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Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember 2019 in Auschwitz
 
Freitag, 6. Dezember 2019 in Auschwitz
 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Direktor,
Exzellenzen,
vor allem: sehr geehrte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen,
sehr geehrte Damen und Herren,

heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, fällt mir alles andere als leicht. Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden ‑ Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten. Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan wurde, muss man eigentlich verstummen. Denn welche Worte könnten der Trauer gerecht werden ‑ der Trauer um all die vielen Menschen, die hier gedemütigt, gequält und ermordet wurden? Und dennoch: So schwer es an diesem Ort, der wie kein anderer für das größte Menschheitsverbrechen steht, auch fällt: Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein. Dieser Ort verpflichtet uns, die Erinnerung wachzuhalten. Wir müssen uns an die Verbrechen erinnern, die hier begangen wurden, und sie klar benennen.

Auschwitz ‑ dieser Name steht für den millionenfachen Mord an den Jüdinnen und Juden Europas, für den Zivilisationsbruch der Shoa, dem sämtliche menschlichen Werte zum Opfer fielen. Auschwitz steht auch für den Völkermord an den Sinti und Roma Europas, für das Leid und die Ermordung von politischen Gefangenen und Vertretern der Intelligenz in Polen, von Widerstandskämpfern, von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und anderen Ländern, von Homosexuellen, von Menschen mit Behinderungen sowie unzähligen anderen Menschen aus ganz Europa. Das Leiden der Menschen in Auschwitz, ihr Tod in den Gaskammern, Hunger, Kälte, Seuchen, qualvolle pseudomedizinische Versuche, Zwangsarbeit bis zur völligen Erschöpfung ‑ was hier geschah, lässt sich mit Menschenverstand nicht erfassen.

Allein im Lagerkomplex Auschwitz wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Juden, planvoll und mit kalter Systematik ermordet. Jeder dieser Menschen hatte einen Namen, eine unveräußerliche Würde, eine Herkunft, eine Geschichte. Schon die Deportation hierher, eingepfercht in Viehwaggons, die Prozedur bei der Ankunft und die sogenannte Selektion an der Rampe zielten darauf, diese Menschen zu entmenschlichen, sie ihrer Würde und Individualität zu berauben.

Offiziell trägt dieser Ort als Teil des UNESCO-Welterbes heute den Namen „Auschwitz-Birkenau ‑ deutsches nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager (1940–1945)“. Dieser Name als voller Name ist wichtig. Oświęcim liegt in Polen, aber im Oktober 1939 wurde Auschwitz als Teil des Deutschen Reichs annektiert. Auschwitz war ein deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager. Es ist mir wichtig, diese Tatsache zu betonen. Es ist wichtig, die Täter deutlich zu benennen. Das sind wir Deutschen den Opfern schuldig und uns selbst.

An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren ‑ das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land. Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat.

Heute haben wir in Deutschland wieder ein blühendes jüdisches Leben. Mit Israel verbinden uns vielfältige und freundschaftliche Beziehungen. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das ist ein großes Geschenk. Es gleicht gar einem Wunder. Aber es kann Geschehenes nicht ungeschehen machen. Es kann die ermordeten Jüdinnen und Juden nicht zurückbringen. In unserer Gesellschaft wird immer eine Lücke klaffen.

Vor 70 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Darin flossen die Lehren aus den Schrecken der Vergangenheit ein. Aber wir wissen auch: Die unantastbare Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ‑ so kostbar diese Werte auch sind, so verletzlich sind sie auch. Deshalb müssen wir diese grundlegenden Werte immer wieder aufs Neue festigen und verbessern, schützen und verteidigen ‑ im täglichen Zusammenleben ebenso wie im staatlichen Wirken und politischen Diskurs.

In diesen Tagen ist das keine Rhetorik. In diesen Tagen ist es nötig, das deutlich zu sagen. Denn wir erleben einen besorgniserregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikten. Wir erleben einen Angriff auf die Grundwerte der liberalen Demokratie und einen gefährlichen Geschichtsrevisionismus im Dienste einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Besonders richten wir unser Augenmerk auf den Antisemitismus, der jüdisches Leben in Deutschland, in Europa und darüber hinaus bedroht.

Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. Gerade Auschwitz mahnt und verpflichtet jeden Einzelnen von uns, täglich wachsam zu sein, Menschlichkeit zu bewahren und die Würde unseres Nächsten zu schützen.

Denn es ist so, wie es Primo Levi, der vor 100 Jahren in Turin geboren wurde und der Auschwitz als Zwangsarbeiter in Monowitz überlebte, später schrieb: „Es ist geschehen. Folglich kann es wieder geschehen.“ Daher dürfen wir unsere Augen und Ohren nicht verschließen, wenn Menschen angepöbelt, erniedrigt oder ausgegrenzt werden. Wir müssen denen widersprechen, die gegen Menschen anderen Glaubens oder anderer Herkunft Vorurteile und Hass schüren.

Wir alle tragen Verantwortung. Und zu dieser Verantwortung gehört auch das Gedenken. Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstrich kann es nicht geben ‑ und auch keine Relativierung.

Oder um es mit Worten des Auschwitz-Überlebenden und ehemaligen Präsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees Noach Flug auszudrücken: „Die Erinnerung […] ist wie das Wasser. Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. […] Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.“

Dass sich diese lebensnotwendige Erinnerung Wege sucht, wie Noach Flug sagte, und auch findet, das haben wir in besonderer Weise vielen Zeitzeugen zu verdanken. Es freut mich deshalb sehr, hier einige von ihnen begrüßen zu dürfen. Sie haben in den vergangenen Jahren wieder und wieder und auch für uns heute aus ihrer Leidenszeit berichtet. Wer kann sich vorstellen, wie viel Kraft es kostet, sich diese schmerzhaften Erfahrungen immer wieder vor Augen zu führen oder gar wieder an diesen Ort zurückzukehren? Sie teilen ihre Geschichte, damit jüngere Menschen daraus lernen. Sie bringen den Mut und die Kraft zur Versöhnung auf. Sie zeigen wahrhaft menschliche Größe. Ich bin sehr dankbar, dass wir von ihnen hören und lernen dürfen.

Es ist bald 75 Jahre her, dass Auschwitz befreit wurde. Immer weniger Menschen können ihre Geschichte aus dieser Zeit erzählen. Dies veranlasste den Schriftsteller Navid Kermani, sehr zutreffend festzuhalten: „[…] Damit sich überhaupt eine Erinnerung ins Herz brennt, auf die sich die Mahnmale, Stolpersteine, Gedenkrituale beziehen, wird es für künftige Generationen noch wichtiger sein, mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutschland die Würde des Menschen zermalmte, jene Länder zu bereisen, die es in Blut ertränkte.“

An vielen Orten hatten die Täter versucht, ihre Spuren zu verwischen ‑ sei es in Vernichtungslagern wie Bełżec, Sobibór und Treblinka, sei es an Orten wie Malyj Trostenez, Babyn Jar oder an den Tausenden anderen Orten in Europa, an denen Juden, Sinti und Roma, viele andere Menschen und sogar ganze Dorfgemeinschaften ermordet wurden.

Hier in Auschwitz hingegen haben es die SS und ihre Schergen nicht geschafft, ihre Spuren zu verwischen. Dieser Ort legt Zeugnis ab. Und dieses Zeugnis gilt es zu erhalten. Wer nach Auschwitz kommt und die Wachtürme und den Stacheldraht, die Baracken und die Gefängniszellen, die Reste der Gaskammern und Krematorien sieht, den wird die Erinnerung nicht mehr loslassen. Sie wird sich, wie Kermani schreibt, „ins Herz brennen“.

Vor zehn Jahren hatte der frühere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski, der selbst politischer Häftling in Auschwitz war, die Gründung der Stiftung Auschwitz-Birkenau angestoßen.

