DAS GESPRÄCH Frau Brasch, spüren Sie heute noch kulturelle Unter- Es war die erste frei gewählte Regierung der DDR, schiede zwischen Menschen aus Ost und West? Kaum noch. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber natürlich sind wir geprägt von den Bedingungen, in denen wir gelebt haben. Und die sind zwar auch von Gesellschaftssystemen abhängig, aber auch vom sozialen und familiären Umfeld, in dem man aufwächst. die mit darüber entschieden hat. Ja, am 18. März 1990 haben die DDR-Bürger über ihre Zukunft abgestimmt und mehrheitlich Kohl und die D-Mark gewählt. Doch die Art und Weise und die Geschwindigkeit, mit der die DDR abgewickelt und die Wiedervereinigung vorangetrieben wurde, fand ich persönlich überhaupt nicht gut. Was bedeutet die Wiedervereinigung für Sie persönlich? Sie war eine große Zäsur, denn wie für die meisten Leute aus dem Osten hat sich auch mein Leben auf existenti- elle Weise verändert. Dennoch habe ich die DDR unbe- schadet überstanden und bin ohne größere dramatische Brüche im Westen angekommen. Ich hatte Glück. Die Wiedervereinigung hat das Grundgesetz und elementare Freiheiten gebracht. Das war kein Grund zur Freude? Natürlich war und ist es toll, Presse-, Meinungs- und Reisefreiheit zu haben. Das Grundgesetz ist gut. Sie fühlten sich nicht durch den Fall der Mauer und die Viele Menschen verbinden das Thema Rechtsex- deutsche Einheit befreit? Der Begriff der Freiheit ist interessant. Sie sprechen natürlich zu Recht von fundamentalen demokratischen Freiheiten, die in der DDR fehlten. Natürlich gab es nicht wenige Menschen, die wegen ihrer politischen Überzeugungen unter Druck gesetzt oder sogar ein- gesperrt wurden. Und dennoch behaupte ich, dass es auch Freiheit gab. Eine sehr subjektive Freiheit, die ein buntes Leben hinter grauen Fassaden ermöglichte. Und ich musste mir keine Gedanken machen, wie ich über die Runden komme. Ich habe 43 Mark Miete bezahlt, eine Fahrkarte kostete 20 Pfennig, eine Kino- karte 2 Mark – sich nicht um seine Existenz sorgen zu müssen, ist auch eine Form von Freiheit, finde ich. Haben Sie sich über die Wiedervereinigung gefreut? Ich wollte die Wiedervereinigung nicht. Jedenfalls nicht so. Ich gehörte zu denen, die die Idee hatten, man könne die DDR reformieren und zu einem demokratischen, offenen Staat umgestalten, dem die Leute nicht weglau- fen, sondern in dem sie gerne leben wollen. Und dann eine behutsame Annäherung auf Augenhöhe, bei der die beiden deutschen Staaten auch voneinander hätten lernen können. Diese Chance wurde in meinen Augen verspielt. tremismus mit dem Osten. Gibt es ein regionales Problem? Ich glaube, dass es sich viele sehr einfach machen, wenn sie mit dem Finger auf den Osten zeigen. Bei den letzten Landtagswahlen hatte die AfD in Baden-Württemberg 15 Prozent. 800.000 Leute haben diese Partei gewählt. Rechtsradikalismus ist also nicht nur im Osten ein Problem. Eine Erklärung lautet, dass viele Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, mit der Demokratie nicht so viel anfangen können. Das ist Blödsinn. Dass wir nicht in einer Demokratie gelebt haben, heißt ja nicht, dass wir sie nicht verste- hen oder praktizieren können. Im Gegenteil. Wir sind auf die Straße gegangen und haben von unseren demokratischen Rechten Gebrauch gemacht. Aber es gibt in jedem System Leute, die für Demokratie streiten, und andere, die ihre Ruhe haben wollen. Das hat mit der DDR nichts zu tun. Frau Brasch, fühlen Sie sich heute ostdeutsch, westdeutsch oder gesamtdeutsch? Weder noch. Ich bin Ost-Berlinerin. 09