Sehr geehrter Herr Generalsekretär, lieber
Anders Fogh Rasmussen,
sehr geehrter Herr Kollege, lieber Guido
Westerwelle,
verehrte Ministerinnen und Minister,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute in Berlin begrüßen zu können.
Ich möchte meinen besonderen Dank den gemeinsamen Gastgebern,
Generalsekretär Rasmussen und Außenminister Westerwelle,
aussprechen.
Ursprünglich standen die Umsetzung der Beschlüsse des
Gipfels von Lissabon, die Situation in Afghanistan und weitere
wichtige Fragen auf der Tagesordnung der diesjährigen
Frühjahrstagung. Sie waren der Anlass für das heutige Treffen hier
in Berlin. Dann rückten die Entwicklungen in der arabischen Welt
und ganz besonders die in Libyen in den Mittelpunkt. Deshalb will
auch ich direkt damit beginnen.
Am 17. März hat der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen die Resolution 1973 verabschiedet. In ihr wird zu einem
sofortigen Waffenstillstand und zu einem Ende der Gewalt in Libyen
aufgefordert. Mit dieser Resolution hat die Staatengemeinschaft
ihre Entschlossenheit deutlich gemacht, dem Krieg Gaddafis gegen
sein eigenes Volk ein Ende zu bereiten. Diese Entschlossenheit
wurde auf einer von Frankreich anberaumten Dringlichkeitssitzung
der internationalen Staatengemeinschaft am 19. März in Paris
unterstrichen. Auch das Kontaktgruppentreffen in Doha gestern hat
dies einmal mehr in besonderer Weise betont. Weil uns genau diese
Entschlossenheit eint, sage ich: Wir alle teilen die Ziele der
Resolution 1973. Wir teilen diese Ziele uneingeschränkt, unabhängig
von Enthaltung oder Zustimmung. Die Resolution gilt. Die
internationale Staatengemeinschaft steht zusammen.
Jeder von uns leistet vielfältige Beiträge, um diese
Resolution erfolgreich durchzusetzen, militärische wie
nicht-militärische. In diesem Zusammenhang steht auch
die Diskussion, Verantwortung bei der Unterstützung humanitärer
Hilfslieferungen im Rahmen einer EU-Operation zu übernehmen, sofern
eine Anfrage der UNO vorliegt und die konkreten Bedingungen geklärt
sind. Den Ergebnissen dieser Beratungen kann und will ich hier
nicht vorgreifen. Im Ergebnis – das ist wichtig – muss
und wird eine politische Lösung für Libyen stehen, eine politische
Lösung, die dem libyschen Volk die Freiheit und Würde gibt, die das
Gaddafi-Regime ihm vorenthält.
Deshalb wird es wichtig sein, die neuen politischen Kräfte
auch politisch zu unterstützen, zum Beispiel durch unsere
politischen Stiftungen oder indem wir unsere Erfahrungen in die
Wahlprozesse einbringen. Wir müssen wirtschaftliche Hilfe in der
ganzen Region leisten. Unternehmen sollten investieren,
Arbeitsplätze schaffen, bei der Ausbildung der Jugend helfen. Denn
es darf nicht passieren, dass Menschen ihre Heimat verlassen, weil
sie bei sich zu Hause keine wirtschaftliche Perspektive sehen,
obwohl sie dort für einen politischen Neuanfang und für einen
demokratischen Aufbruch gerade jetzt dringend gebraucht
werden.
Ich wünsche mir, dass all diese Fragen, die sich für die
Umsetzung der Resolution 1973 zur Zukunft Libyens stellen, im
Rahmen dieser Tagung diskutiert werden, aber dass natürlich auch
alle Fragen, die sich im arabischen Raum insgesamt stellen, in
einer breiten gemeinsamen politischen Diskussion einer Lösung
zugeführt werden.
Meine Damen und Herren, wir führen diese Diskussion vor dem
Hintergrund weitreichender Beschlüsse, die wir erst vor wenigen
Monaten beim Gipfel in Lissabon getroffen haben.
