Namensbeitrag von
Guido Westerwelle in "Die Welt":
Vor 20 Jahren
endete der Kalte Krieg. Jahrzehntelang standen sich die Nato und
der Warschauer Pakt feindlich gegenüber. Heute lädt die Nato
Russland zur Mitwirkung an einem kooperativ konzipierten
Raketenabwehrschirm ein. Der russische Präsident Dmitri Medwedjew
reist nach Lissabon als Partner, nicht als Gegner. Wir haben die
historische Chance, das Denken in Kategorien des Kalten Krieges
endgültig hinter uns zu lassen.
Ich verkenne nicht, dass es weiterhin ernsthafte
Meinungsunterschiede wie in der Georgien-Frage gibt. Gleichwohl
kann nach der Eiszeit aufgrund des Krieges in Georgien ein
Neuanfang gelingen. Dafür sprechen die gemeinsamen
Sicherheitsinteressen: in Afghanistan, bei der Bekämpfung des
Terrorismus, beim Vorgehen gegen Piraterie oder bei der Abwehr von
Bedrohungen durch ballistische Raketen. In Lissabon sollten die
Grundlagen für eine strategische Sicherheitspartnerschaft gelegt
werden, die in beiderseitigem Interesse liegt.
Nicht weniger bedeutsam werden die Beratungen in Lissabon
über das neue strategische Konzept der Nato sein. Über Monate wurde
öffentlich, unter Experten und im Kreis der Mitgliedsstaaten
diskutiert, wie die Nato der Zukunft aussehen sollte. Ich glaube,
dass wir auf einem guten Weg sind, um die richtigen strategischen
Weichenstellungen vorzunehmen. Das Kernversprechen der Nato wird
auch in Zukunft die gegenseitige Beistandsverpflichtung zur Abwehr
von bewaffneten Angriffen sein. Daneben ist es richtig, dass sich
die Nato auch neuen Herausforderungen stellt. Dazu gehört ein
wirksames Vorgehen gegen terroristische Bedrohungen genauso wie ein
gemeinsames Handeln im Angesicht der Gefahr von Computer-Attacken.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Mechanismen von
Kooperation und Konsultation nach Artikel 4 des Washingtoner
Vertrags optimal auszuschöpfen. Klar ist, dass jedwedes Handeln der
Nato auch in Zukunft an das Völkerrecht und die Charta der
Vereinten Nationen gebunden sein muss.
Das neue strategische Konzept bietet auch die Chance, die
Frage der Abrüstung neu zu gewichten. Die Nato wird auch in Zukunft
ein Verteidigungsbündnis sein und kein Abrüstungsvertrag. Es geht
auch nicht darum, die Notwendigkeit der Abschreckung, auch der
nuklearen Abschreckung, infrage zu stellen, solange es Atomwaffen
gibt. Gleichwohl liegt es in unser aller Sicherheitsinteresse, dass
die Nato als das wichtigste Militärbündnis der Welt ihren Beitrag
zu Abrüstung, Rüstungskontrolle und der Nichtweiterverbreitung von
Atomwaffen leistet. Deshalb sollte sich auch die Nato zum Ziel
einer Welt ohne Atomwaffen bekennen. Das neue strategische Konzept
sollte reflektieren, dass Atomwaffen im Verteidigungsdispositiv der
Nato eine geringere Rolle spielen werden. Abrüstungsfragen haben in
der heutigen Welt den gleichen Stellenwert wie der Schutz des
Klimas. Deshalb sollte die Nato in einem Folgeprozess ihren
konkreten Beitrag zu Abrüstung und Rüstungskontrolle
definieren.
In Lissabon wollen wir auch im Hinblick auf unser
gemeinsames Engagement in Afghanistan eine strategische
Weichenstellung vornehmen. Es geht darum, den Prozess der Übergabe
der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände einzuleiten.
Präsident Karsai hat sich zum Ziel gesetzt, dass die Afghanen
selbst im Jahr 2014 in der Lage sein sollen, die
Sicherheitsverantwortung vollständig zu übernehmen. Diese Übergabe
soll im nächsten Jahr beginnen, Distrikt für Distrikt, Provinz für
Provinz. Auch wenn in Lissabon noch keine konkreten Gebiete benannt
werden, weil es den Taliban in die Hände spielen könnte, diesen
Prozess der schrittweisen Übergabe zu unterminieren - das
Startsignal dafür soll definitiv gegeben werden. Mit der
Verantwortungsübergabe entsteht die Abzugsperspektive, die wir noch
in dieser Legislaturperiode anstreben. Vorbehaltlich der
Entwicklung der Sicherheitslage ist es unser Ziel, unser eigenes
Kontingent im Jahr 2012 zum ersten Mal zu reduzieren.
Strategische Partnerschaft mit Russland, ein mutiges
strategisches Konzept für die Zukunft, Beginn der Übergabe der
Sicherheitsverantwortung in Afghanistan - die Nato steht vor sehr
wichtigen Weichenstellungen. Umfangreiche Vorbereitungen liegen
hinter uns, intensive Gipfelberatungen vor uns. In Lissabon kann
Geschichte geschrieben werden. Diese Chance gilt es zu
nutzen.