Lieber Herr Cywínski, Ihnen und allen, die sich in der Stiftung den Erhalt dieser Gedenkstätte als Mahnmal und Dokumentationszentrum zur Aufgabe gemacht haben, danke ich von Herzen. Ich danke auch allen Beteiligten an den Restaurierungs- und Konservierungsprojekten. Mit großem Engagement wurde und wird dafür gesorgt, dass dieser Ort weiter Zeugnis ablegt. Ziegelsteinbaracken wurden dauerhaft gesichert, Ausgrabungen durchgeführt, Stützmauern errichtet, Schutzzelte aufgebaut, die geraubten Kleider und Habseligkeiten der Opfer restauriert und konserviert.

Die Konservierungspläne erfordern für die nächsten 25 Jahre eine deutlich höhere Summe für das Stiftungskapital. Deutschland wird sich wesentlich an diesen Mitteln beteiligen. Das haben wir gestern gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer beschlossen.

Dank der Stiftung sowie der vielen internationalen Fremdenführer ist diese Gedenkstätte ein Ort des Lernens, des Innehaltens und des Bewusstwerdens ‑ ein Ort, der die Botschaft des „Nie wieder“ so eindrucksvoll ausspricht. Dafür bin ich sehr dankbar.

Doch nichts kann die Menschen, die hier ermordet wurden, zurückbringen. Nichts kann diese präzedenzlosen Verbrechen ungeschehen machen. Diese Verbrechen sind und bleiben Teil der deutschen Geschichte. Diese Geschichte muss erzählt werden, immer und immer wieder, damit wir aufmerksam bleiben, damit sich solche Verbrechen auch nicht in Ansätzen wiederholen können, damit wir gegen Rassismus und Antisemitismus in all ihren widerwärtigen Erscheinungen entschlossen vorgehen. Diese Geschichte muss erzählt werden, damit wir heute und morgen die Würde eines jeden Menschen bewahren ‑ und damit wir den Opfern ein ehrendes Andenken bewahren.

Wir erinnern an die Menschen, die aus den verschiedenen Ländern ganz Europas nach Auschwitz deportiert wurden. Wir erinnern an diesem Ort insbesondere an die vielen polnischen Opfer ‑ auch politische Gefangene ‑, für die das KZ Auschwitz zunächst errichtet worden war. Wir erinnern an die sechs Millionen ermordeten Juden und hier vor allem an die etwa eine Million Juden, die in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Wir erinnern an die Sinti und Roma, die deportiert, gequält und ermordet wurden. Wir erinnern an die Opfer des Massenmords durch Erschießungen. Wir erinnern an jene, die in Ghettos deportiert wurden, sich in Todesangst versteckt hielten, und an die, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Wir erinnern an alle, die alles verloren hatten: ihre Familien und Freunde, ihre Heimat und ihr Zuhause, ihre Hoffnungen und Pläne, ihr Vertrauen und ihre Lebensfreude ‑ und ihre Würde. Wir erinnern an diejenigen, die auch nach dem Krieg noch jahrelang umherirrten ‑ an die, die in Lagern für „displaced persons“ ausharren mussten.


Wer überlebt hatte, war von den widerfahrenen Schrecken schwer gezeichnet. Margot Friedländer schrieb in ihren Erinnerungen über sie: „Sie mussten erst wieder lernen, dass sie Menschen waren. Menschen, die einen Namen hatten.“

Viele fragten sich, warum gerade sie überlebt hatten. Warum nicht die kleine Schwester? Warum nicht der beste Freund? Warum nicht die eigene Mutter oder der Ehemann? Viele fanden lange nicht oder auch nie heraus, wie und wo ihre nächsten Angehörigen ermordet worden waren. Diese Wunden heilen nie.

Umso mehr danke ich jedem, der es schafft, darüber zu sprechen, um Schmerz und Erinnerung zu teilen und um Versöhnung zu stiften. Ich verneige mich tief vor jedem dieser Menschen. Ich verneige mich vor den Opfern der Shoa. Ich verneige mich vor ihren Familien.

Vielen Dank, dass ich heute hier dabei sein darf.

 
 
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