenen 20 Jahren ist sehr Vieles gelungen – vom Neu- und Ausbau der Verkehrswege über den Umweltschutz bis hin zur besseren medizinischen Versorgung und der Lebensqualität insgesamt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir den weiteren Weg auch noch schaffen.
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