In Lissabon ist es erstens gelungen, das Bündnis mit der
Verabschiedung des strategischen Konzepts auf ein neues Fundament
zu stellen. Das neue Konzept trägt neben der fortbestehenden
Kernfunktion der Bündnisverteidigung den tief greifenden
Veränderungen im sicherheitspolitischen Umfeld der Allianz
Rechnung. Dabei geht es um Krisenmanagement und die konsequente
Umsetzung des vernetzten und umfassenden Sicherheitsansatzes.
Außerdem geht es um neue Herausforderungen wie Cyber- oder
Energiesicherheit.
Zweitens haben wir in Lissabon zusammen mit unseren
afghanischen Partnern die Richtung für unser künftiges
Afghanistan-Engagement festgelegt. Die erfolgreiche Umsetzung des
Prozesses einer Übergabe in Verantwortung ist von entscheidender
Bedeutung für den Erfolg der Mission und die Zukunft
Afghanistans.
Drittens haben wir in Lissabon als Reaktion auf neue
Bedrohungen ein NATO-Raketenabwehrsystem beschlossen, bei dessen
Aufbau wir so eng wie möglich mit unseren russischen Partnern
zusammenarbeiten wollen.
Wir stellen uns als Bündnis den sicherheitspolitischen
Herausforderungen unserer Zeit nicht alleine, sondern gemeinsam mit
einer Vielzahl von Partnern. Das gilt zum Beispiel auch für
Abrüstung und Rüstungskontrolle, für die der begonnene
Überprüfungsprozess des NATO-Abschreckungssystems eine besondere
Rolle spielt. Das gilt gerade auch für die neuen globalen
Herausforderungen: Cyber-Sicherheit, Proliferation von
Massenvernichtungswaffen, Piraterie oder Terrorismus.
Meine Damen und Herren, dieser Empfang findet heute hier in
Berlin statt, in der Stadt, in der vor mehr als 21 Jahren die
Mauer fiel. Diese Mauer teilte die Stadt in menschenverachtender
Weise. Sie teilte Familien. Sie teilte ein Land. Sie teilte als
Eiserner Vorhang einen ganzen Kontinent. Nur wenige Meter von hier
steht das Brandenburger Tor. Dieses Brandenburger Tor und die
Berliner Mauer – sie waren Symbole der Teilung Deutschlands
und Europas während des Kalten Krieges. Das Brandenburger Tor ist
heute Symbol von Einheit und Freiheit unseres Kontinents. Deshalb
kann dieser Empfang nicht zu Ende gehen, ohne daran zu erinnern,
dass es ganz wesentlich die Standfestigkeit der NATO war, die zum
Fall der Mauer und zum Sieg der Freiheit beigetragen
hat.
Mehr als 20 Jahre sind seit diesen epochalen Veränderungen
in Europa vergangen. Heute sind wir wieder Zeuge eines historischen
Umbruchs, diesmal in der arabischen Welt. Der Gang der Ereignisse
beider Entwicklungen ist historisch nicht einfach vergleichbar.
Aber eines galt damals in Europa, wie es heute gilt, von Syrien bis
Jemen, von Tunis bis Kairo: die Sehnsucht der Menschen nach
Freiheit, Menschenwürde, Selbstbestimmung – sie ist unser
Antrieb. Die Kraft der Freiheit ist stärker als alle Unterdrückung.
Ich habe es vor 21 Jahren am eigenen Leib erfahren
dürfen.
Seit dem Ende des Kalten Krieges vor mehr als zwei
Jahrzehnten hat unsere Welt einen weiten Weg zurückgelegt –
und dabei gerade auch unser Bündnis. Eines aber hat sich bei allen
politischen Entwicklungen nicht geändert: Die NATO ist und bleibt
auch im 21. Jahrhundert der stärkste Anker unserer Sicherheit
und der Rahmen unserer engen transatlantischen Wertegemeinschaft.
So tragen wir weltweit aus Überzeugung gemeinsam
Verantwortung – vom Balkan bis Afghanistan.
Für den weiteren Verlauf dieser Tagung wünsche ich Ihnen
deshalb gute und konstruktive Diskussionen, und zwar im Geiste des
lateinischen Satzes, der an der Wand des NATO-Saales in Brüssel
hinter dem runden Tisch zu lesen ist: "Animus in consulendo liber".
Frei übersetzt: Hier beraten freie Geister. In diesem Sinne: Viel
Erfolg und vielen Dank.